Andreas Hild

In Hülle und Fülle

Zur Zukunft des Denkmalschutzes

Die Denkmalpflege an sich scheint auf einer Kultur des Mangels zu fußen: die Ermangelung an Gebäuden aus vergangenen Zeiten, die die Geschichte erfahrbar machen und den Menschen einen emotionalen Anschluss an die jeweilige Historie des Ortes ermöglichen. In Folge von Krieg und anschließender Kahlschlagsanierung der Wiederaufbaujahre gibt es nur wenige solcher Bauten und die Legitimation der Verwaltung dieser Reste fällt nicht besonders schwer, so der Münchner Architekt Andreas Hild. Die ursprünglichen Ziele der Denkmalpflege sind: Geschichte erfahrbar zu machen, Tradition erlebbar zu halten und Substanz zu bewahren. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen müsse es nun gelingen, dieses Vokabular zu erweitern und innerhalb der Fülle potentieller Denkmäler Kriterien für eine Auswahl der zu bewahrenden Gebäude zu finden.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts – als die Zerstörungswut des Revolutionszeitalters auf die bewahrende Haltung der Restauration traf – entstanden in Deutschland die ersten Denkmalschutzgesetze. Der institutionalisierte Erhalt von Baudenkmalen, so wie wir ihn heute kennen, ist dennoch nicht so alt, wie man meinen könnte. Das bayerische Denkmalschutzgesetz etwa stammt gerade mal aus dem Jahre 1973.

Die Triebfeder aller entsprechenden Bestrebungen ist sicher die Angst vor dem Verlust bedeutender Zeugnisse, vor dem Verlust von Gebäuden, die in der Lage sind, Geschichte erfahrbar zu machen. Diese Bedrohung wird aber erst deutlich beziehungsweise gesellschaftlich diskutierbar, wenn der Bestand an schützenswerter Substanz bereits rar oder akut bedroht ist. So gesehen entspringt der Gedanke des baulichen Denkmalschutzes einem Mangel: einem Mangel an Gebäuden, die eine vergangene Zeit bezeugen können, aber eben auch einem Mangel an Gebäuden, die einen emotionalen Anschluss ermöglichen.

Vom Standpunkt des institutionellen Denkmalschutzes aus betrachtet, ist dieser Notstand Fluch und Segen zugleich. Ein Fluch, weil die Abwesenheit der zu schützenden Zeugnisse einen schmerzhaften Verlust beinhaltet. Ein Segen, weil der Mangel das bereits bestehende Defizit offenkundig macht und damit die Notwendigkeit eines besonderen Schutzes für die wertvollen Überlieferungsreste verdeutlicht. Die Verwaltung dieser raren Zeugnisse legitimiert sich so fast von selbst. Der Mangelzustand entbindet die Denkmalpflege von der Notwendigkeit einer Auswahl und garantiert so zumindest kulturelle oder gesellschaftliche Akzeptanz.

Kaiserdom zu Aachen, ca. 800 – 1414 Foto: א (Aleph)

Kaiserdom zu Aachen, ca. 800 – 1414; Foto: א (Aleph)

In der Geschichte der Denkmalpflege ist es immer wieder gelungen, diesen Notstand fruchtbar zu machen; einmal um vielfältige Gesetzeswerke zu installieren, aber auch um Vereinbarungen zu treffen, die unter dem Eindruck der allgegenwärtigen Bedrohung eine überraschende Gültigkeit behaupten konnten. Wo sonst im Bereich der Architektur und Kultur gäbe es eine Übereinkunft wie die Charta von Venedig, die in ihrer Substanz seit ihrer Verabschiedung 1964 von keiner Interessengruppe ernsthaft in Frage gestellt wurde? Zugegeben: Das hat auch damit zu tun, dass deren Aussagen hinsichtlich der Architektur vergleichsweise vage bleiben, und oft sind diese nur schwierig anwendbar. Dennoch ist der Einfluss der Richtlinien seit knapp fünfzig Jahren ungebrochen. Doch auch jenseits der formellen Übereinkünfte ist der Mangel an erhaltenen Denkmälern für deren Pflege fruchtbar: Die Zahl der auf ihre Denkmalwürdigkeit zu untersuchenden Gebäude ist begrenzt, daher ist es vergleichsweise einfach, gesellschaftliche Akzeptanz für deren Erhalt zu finden.

Die Denkmalpflege konnte sich in dieser Mangelwirtschaft gut entwickeln. Ihre Akzeptanz ist in weiten Teilen der Bevölkerung hoch und obwohl mitunter Unverständnis hinsichtlich der konkreten Definition von Denkmälern herrscht, bezweifelt kaum jemand die grundsätzliche Notwendigkeit der Institution an sich, zumindest nicht, wenn es sich um sogenannte historische Bauwerke handelt.

