Uwe Schröder im Gespräch mit Maximilian Liesner und Elina Potratz

Eine lebbare Form des Romantischen

Die Romantik und das Romantische waren immer auch eine Gegenbewegung zu Entwicklungen, die als „entzaubernd“ wahrgenommen wurden: die Säkularisierung, die Industrialisierung, der Kapitalismus. All diese Entwicklungen sind inzwischen noch viel weiter fortgeschritten – sind es heutzutage noch die gleichen Motive oder Gegenbilder, die eine romantische Weltsicht ausmachen?

Heute sind es andere, aber vergleichbare Themen wie der Klimawandel oder die Globalisierung, die aber nicht als Gegenbilder missverstanden werden sollten. Wenn die Dinge globaler werden, werden sie einander ähnlicher, sodass wir mit einem Verlust von einprägsamen Orten rechnen müssen. Deswegen glaube ich, dass beim Zustandekommen der Architektur dem Lokalen gegenüber dem Globalen eine besondere Bedeutung zukommen sollte. Dass es dabei auch um Traditionen und Brauchtum geht, ist nichts Schlimmes, im Gegenteil: Wir sollten diese besonderen Eigenschaften der Orte viel stärker berücksichtigen.

Uwe Schröder, ROM.HOF, Bonn 2009–2014, Foto: Stefan Müller

Haftet dem Romantischen also etwas der Vergangenheit Zugewandtes an?
Nein, Architektur sollte den Anspruch haben, etwas über die Gegenwart auszusagen. Um zu einem vertieften Verständnis dafür zu kommen, braucht es aber ein Verhältnis zur Geschichte. Nun leben wir ja nicht in der Vergangenheit, also werden wir die Dinge auch nicht so machen, wie sie früher gemacht wurden, sondern wir suchen nach einer Entsprechung in unserer Zeit. Erinnerung ist dabei einfach eine Form der Rezeption, eine Aktualisierung dessen, was man erlebt hat, weiß oder gesehen hat. In unserem kulturellen Gedächtnis sind, denke ich, Architekturen und städtische Situationen verankert, mit denen wir in besonderer Weise vertraut sind und die wir in Verbindung bringen mit unserer eigenen Geschichte.

Abseits des Regionalen und des Historischen gibt es ja auch abgründige Dimensionen des Romantischen: den Wahn, das Zynische, das Unverständliche und auch Labyrinthische. Lassen sich diese Assoziationen auch in einen Zusammenhang mit Architektur bringen?

Uwe Schröder, ROM.HOF, Bonn 2009–2014, Foto: Stefan Müller

Auf jeden Fall! Weil das Romantische alle Seiten der Wirklichkeit in den Blick nimmt, gehören diese Seiten unbedingt dazu. Das Entwerfen selbst ist ja ein abgründiger Prozess, den man im Nachhinein gar nicht rational aufschlüsseln kann. Architektinnen und Architekten gehen dabei ja sehr assoziativ vor, indem sie unterschiedlichste Einflüsse und Referenzen einfließen lassen, bewusst oder unbewusst. Das kann zum Beispiel ein Gedicht sein – oder die Erinnerung an eine bestimmte Atmosphäre, der man dann nachgeht und die man versucht zu erzeugen. Es kann auch sehr fragmentarisch bleiben, ohne klaren inhaltlichen Zusammenhang, nur angerissen. Wenn wir zum Beispiel eine Spolie sehen, dann ist damit zunächst keine klare Aussage getroffen, sondern wir können vielfältige Assoziationen ableiten. Sie könnte die Vergänglichkeit andeuten, zur Erinnerung auffordern oder auch auf eine kulturelle Verbundenheit, einen anderen Ort hinweisen.

Neben der Globalisierung haben Sie eingangs auch den Klimawandel angesprochen, den viele Menschen als drängendste Herausforderung unserer Zeit erleben. Lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen dem „Romantischen“ und diesem grundlegenden Wandel der Welt?

