der erste stein

Architekturforschung 2.0: Ein altneues Verständnis von Wissenschaftlichkeit

Der erste Stein kann gelegt oder geworfen werden. Unter unserer neuen Rubrik erscheinen Beiträge, die beides vermögen: Es sind theoretische Texte von Autoren mit provokanten Thesen zur architektonischen Praxis, die kontrovers diskutierbar sind. Marc Kirschbaum und Kai Schuster bringen den Stein ins Rollen: Diskutieren Sie mit – per Leserbrief und auf www.architektbda.de/der-erste-stein!

Aufgrund heutiger professioneller Rahmenbedingungen rückt die Forschung zunehmend in den Fokus der Architektur. Dies betrifft einerseits die Hochschulen, die sich aufgrund akademischer Maßgaben wie dem gewachsenen Forschungsdruck im Zusammenhang mit der Harmonisierung der Fachhochschulen und Universitäten, oder dem Druck zum Einwerben von Geldmitteln stärker forschungsorientiert positionieren müssen. Ohne eigene Forschungsetats müssen andererseits die Büros auskommen, in denen Architekturforschung eine wesentliche Erkenntnisinstanz und -bedingung für architektonisches Schaffen bildet: Büros wie beispielsweise OMA/AMO, MVRDV oder Lacaton & Vassal, haben bereits seit langem erkannt, dass Architektur heute nicht mit der engen Analyse der Bauaufgabe selbst beginnen kann. Nötig ist vielmehr eine „Leistungsphase Null“1, mit der komplexe Einflussbedingungen auf architektonisches Schaffen erkannt, systematisiert und umgesetzt werden können.

Damit wird auch deutlich, dass die Architektur insgesamt mit neuen Ansprüchen konfrontiert wird, die bis dato weit im Hintergrund standen. In der Architektur gibt es verglichen zu anderen Disziplinen keine Forschungstradition, die in einem permanenten Prozess nach einem überindividuellen Mehr an „Wissen“ strebt. Geforscht wird traditionell eher über bautechnische und -konstruktive Fragestellungen, die aber nicht die Genese der Architektur selbst betreffen: aber genau diese ist es, wo offensichtlich Forschungsnotwendigkeit und -nachholbedarf besteht, um heutige Komplexität und Anforderungen an Architektur entwurflich zu integrieren und umzusetzen.

Architekturforschung 1.0: Der Architekt als Ein-Person-Empiriker
Nun ist Forschung aus architektonischer Perspektive ein unbeschriebenes Blatt – jedenfalls dann, wenn sie als wissenschaftlich-methodische Suche nach neuen Erkenntnissen verstanden wird, so wie im Wissenschaftsdiskurs allgemein üblich. Architekten wurden traditionell weder in wissenschaftlichem Arbeiten noch in deren unterschiedlichen Methoden ausgebildet. Der Architekt ist kein klassischer Wissenschaftler, als solcher wird er weder allgemein identifiziert, noch trifft dies das Selbstverständnis des Berufs.

Gleichzeitig war und ist er ein zielorientierter „Forscher“, der zumindest im Sinne einer „Ein-Person-Empirie“2 die erfahrbaren Umweltgegebenheiten mit eigenen Erfahrungsbeständen kombinieren muss und somit allein zur empirischen Stichprobe wird. Der Architekt nimmt unterschiedliche Informationsquellen, verarbeitet sie unter einer bestimmten Fragestellung und kommt zu einer einzelfallbezogenen Lösung oder dekretiert einfach eine neue „Theorie“.3 Verglichen zum Wissenschaftler legt er allerdings nicht immer alle Kriterien offen – auch deshalb nicht, weil sie ihm selbst nicht immer benennbar sind.4 „Forschen“ schafft in diesem Sinne durch exploratives und künstlerisches Herangehen Kulturgüter beziehungsweise Bauwerke, die sich im wissenschaftlichen Kriterienraster der Validität, Objektivität und Reliabilität zwar nicht begreifen lassen, aber dennoch zu anwendungsorientierten Ergebnissen kommen. Ein Widerspruch? Nein, denn die Ein-Person-Empirie von Architekten hat keine allgemein gültigen Aussagen zum Ziel, sondern einen Entwurf, der als Einzelfall auch realisierbar ist. Es handelt sich somit um „angewandte Architekturforschung“, mit Einzelfall-Analysen, die „einfach gemacht“ werden. So wird es in der Architektenausbildung „vermittelt“ und später im Berufsleben beibehalten. Angewandte Architekturforschung heißt vor allem, den „Forschungsgegenstand“ durch knappe und zielgerichtete „Analyse“ in einen kreativen / intuitiven Entwurf zu überführen, der schließlich das eigentliche Ziel ist – und zu dem die Analyse beitragen soll.

