Buch der Woche: Castelvecchio revisited

Forensik eines Meilensteins

Anfang der 1990er-Jahre hatte Richard Murphy sein erstes Buch über Carlo Scarpas legendären Museumsumbau vorgelegt: „Carlo Scarpa and Castelvecchio“. Schon seit 1986 hatte Murphy das Gebäude detailliert untersucht, mit seiner ersten Anfrage gar ein Missverständnis ausgelöst, da die damaligen Verantwortlichen dachten, der junge Brite wolle auf dem Museumsareal campieren. Murphy, der sein Architekturbüro in Edinburgh betreibt, hat den Ort im Laufe der Jahre viele Mal besucht und bereits 2017 eine hierzulande wenig beachtete runderneuerte Revision seiner Untersuchungen vorgelegt: „Carlo Scarpa and Castelvecchio revisited“. Die damals knapp 200 Seiten sind auf fast das Doppelte angewachsen, Textbeiträge kommen von Margherita Bolla, Kenneth Frampton, Alba Di Lieto, Ketty Bertolaso, Licisco Magagnato, der das Museum von 1956 bis 1987 leitete und Arrigo Rudi, einst Assistent von Scarpa und später selbst Architekt, Restaurator und Professor in Venedig.

Carlo Scarpa, Restaurierung des Castelvecchio und Umbau zum Museum, Verona 1957-75, Foto: Peter Guthrie

Zwischen 1958 und 1964 richtete Carlo Scarpa in der alten Kastellburg der Scaliger im norditalienischen Verona ein beeindruckendes Museum ein, das seitdem immer wieder Gegenstand architektonischer Exkursionen und Vorzeigebeispiel für das Arbeiten in und mit historischer Bausubstanz ist. Die letzten zwei Jahre der Bauphase arbeitete Scarpa auf der Baustelle, hatte sich im Ostflügel des Gebäudes ein Büro eingerichtet. Eine der ersten Eingriffe bestand damals darin, ein neues Fenster zum Hof in die Wand zu treiben, durch das der Architekt das Kommen und Gehen auf der Anlage im Blick hatte.

Das Buch ist Ergebnis zahlreicher Studien, teilweise zusammen mit Studierenden. Akribisch arbeitet sich Murphy durch das gesamte Museum, lässt kein Detail aus, zeigt Skizzen, Zeichnungen und Modelle zu nahezu jeder Ecke dieses beeindruckenden Gebäudes. Dazu kommen Fotografien, die eher einer wissenschaftlichen Dokumentation zu entsprechen scheinen als einer hochglänzenden Architekturmonographie, was sich auch in ihrer recht trocken nummerierten Benennung und Beschriftung widerspiegelt. Wären bessere Belichtung und Kontraststärke einiger Bilder zwar ein merklicher Zugewinn, tut es dem Gesamteindruck kaum einen Abbruch: dafür ist diese Dokumentation zu umfänglich, zu kenntnisreich eingeordnet und erläutert.

Breakfast Mission Publishing

Kenneth Frampton weist in seinem Beitrag darauf hin, wie wichtig für das Gelingen von Scarpas Arbeitsweise eine „großzügige und geduldige“ Bauherrschaft war. Scarpa arbeitete nicht mit einem Büro im herkömmlichen Sinne, entwickelte vieles auf der Baustelle im Gespräch und mittels Skizzen. Durch die Fülle von Modellfotos und Zeichnungen, die neben historischen Fotos der Bausubstanz vor Baubeginn und Aufnahmen ihrer architektonischen Bearbeitung stehen, wird die Arbeitsweise und damit die Entwicklung dieses Meilensteins des Bauens mit Bestand nachvollziehbar. Zu verdanken ist das auch den neuen Beiträgen von Alba Di Lieto, die bis ins Kleinste beispielsweise die verwendeten Materialien aufführt und Ketty Bertolaso, die auf die akribische Katalogisierung der Zeichnungen durch Murphy und seine Studierenden bereits ab 1986 aufmerksam macht. So ergibt sich ein bis in die Details aufgeschlüsseltes Gesamtbild von nahezu forensischer Genauigkeit, das nur einen Schluss zulässt: der erneute Besuch Castelvecchios hat einmal mehr gelohnt und lohnt immer wieder aufs Neue.
David Kasparek

Richard Murphy: Carlo Scarpa and Castelvecchio revisited, ‎384 S., zahlr. Abb., engl., Breakfast Mission Publishing, ca. 85,– Euro, Breakfast Mission Publishing, Edinburgh 2017, ISBN‎ 9781527208902

 

 

 

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