Absolut, aber nicht nur in der Weise, wie es vielfach diskutiert wird, wenn nach technischen Lösungen gerufen wird. Die Beziehung zur Natur ist seit jeher ein großes romantisches Thema, das sich laufend aktualisiert. In den vergangenen anderthalb Jahren hat das Naturerlebnis aufgrund der Lebensumstände in der Pandemie eine ganz neue Bedeutung bekommen. Wir haben gelernt, dass unser Rückzugsort nicht allein unsere Wohnung ist, sondern auch das Freie und die Landschaft. Unser Nachdenken über Stadt wird durch unsere Naturvorstellung hoffentlich verändert.

Nur hat die Reduktion von Emissionen erst einmal nicht so viel mit einem Natur-erlebnis zu tun, wenn wir beispielsweise von bestimmten CO2-intensiven auf andere Materialien umsteigen.

Doch, für mich hat das sehr viel miteinander zu tun. Wir wissen, dass die Herstellung von Beton ökologisch nicht unproblematisch ist, also müssen wir darüber nachdenken, wie wir ihn verbessern oder gar ersetzen können. Diese Überlegungen führen uns auch zu organischen oder mineralischen Materialien wie Holz und Steinen mit ihrer ganz eigenen Sinnlichkeit. Dass wir auch baukonstruktiv und technisch umdenken müssen, ist eine Selbstverständlichkeit, interessiert mich aber nicht in erster Linie, wenn ich an das Romantische denke.

Wie verhält es sich mit der Sinnlichkeit von Stahl und Glas? Die architektonische Moderne wird oft mit einem kühlen Rationalismus in Verbindung gebracht, der wiederum als ein klares Gegenbild zum Romantischen gesehen werden kann. Schließen sich das „Romantische“ und die architektonische Moderne somit aus?

Uwe Schröder, Hochzeitsturm, Plüderhausen 2017–2019 Foto: Stefan Müller

Nein, sie schließen sich überhaupt nicht aus. Andreas Denk und ich hatten eine längere Liste von architektonischen Positionen für dieses Heft und haben zum Beispiel lange über Mies van der Rohe diskutiert. Dessen Werk bezieht sich ja auf größere Sinnzusammenhänge, steht für eine radikale Konzentration auf die Gegenwart und weist unzweifelhaft eine poetische Kraft auf. Nur ist Mies‘ Denken eng verbunden mit dem Konzept der Autonomie, das davon ausgeht, dass sich die Architektur ihre Ziele allein aus sich selbst heraus setzen könnte – und das ist etwas, was mich überhaupt nicht interessiert. Meiner Ansicht nach kann sich Architektur nur dadurch entfalten, dass sie sich den äußeren Einflüssen öffnet. Dass unsere Auswahl letztens Endes nicht auf Mies gefallen ist, heißt aber nicht, dass wir die architektonische Moderne aussortieren. Sie gehört in gleicher Weise zur Architekturgeschichte wie auch die vorausgegangenen Epochen.

Sie haben zu Anfang die gleichförmige, globalisierte Architektur der heutigen Zeit angesprochen – auch der International Style der Moderne hat sich dadurch ausgezeichnet, dass er an vielen Orten der Welt in ähnlicher Form auftrat. Könnten die verwechselbaren Gebäude unserer heutigen Zeit nicht in Zukunft – als Ausdruck einer spezifischen Epoche – ebenfalls ihren Platz in der Architekturgeschichte einnehmen?