Wenn nun im Kontext der Architektur von Forschung die Rede ist, bedeutet dies auch, dass zwei Denktraditionen aufeinandertreffen, die beinahe zwangsläufig zu systemischen Schwierigkeiten führen müssen: Der kreative Prozess des Entwerfens wird mit Forschung und ihren Methoden der Klarheit und Benennbarkeit ergänzt. Die allgemeine Skepsis von Architekten gegenüber Forschung, Wissenschaft und Theorie lässt sich wie folgt charakterisieren: „Wissen schafft keine Kunst“5, oder anders gesagt, theoretische Reflexion führt nicht zum Entwurf. Diese professionelle Grundhaltung aktiviert in der konkreten Aufgabe einen entwerferischen Habitus6, der sich in professionellen Handlungen niederschlägt. Das vage Feld, das heute gern als Architekturforschung beschrieben wird, ist meist dadurch gekennzeichnet, dass es einerseits „forschungsorientierte Projekte“ gibt, denen zumeist der innovative Gehalt fehlt und die kaum zum Entwurf führen oder „innovationsorientierte Projekte“, denen die Grundlagen fehlen und die auf der „Ein-Person-Empirie“ des Entwerfers basieren. Daraus entsteht leicht ein defensiver Gestus der wissenschaftlichen Architekturforschung mit folgender Dynamik: zuerst wird geforscht, dann – da nicht offensichtlich anwendbar – alles vergessen und dann wie immer, auf die entwurfliche Eingebung gewartet und sich damit wiederum von aller Forschung distanziert. Was fehlt, ist die Klammer zwischen Forschung und entwurflicher Praxis und damit sei ebenso die Frage gestattet, ob Architekturforschung überhaupt eine Wissenschaftsdisziplin im strengen Sinne sein kann – und will. Insofern konnte die Forschung in der Architektur bislang kaum nennenswerte wissenschaftliche Ergebnisse liefern.

Architekturforschung 2.0
Beginnen wir mit dem, was da ist: es ist nun nicht so, dass Architekten grundsätzlich kein Interesse an Forschung und systematischem Erkenntnisgewinn hätten, es ist für sie vor allem ein fremdes Terrain, auf dem sie nicht ausgebildet und sozialisiert wurden. Auf der anderen Seite greifen sie nahezu automatisch zum genannten Instrument der Analyse, um sich zu verorten. Diese ist auch nicht schlecht, sie ist eher etwas eingeschränkt und könnte durch methodische Ansätze anderer Disziplinen sinnvoll ergänzt werden, gerade deshalb, weil Architekten „generalistische Forscher“ sind und ihr Weitblick im Denken auch eine breite methodische Grundlage bekommen würde.

Architekturforschung 2.0 bedeutet indes nicht, eine Verwissenschaftlichung der Architektur einführen zu wollen. Diese Spät-68er-Logik, alles erst verstehen zu wollen und wissenschaftlich zu durchdringen, um dann in der Folge zu entwerfen, ist heute mehr denn je ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist. Gerade weil unsere Kultur von Komplexität und Dynamik gekennzeichnet ist, zielt Architekturforschung 2.0 vielmehr auf die Erweiterung des kreativen, intuitiven und spekulativen Potentials des architektonischen Experiments ab: Experimente, die eine komplexe Analyse (Leistungsphase Null) mit dem Entwurf verbinden und zwischen beiden keine (anachronistische) Trennung mehr sehen. Architekturforschung kann nur tragfähig sein, wenn sie als eine „architektonische Wissenschaft“ begriffen wird; eine Wissenschaft, die sich einer allzu rigiden Objektivität entledigt und mehrere „Objektivitäten“ zulässt. Architekturforschung 2.0 als „architektonische Wissenschaft“ folgt eher dem Ideal des systematischen Entdeckens, einem Wissenschaftsverständnis Alexander von Humboldts7, das die Objektivität nicht über die Entdeckung stellt.

