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der briefträger

Die Filme des französischen Regisseurs Jacques Tati werden hierzulande oftmals nur als Humoresken interpretiert. Die schlaksige, mitunter linkisch wirkende Figur des Monsieur Hulot, den der Regisseur stets selber spielte, ließ zu ihrer Entstehungszeit in den 1950er Jahren an Theo Lingen oder Heinz Erhardt denken, spätere Generationen könnten sich an „Mister Bean“ erinnert fühlen. Die Situations- und Slapstickkomik, die Tati seinem Protagonisten mit dem unvermeidlichen Hut, dem Trenchcoat und dem Regenschirm unterlegte, kann aber nur bedingt vom Grundthema ablenken, das den 1904 geborenen und 1982 gestorbenen Filmemacher umtrieb: Es waren die Auswirkungen der Massengesellschaft der Moderne, die Tati bewegten. Der als Jacques Tatischeff geborene Sohn eines russischen Emigranten und einer französischen Mutter konfrontierte die Anonymität und Isolation der Menschen in der von Technik, Verkehr und Industrie geprägten Gesellschaft der Nachkriegszeit mit der Lebenskultur französischer Kleinstädte und Dörfer. Die Realität der Großstadt, die Tati für den Film „Playtime“ 1967 sogar als 1:1-Simulation eines Büroquartiers, der sogenannten „Tativille“, in der Nähe von Paris nachbauen ließ, wurde für den meist sprachlos auftretenden Monsieur Hulot zu einer ständigen mechanisch-technischen Herausforderung, die Tati insbesondere in „Mon Oncle“ 1958 einer im Untergang begriffenen Kleinstadtidylle gegenüberstellte, die in seiner Darstellung soziale Integration, Kommunikation und Gemeinschaft ermöglichte.

In Tatis ersten beiden Filmen, die er nach einer kurzen Bühnenlaufbahn als Pantomime drehte, gab es noch keinen Monsieur Hulot. Doch schon hier arbeitet sich der Regisseur am Widerspruch von Tradition und Verbindlichkeit zu Moderne und Entfremdung ab. Der Protagonist des Spielfilms „Jour de fête“ von 1949, der auf Tatis Kurzfilms „L’ecole des facteurs“ von 1947 beruht, und in Deutschland unter dem irreführenden Titel „Tatis Schützenfest“ in die Kinos kam, ist der Briefträger Francois. Der Landpostbote versucht, mit seinem Fahrrad die taylorisierten Formen amerikanischer Postzustelldienste zu kopieren, die er in einem Film gesehen hat und scheitert dabei kläglich. Die rationalisierte Express-Zustellung, die Francois ohne Glück und Verstand erprobt, gerät in einen unauflösbaren Widerspruch zur Funktionsweise der intakten „typisch französischen“ Dorfgemeinschaft, die den ambitionierten Postler zuletzt aber wieder aufnimmt. Tatis Figuren beziehen ihre tiefere Komik vor allem durch die Übersteigerung der Absurdität industriell-technischer Gegenstände und den damit verbundenen Tätigkeiten. Ähnlichkeiten mit Chaplins „Modern Times“ oder Buster Keatons Kurzfilmen sind sicherlich nicht zufällig.

Foto: Andreas Denk

Aber anders als die moderne-kritischen Filme seiner Vorgänger haben Tatis melancholische Gegenüberstellungen von rationalistischer Moderne und bergendem Dorfidyll der „guten alten Zeit“ Konsequenzen bis in die Gegenwart. Die französische Post bietet nämlich seit 2017 den Service „Veiller sur mes parents“ („Achte auf meine Eltern“) an, der die kommunikative Funktion der Zustellfachleute anders als bisher nutzen soll. Ab 20 Euro pro Monat können ältere Leute Kommunikations- und Serviceleistungen von Briefträgern buchen. Die Briefträger kommen dann zwischen ein- und sechsmal pro Woche – nicht nur, um Post zu bringen, sondern um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, um ein Pläuschchen zu halten, eine Tasse Kaffee zu trinken oder um Medikamente zu überbringen. Erklärtes Ziel von „La Poste“ ist es dabei, die sozialen Beziehungen alter, einsamer oder eingeschränkter Leute aufrecht zu halten. Nebenbei bietet sie auch einen telefonischen Hilferuf und einen Reparaturservice an. Die gute Idee hat natürlich einen Hintergrund: Das normale Postaufkommen ist inzwischen so gering, das es die Arbeitszeit der Postboten nicht mehr ausfüllen würde. So entwickelte das Staatsunternehmen eine weitere „Produktidee“ für ihre Mitarbeiter – statt sie zu entlassen oder ihre Arbeitszeit zu reduzieren.

Auch Postgesellschaften anderer Länder haben auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern die Altensorge entdeckt. Ähnliche Modelle – fast – nachbarschaftlicher Hilfeleistung finden sich auch in Finnland, Belgien und den USA, und jetzt auch in Bremen. Nach einem ersten Pilotprojekt in Mülheim und Gelsenkirchen 2014, das mangels Nachfrage – und wohl zu hoher Preise – nach kurzer Zeit eingestellt wurde, wird das Angebot „Post persönlich 2.0“ seit dem Mai 2018 in einem Viertel der Hansestadt erprobt. Dieses Mal ist die Initiative von der Kommune ausgegangen: Die Stadt hat im Rahmen ihres Verbundprojekts „Herbsthelfer“ die Johanniter-Unfallhilfe als größtem bundesdeutschen Pflegeanbieter, Wohlfahrtsverbände, die AOK, Sparkasse und Post gebeten, Konzepte zur Unterstützung gebrechlicher Menschen zu entwickeln. Die Briefträger sollen nun persönlich Post oder Bargeld übergeben und dabei ihre Klienten nach dem Befinden befragen oder über weitere Dienstleistungen der Bremer Wohlfahrtsverbände auf dem Laufenden halten. Im Ernstfall informieren sie den Unfalldienst. Partikularinteressierte Kritiker fürchten entweder eine Überlastung der Postbeamten durch die neue Aufgabe oder die unzureichende Ausbildung der Briefträger für den Sozialeinsatz bei pflegebedürftigen Menschen. Obwohl auch „Post persönlich 2.0“ mit neun beziehungsweise 15 Euro im Monat für drei oder sechs Besuche pro Woche nicht kostenlos ist, könnte das Dienstleistungsangebot eine Lücke füllen, die derzeit von den professionellen Hilfsorganisationen oder ehrenamtlich Tätigen (noch) nicht gefüllt werden kann. Dass sich damit Jacques Tatis Vorstellung einer funktionierenden Sozialgemeinschaft noch lange nicht erfüllt, beruht – hierzulande fast noch mehr als in Frankreich – sowohl auf einem Geld- wie auch einem Mentalitätsproblem. Dennoch könnten die „sozialen“ Briefträger Teil einer größeren Lösung sein: Durch ihr Zusammenwirken mit anderen Sozialorganisationen kämen wir der Idee einer „verantwortungsvollen“ Stadt aus funktionierenden Quartieren wahrscheinlich ein Stück näher.
Andreas Denk

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