Uwe Schröder, Hochzeitsturm, Plüderhausen 2017–2019 Foto: Stefan Müller

Nun, sie haben ja bereits ihren Platz, wenn Sie den International Style ansprechen. Um noch kurz bei Mies van der Rohe zu bleiben: Es gibt ja wunderbare Gebäude von ihm, aber das IBM Building in Chicago, das nach seinem Tod fertiggestellt wurde, ist in meinen Augen zum Prototyp einer generischen Architektur geworden. Wir finden ganz ähnliche Gebäude an vielen anderen Orten der Welt – zwar nicht so gut wie bei Mies, aber sie sind zum Problem geworden. Rem Koolhaas hat ja in seinen Überlegungen zur generic city die Frage aufgeworfen, ob die Unterscheidbarkeit der Orte überhaupt wichtig sei oder ob es nicht vielmehr darum ginge, für möglichst alle gleiche Lebensverhältnisse herzustellen. Darin würden sich globale Solidarität und Humanität widerspiegeln. Ich finde diese These intelligent, halte sie aber gleichwohl für falsch. Wenn Orte verschwinden, dann dürfen wir das nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen, die wir der zeitgenössischen Architektur zu verdanken hätten – und ich glaube auch nicht, dass uns dieses Problem irgendwann egal sein wird.

Wie verhält sich andererseits die Trennschärfe des Romantischen zur Postmoderne mit deren formalen Bezügen zur Vergangenheit?

Uwe Schröder, Hochzeitsturm, Plüderhausen 2017–2019 Foto: Stefan Müller

Es gibt großartige architektonische Beispiele der Postmoderne. Problematisch finde ich es allerdings, wenn an die Stelle der Ernsthaftigkeit eine zu große Portion Ironie tritt, sodass das Ganze eher humorvoll als nachdenklich ist – und sich dann auch noch auf der sinnlichen Ebene nicht so anfühlt, wie es aussieht, wenn also Material und Konstruktion vorgegaukelt werden, die es gar nicht gibt, weil sie nur kulissenhaft vorgeblendet sind. Dann fehlt mir unter anderem die Reflexion der Zeit, über die wir vorhin gesprochen haben.

Und bei Rekonstruktionen?

Dazu habe ich keine abgeschlossene Meinung und glaube, dass man in jedem einzelnen Fall darüber nachdenken und trefflich streiten kann. Um zu einer Einschätzung zu gelangen, hilft mir oft, mich zeitlich davon zu distanzieren. In der Geschichte sind wir ja oft mit Bauten konfrontiert, die nach Zerstörung rekonstruiert wurden, – bestaunen sie noch immer. Der Zeitraum, in dem dieses Gebäude zerstört war, ist dann im Vergleich zur Dauer seiner vielleicht insgesamt schon mehrere hundert Jahre andauernden Existenz eher gering. Ich frage mich dann, warum es uns heute weniger zu stören scheint, dass das Gebäude zum Beispiel vor 200 Jahren rekonstruiert wurde, als wenn es in unserer unmittelbaren Gegenwart passiert.

Mit Bezug auf Novalis fordern Sie in Ihrer Einführung auch die „Poetisierung des Prosaischen“. Um es auf die Spitze zu treiben, könnte man dieses Diktum in zwei Beispielen von Müllverbrennungsanlagen angewendet sehen: Zum einen hat Friedensreich Hundertwasser in Wien Ende der 1980er Jahre die Fassade einer solchen Anlage zum Schloss dekoriert – zum anderen haben BIG in Kopenhagen ein dortiges Projekt kürzlich so umgesetzt, dass das Dach als Skipiste und Wanderweg dient. Ersteres mag zur Verkitschung tendieren, zweiteres zur Eventisierung – liegt darin trotzdem auch etwas Poetisches, das über die reine Nützlichkeit hinausgeht?

Uwe Schröder, Haus im Burggarten, Bonn 2008–2020 Foto: Stefan Müller

In meinen Augen sind die beiden Beispiele überhaupt nicht poetisch. Ich frage mich auch, wie sinnstiftend sie sind. Es sind vielleicht interessante Einfälle und individualistische Gestaltungsvorlieben, aber das finde ich eher uninteressant. Poetisierung ist für mich etwas ganz anderes. Ich meine damit zum Beispiel den Anspruch an das Wohnen, diesen alltäglichen Handlungen einen besonderen Ausdruck zu geben und sie räumlich zu überhöhen. Auch die simple Aufgabe eines einfachen Wohnhauses erfordert eben nicht nur den Zuschnitt der Räume, die programmatisch gefordert sind, sondern auch eine gewisse Idealität. Es gilt also, im Entwurf unter anderem eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie diese kleine Gruppe, die in dieser Wohnung oder diesem Gebäude Zeit miteinander verbringt, sich begegnen kann. Die Architektur kann dafür einen räumlichen Vorschlag machen und dieser Idee auch einen symbolischen Ausdruck verleihen wie zum Beispiel das Motiv eines Hofes. Auf solche Weise müssen auch die banalsten, einfachsten Dinge eine tiefere Bedeutung erhalten – und es ist Aufgabe der Architektur, diese zu erschließen und einzuschreiben.