Unser Verständnis von Architekturforschung haben wir in mehreren interdisziplinären Entwurfsstudios ausprobiert und zusammen mit den Studierenden sprichwörtlich Architekturforschung praktiziert (zum Beispiel „Lifestyle und Architektur“8). In solchen Entwurfsstudios geht es darum, die zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse architektonisch zu verstehen und den Prozess nicht mit dem eigentlichen Forschungsergebnis zu beenden, so wie es der Wissenschaftler kann. Für den Architekten fängt der wesentliche Prozess hier erst an – und damit wird für den interessierten Wissenschaftler auch deutlich, welch schwierige Aufgabe und hohe Erwartung an Architekten heute gestellt werden: die Fülle kultureller und gesellschaftlicher Entwicklung selbst zu erkennen, sie methodisch zu fassen und dann im Entwurf umzusetzen.

Architekturforschung 2.0 ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Disziplin Architektur nicht als minderwertig im Wissenschaftskontext empfindet, sondern sich in ihm durch die allerdings noch zu latent benannten Qualitäten behauptet. Erst in der Verbindung von Kreativität und Strukturiertheit, an jeder Stelle im Entwurfsprozess, liegt das wirkliche Potential. In diesem Sinne braucht eine wissenschaftliche Architekturforschung notwendigerweise entwerferische Motive und Kompetenz, da nur ein „Entwerfer“ beurteilen kann, welche Dimensionen des Erforschten tatsächlich entwurflich integrierbar sind – hierin liegt der Kern der Forschung in Architektur, alles andere ist Forschung über Architektur und damit nicht mehr als ein wissenschaftlicher Blick von außen.

Insofern bedeutet Architekturforschung 2.0 im Ideal nicht ein zufälliges und persönlich interessengeleitetes Handeln, sondern ist mit der Vorstellung eines neuen professionellen Gestus der Architektur verbunden, den es an Hochschulen zu sozialisieren gilt.

Marc Kirschbaum ist Professor für Architekturtheorie und Entwerfen an der SRH Hochschule Heidelberg. Kai Schuster ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie mit Schwerpunkt Architekturpsychologie an der Hochschule Darmstadt. Beide Autoren sind Gründer und Partner des Büros pragmatopia – architektur.stadt.leben in Kassel.

Anmerkungen
1 vgl. Marc Kirschbaum: Leistungsphase Null. Generalismus und Architektur, in: Marc Kirschbaum, Silvia Bartnik: architektur.generalistisch, Informationssystem Planung, Kassel 2008, S. 9-22.
2 Klaus Selle: Öffentlicher Raum – Terra incognita? Anmerkungen zum Stand einer schwierigen Diskussion, in: Umweltpsychologie, 7 (1), 2003, S. 70-79.
3 z. B. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1922), oder die „Charta von Athen“ (1933).
4 vgl. Walter Schönwandt: Planung in der Krise? Theoretische Orientierungen für Architektur, Stadt- und Raumplanung, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002.
5 Wolfgang Schulze: Erkenntnis durch Befragung, in: Kirschbaum & Bartnik, 2008, S. 83.
6 Habitus im Sinne Bourdieus verstanden als normative Haltung (einer „Klasse“), aufbauend auf einem beständigen Wertesystem, die zu einer bestimmten Praxis / Umsetzung führt; vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt / Main 1982.
7 vgl. Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004.
8 siehe ausführlicher: Marc Kirschbaum, Kai Schuster: Wie es Euch gefällt, in: Kay von Keitz & Sabine Voggenreiter: plan06 – wohnen3, plan project, Köln 2007, S. 78-85.

Eine Replik auf den ersten stein von Werner Oechslin (der architekt 1/13, S. 10-11), einen „zweiten Stein“ von Hans Albeshausen, Architekt BDA aus Frankfurt / Oder finden Sie auch in Heft 2/13 auf S. 6.

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