Aktuell jedoch gerät die Denkmalpflege zunehmend in die Defensive. Dies hat damit zu tun, dass die beschriebene Mangelwirtschaft ihr vorläufiges Ende zu erreichen scheint. Bisher erschien es nicht notwendig, das Vereinbarungsgefüge, das dem Denkmalschutz und in seiner Folge der Denkmalpflege zugrunde liegt, weiterzuentwickeln. Nun, an der Schwelle zur Überflusswirtschaft, könnte sich das als folgenschwerer Fehler erweisen.

Weber & Brand, Universitätsklinikum, Aachen 1971 –  1984 (Unter Denkmalschutz seit 2008); Foto: Sascha Faber

Weber & Brand, Universitätsklinikum, Aachen 1971 –  1984 (Unter Denkmalschutz seit 2008); Foto: Sascha Faber

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es in Deutschland keine systematische Zerstörung von Bausubstanz durch äußere Gewalt. Die Produktion neuer und der Umbau bestehender Gebäude dagegen laufen ungebrochen weiter. Als direkte Folge hiervon erhöht sich laufend die Zahl architektonischer „Zeitzeugen“. Dieser wachsenden Menge potentieller Denkmäler stehen de facto sinkende finanzielle Mittel gegenüber und – was vielleicht noch schwerer wiegt – eine deutlich abnehmende gesellschaftliche Akzeptanz. Dass ein Königsschloss unter Denkmalschutz steht, ist leicht vermittelbar. Die vermeintlich hässliche Bankzentrale aus den sechziger Jahren hat es da deutlich schwerer. (Dabei soll die Frage, wie man für diese Gebäude geeignete Nutzungen findet, an dieser Stelle gar nicht erörtert werden.

Man könnte nun auf den natürlichen Lebenszyklus von Immobilien vertrauen, und hoffen, dass die überwiegende Zahl von ihnen verschwindet, bevor sich die Frage ihres Denkmalwertes überhaupt stellt. Allein: Dies kann verantwortungsvolle Denkmalpflege nicht ernsthaft hoffen, geht es doch immer um die relevantesten Zeitzeugen, nicht um die zufälligerweise übrig gebliebenen.

Die schier überbordende Fülle wird eine Selektion von Denkmälern notwendig machen, die in den theoretischen Grundannahmen des Denkmalschutzes so nicht vorgesehen ist. Ob die traditionellen Auswahlmechanismen dafür ausreichen, erscheint zweifelhaft. Zu groß und unübersichtlich ist der Bestand an in Frage kommenden Gebäuden. Zudem ist der entsprechende Kriterienkatalog auf neuere Architektur kaum abgestimmt, und auch die finanziellen Mittel werden kaum reichen, um Immobilien in einer relevanten Zahl dem Wertschöpfungszyklus zu entnehmen. Doch auch die Techniken der Denkmalpflege stehen im Feuer. Traditionell ist diese handwerklich ausgerichtet, musste sie sich doch in den vergangenen 100 Jahren fast ausschließlich mit traditionell gefertigten Gebäuden beschäftigen. Unterdessen hat sich die Bautechnik in den letzten dreißig Jahren aber von ihren handwerklichen Wurzeln entfernt, hin zu einer Assemblage industrieller Produkte. In der Folge werden sich neuere Gebäude einer handwerklichen Restaurierung weitgehend entziehen. Von den Problemen einer notwendigen energetischen Ertüchtigung ist dabei noch gar nicht die Rede.

Carl Gotthard Langhans, Tieranatomisches Theater der Humboldt-Universität zu Berlin, 1789 – 1790; Foto: Ahle, Fischer & Co. Bau GmbH

Carl Gotthard Langhans, Tieranatomisches Theater der Humboldt-Universität zu Berlin, 1789 – 1790; Foto: Ahle, Fischer & Co. Bau GmbH

Werden die bekannten Argumentationspfade der Denkmalpflege vor diesem Hintergrund geeignet sein, uns allen zu erklären, welche Gebäude erhaltenswert sind und welche nicht? Wird es möglich sein, aus dem traditionellen Verständnis heraus Restaurierungsstrategien für eine neuartige Bausubstanz zu entwickeln? Auf den Denkmalschutz scheint eine ganze Lawine ungelöster Probleme zuzurollen. Doch sind wir ehrlich: Die Bewertung von und der Umgang mit Bestandsbauten ist kein Problem der Denkmalpflege allein. Für die gesamte Bau- und Immobilienwirtschaft werden diese Themen in den kommenden Jahrzehnten zentral werden. Nur solange Abbruch und Neubau sich in den allermeisten Fällen noch günstiger als Umbau und Sanierung darstellen, können wir noch so tun, als seien diese Fragen unerheblich.