Man könnte behaupten, es handele sich beim „Romantischen“ bloß um ein Label, das man auch mit anderen Begriffen und Worten umschreiben oder erfassen könnte. Warum halten Sie besonders diesen Begriff für sinnvoll?

Uwe Schröder, Haus im Burggarten, Bonn 2008–2020 Foto: Stefan Müller

Weil er die Kehrseite des Rationalen so genau trifft. Das Romantische ist diese andere Seite in uns. Und ich glaube, dass sie dabei hilft, in einer anderen Weise über Architektur nachzudenken. In der Einführung habe ich von „neuer Inhaltlichkeit“ gesprochen. Die Frage nach dem Romantischen ist also eigentlich eine Frage nach dem Inhalt. Hat Architektur eine Bedeutung, die über das existentielle Gehäuse hinausgeht? Ich würde das unbedingt mit Ja beantworten. Deswegen ist das Romantische ein äußerst wichtiger Sinnzusammenhang beim Zustandekommen eines Entwurfs, beim Zustandekommen der Architektur.

Rüdiger Safranski, den Sie in Ihrer Einführung zitieren, attestiert den beiden romantischen Schriftstellern Joseph von Eichendorff und E.T.A. Hoffmann jeweils eine Doppelexistenz aus „romantischer“ Persönlichkeit und weltlicher Tätigkeit – beide waren neben ihrem literarischen Schaffen Juristen. Sie waren als Personen also nicht festgelegt auf das eine oder andere, was Safranski als „eine kluge, eine lebbare Form der Romantik“ beschreibt. Hat die romantische Haltung auch bei Architektinnen und Architekten also nur Bestand, wenn sie mit der rationalen Seite im Gleichgewicht ist?

Ja, so muss es sein – alles andere ist, glaube ich, gefährlich. Diejenigen, die Architektur betrachten und gebrauchen, können sich ruhig verlocken und von den Konnotationen davontragen lassen und anschließend trotzdem wieder zurückkehren in ihren Normalzustand. Übrigens war die Romantik selbst auch immer janusköpfig. Sie ist im Lokalen mit seinen Märchen und Mythen zu Hause gewesen, hat sich aber zum anderen gleichermaßen für die Ferne, Übersee, andere Kontinente interessiert. Schon Novalis sagte ja: „Die Welt muss romantisiert werden.“ Hier haben wir es also auch mit einem Globalisierungsanspruch zu tun.

Prof. Dipl. Ing. Uwe Schröder (*1964), Architekt BDA, studierte Architektur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 – 2010), an der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ (2016), am Politecnico di Bari (2016), an der Università degli Studi di Catania (2018), am Politecnico di Milano (2019) und an der Università di Parma (2020 – 2021). Er ist Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift.

Elina Potratz, M.A., und Maximilian Liesner, M.A., bilden die kommissarische Chefredaktion dieser Zeitschrift. Elina Potratz studierte Kunst- und Bildgeschichte in Leipzig und Berlin mit besonderem Schwerpunkt auf Architektur des 20. Jahrhunderts und Denkmalpflege. Von 2016 bis 2018 absolvierte sie ein Volontariat in der Redaktion von der architekt, für die sie seit 2018 als Redakteurin tätig ist. Maximilian Liesner studierte Urbanistik, Kunstgeschichte und Germanistik in Essen, Tübingen und Istanbul. Anschließend arbeitete er am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main als wissenschaftlicher Volontär und freier Kurator. Seit 2019 ist er Chef vom Dienst dieser Zeitschrift.

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