editorial

eindruck und ausdruck

Und bei all dem, was wir gegenwärtig erleben, müssen wir immer noch an die Architektur denken. Sie ist ein notwendiges Lebensmittel – nicht das einzige, was unsere Gesellschaft zum Überleben braucht, aber ein wichtiges. Die Notwendigkeit allein rechtfertigt die Bezeichnung „Architektur“ nicht. Architektur ist mehr als Funktion, mehr als die Befriedigung des Bedarfs. Sie ist mehr als ein funktionaler Grundriss mit einer Hülle, die Löcher für Licht und Luft und zum Herausschauen hat. Bauen deckt den Bedarf.

Architektur erfüllt Bedürfnisse. Sie erfüllt die Bedürfnisse des Einzelnen, indem sie den Anspruch auf ein Zuhause durch Räume angemessenen Zuschnitts und angemessener Ausstattung nachvollziehbar, erlebbar miteinander verbindet. Dazu gehört auch, dass in den Räumen durch Format, durch Material, Licht, Duft  und Berührung Stimmungen entstehen, die den Räumen wahrnehmbar Bedeutung geben. Das Empfinden von Stimmungen und das Empfinden von Bedeutung führen zum Empfinden des Schönen, dessen Erscheinung auch ein Bedürfnis des Menschen ist. Architektur erfüllt die Bedürfnisse der Gemeinschaft, indem sie Teil nimmt am öffentlichen Raum und Teil wird der Landschaft, indem sie sich als markanter Teil des jeweiligen größeren Zusammenhangs erweist – und je nach Bedeutung daraus hervorsticht oder sich einordnet in das große Ganze der Stadt oder der Natur. Architektur hebt die Eigenarten des Ortes, das Typische oder die Einzigartigkeit von Situationen ins Bewusstsein. Sie verdeutlicht die Rolle, die sie im großen Ganzen spielt, durch ihre ureigenen Mittel.

Die Architektur der Moderne hatte ein anderes Ziel als die Architektur unserer Zeit. Der neue Mensch sollte Ausdruck in einer objektivierten Architektur finden, deren Figur genau rational sein sollte wie das Bild des Menschen. Genau wie der Mensch sollte die Architektur Teil einer Masse werden, deren Macht und Mächtigkeit ein neues gesellschaftliches Ideal war. Die Architektur der Moderne argumentierte nicht nur mit der Funktionalität der Grundrisse, mit der Effizienz der Konstruktion, sondern auch mit der Serialität ihrer Fassaden, die gleichzeitig Ausdruck von Funktion, Effizienz und eines gesellschaftlichen Ideals sein sollten.

Die Ablösung der Moderne im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erbrachte keine  Lösungen, weil ihre Alternative entweder sprachlich oder formal war, aber nicht architektonisch. Das amüsante historische Zitat der Postmoderne, der formale Widerspruch des Dekonstruktivismus sind hilflose Versuche gewesen, die dahinschwindende Ausdruckskraft der Moderne durch Linguistik oder durch Emphase zu ersetzen.

Die neue Gesellschaft unserer Zeit erfordert ein anderes Ideal der Architektur. Die Gesellschaft unserer Tage wird mehr durch „soft skills“ bestimmt anstatt durch den Unterschied zwischen „blue collar workers“ oder „white collar workers“.  An die Stelle eindeutig identifizierbarer schichtenspezifischer Verhaltensweisen sind diffuse, einander überlappende Kulturtechniken getreten, deren Einfluss allein die notwendige Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit initialisieren kann. Für diese veränderte und sich weiter verändernde gesellschaftliche Realität brauchen wir einen anderen Ausdruck der Architektur, der trotz „moderner“ Materialien und Konstruktionen, trotz hoher Technifizierung der Haustechnik, das grundsätzliche Ziel hat, die Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft, die Relation zwischen beiden als Ausdruck gegenseitiger Verantwortung zu zeigen.

Die Schnittstelle der Architektur ist die Fassade. Sie verbindet die privaten und halbprivaten Räume des Inneren mit den öffentlichen Räumen der Stadt. Das Maß ihrer Öffnung entscheidet auf einer oberflächlichen Ebene über die Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft. Die Öffnungen des Gebäudes entscheiden auf einer tieferen, räumlichen Ebene über seinen plastischen Charakter. Dabei kommt der Struktur der Fassade eine neue (alte) Bedeutung zu, die die Moderne und ihre Wechselbalge vergessen haben: Das Relief der Fassade drückt den Eindruck des Inne-Wohnenden wie ein Stempel in den öffentlichen Raum ein: Der Eindruck, den ein Gebäude dem öffentlichen Raum einprägt (den es im öffentlichen Raum macht), wird für den Betrachter im öffentlichen Raum zum Ausdruck der gewünschten, erforderlichen oder unvermeidlichen Bedeutung des Gebäudes. Andersherum prägt sich der öffentliche Raum (oder die Natur) über das System von Wand, Rahmen und Fenster und weiteres Zubehör dem Innenraum und seinem Benutzer ein und wird so seinerseits zum Ausdruck des Allgemeinen im Besonderen.

Die Nuancen der Reliefs von Fenstern und Türen entscheiden über die gegenseitige Zugewandtheit von Innen- und Außenräumen. Genau wie die hochdifferenzierten  Disktinktionsmerkmale unserer Gesellschaft drücken sie mit einem sorgfältig austarierten Verhältnis des Gebäudes zu seinem jeweiligen Kontext nicht mehr und nicht weniger als das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft aus. Sie versetzen verschieden kodierte Räume in ein hochdifferenziertes Verhältnis der gegenseitigen Sichtbarkeit und einer konsekutiven Verantwortung. Deshalb wird das Relief der „Gewände“ zu einer neuen Sprache der Architektur und damit zu einer neuen Verständigungsform der Gesellschaft unserer Zeit. Dies müssen wir erst lesen und dann gestalten lernen.

Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

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