Spätestens aber, wenn wir die für unsere Gesellschaft langfristig überlebensnotwendige Forderung nach CO2-Einsparung ernst nehmen, muss sich die Zahl der zu erhaltenden Gebäude erhöhen. Ist der Umbau doch nur deshalb teurer als der Neubau, weil die im Bestand enthaltene graue Energie in der Rechnung des Investors nicht auftaucht. Im Hinblick auf eine umweltverträgliche Lösung ist dieser Zustand nicht tragbar. Um zu einer entsprechenden Bewertung zu gelangen, muss der energetische Aufwand, den die verwendeten Baustoffe beziehungsweise deren Entsorgung mit sich bringen, sprich die gesamte CO2-Bilanz, Eingang in die Kalkulation finden.

So ist es Aufgabe künftiger Baupolitik, die graue Energie innerhalb des Wertschöpfungszyklus von Immobilien abzubilden, und somit als wirtschaftliches Entscheidungskriterium ins Spiel zu bringen. Ob das mittels Zertifikaten, einem Fond oder einer steuerlichen Abschreibung passiert, ist zunächst einmal unerheblich. In jedem Fall wird in der Folge die Zahl der Bestandsgebäude weiter steigen. Neben deren materiellem Wert rücken damit auch deren immaterielle Werte in den Fokus des öffentlichen Interesses. Genau hier, in der Demokratisierung der Diskussion um Bestandsbauten, liegt jenseits des Mangels die große Chance einer neuen Denkmalpflege.

Wenn wir uns über Neubauvorhaben unterhalten, geschieht dies üblicherweise in relativ kleinen Gremien wie Wettbewerbsjuries, Gestaltungsbeiräten oder Bauausschüssen. Letzteren obliegt es im Allgemeinen lediglich, die Zulässigkeit der Beschlüsse im Sinne der Bauordnung zu prüfen. Für die Bewertung unserer Neubauten verantwortlich sind also größtenteils gesetzlich schwach bis gar nicht legitimierte Gruppen, die sich in ihrer Meinungsbildung auf Repräsentationen nicht existenter Gebäude in Form von Modellen oder Skizzen verlassen müssen.

Werner Düttmann, St. Agnes, Berlin 1965 – 1967 (Unter Denkmalschutz seit 2005); Foto: Beek100

Werner Düttmann, St. Agnes, Berlin 1965 – 1967 (Unter Denkmalschutz seit 2005); Foto: Beek100

Im Bereich des Denkmalschutzes dagegen gibt es eine gesellschaftlich verfasste Form der Diskussion über Bestand, also über real existierende Gebäude. Bei genauer Betrachtung ist dies sogar die einzige Form der architektonischen Entscheidungsfindung, deren Träger gesetzlich legitimiert und deren Prozesse für den Laien nachvollziehbar sind.

Angesichts der steigenden Relevanz, die der Diskussion um Bestandsbauten – aufgrund ihrer schieren Menge und ihres Gewichts für Fragen der CO2-Einsparung – innerhalb unserer Gesellschaft zukommt, liegt in dieser demokratischen Verfasstheit ein herausragender Vorteil des Denkmalschutzes. Gelingt es ihm, die neuen Anforderungen zu integrieren, könnte er somit zum eigentlichen Motor der Architekturdiskussion unserer Gesellschaft werden.

Die ursprünglichen Ziele der Denkmalpflege sind: Geschichte erfahrbar zu machen, Tradition erlebbar zu halten und Substanz zu bewahren. Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen muss es gelingen, dieses Vokabular zu erweitern. Es geht nun darum, innerhalb der neuen Fülle potentieller Denkmäler Kriterien für eine Auswahl der zu bewahrenden Gebäude zu finden, es geht aber auch darum, Maßgaben für die Aneignung und auch die Anpassung unserer Gebäudebestände zu formulieren, die im gesellschaftlichen Diskurs in der Lage sind Mehrheiten zu bilden. Wenn die Denkmalpflege diese Herausforderungen bewältigt, könnte sie zu einem Diskursinstrument werden, das die Bedeutung unserer gebauten Umwelt in die Mitte unserer Gesellschaft trägt. Jenseits des Mangels, der sie einst legitimiert hatte, winkt ihr dort eine große Zukunft.

Dipl. Ing. Andreas Hild (*1961) studierte Architektur an der ETH Zürich und der TU München. 1992 gründete er zusammen mit Tillmann Kaltwasser das Büro Hild und Kaltwasser Architekten – seit 1999 in Partnerschaft mit Dionys Ottl Hild und K Architekten. Andreas Hild hatte verschiedene Lehraufträge und Gastprofessuren inne, zuletzt in Darmstadt und Graz. Andreas Hild ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift, er lebt und arbeitet in München.

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