Zur Theorie der Denkmalpflege

Jenseits des Mangels

Die Charta von Venedig (1964) hat Vorteile: Zum einen regelt sie verbindlich den Umgang mit Denkmalen. Sie gibt Anhaltspunkte, was ein Denkmal sein kann. Und sie definiert, wie man mit ihm umgehen soll. Die Charta-Devise im Sinne des Mottos „Conserviren statt restauriren“, wie es Hermann Grotefend schon 1882 proklamierte, hat für dreißig Jahre einen ins Ideologische tendierenden Streit geschlichtet, der zumindest in Deutschland seit den Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau des Heidelberger Schlosses zwischen Carl Schäfer und Georg Dehio und anderen – also seit 1900 – und bis zum Wiederaufbau der Heidelberger Brücke 1947 durch Rudolf Steinbach unentschieden geblieben war. Die Charta erlaubt die Restauration nur in Ausnahmefällen. Und sie lehnt den Rückbau eines Gebäudes zugunsten einer vermeintlichen „Stilreinheit“ ab, in deren Namen in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren zahlreiche – auch denkmalwürdige, aber nicht „bauzeitliche“ – Bau- und Ausstattungsteile zerstört wurden. Rekonstruktionen sieht sie gar nicht vor.

Zugleich hat dieses denkmalpflegerische Manifest aber auch gestalterische Hinweise gegeben, wie das „Weiterbauen“ zu erfolgen hat: „Die Elemente, welche dazu bestimmt sind, fehlende Teile zu ersetzen, müssen sich dem Ganzen harmonisch eingliedern, aber dennoch vom Originalbestand unterscheidbar sein, damit die Restaurierung den Wert des Denkmals als Kunst- und Geschichtsdokument nicht verfälscht“ heißt es in Paragraph 12 der „Definitionen“. Und im darauf folgenden Absatz: „Hinzufügungen können nur geduldet werden, soweit sie alle interessanten Bauteile des Denkmals, seinen traditionellen Rahmen, die Harmonie seiner Komposition und seine Beziehungen zur Umgebung respektieren.“

Genau diese Definitionen hat die Generation Carlo Scarpas und Karljosef Schattners virtuos beherzigt. Die Neigung zum Vatermord in der Architektur hat inzwischen jedoch andere Umgangsweisen auf den Plan gerufen: Das fugenlose „Weiterbauen“ zeugt von einem neuen Selbstbewusstsein, aber auch von einem gewandelten Problemverständnis (s. der architekt 5-6 / 10). Doch die Fülle der Bausubstanz der letzten 50 Jahre stellt noch andere Anforderungen. Jeden Tag gehen – ökologisch und ökonomisch unverantwortlich – intakte, aber (jetzt noch) ungeliebte Immobilien „über die Wupper“, die angesichts eines ungeheuren Kapitalmarktdrucks nie die Chance zur Weiterentwicklung bekommen haben. Die – vorsichtig formuliert – allgemein mittelmäßige Wertschätzung insbesondere der Architektur der fünfziger und sechziger Jahre gefährdet gerade jetzt architektonische und stadtbauliche Zeitzeugen einer gerade erst der Historisierung anheim fallenden Epoche.

Hilfe für die bedrohten Arten könnte die Denkmalpflege leisten. Doch deren Theorie erfasst nur geringe Ausschnitte des Baubestands – meist Werke kunsthistorisch bearbeiteter Architekten oder geläufige Inkunabeln ihrer Zeit. Und sie lässt der Weiterentwicklung der gefährdeten Bauten nur einen vergleichsweise engen Spielraum. Vieles bleibt außer Reichweite: Kann also eine Weiterentwicklung denkmalpflegerischer Theorie die Masse des Gebauten „jenseits des Mangels“ in ein neues Leben überführen – und damit Konstituenten des Lebens ihrer menschlichen Zeitgenossen erhalten? Und kann sie trotz eines grundsätzlich konservativen Charakters Möglichkeiten eines anderen architektonischen Umgangs mit ihr ermöglichen oder sogar provozieren?

Die Idee zu dieser Ausgabe und wesentliche Teile ihrer Konzeption stammen von Andreas Hild, München, der sich hiermit gleichzeitig als neues Mitglied unseres Redaktionsbeirats vorstellt.
Andreas Denk

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