kritischer raum

Weiche Hülle, harter Kern

Das Wohn- und Geschäftshaus „einfach gebaut“ von orange architekten, Tschada Weber, Berlin, 2016–2017

orange architekten, Wohn- und Geschäftshaus einfach gebaut, Berlin 2016–2017, Foto: Jasmin Schuller

Auch in der zweiten Reihe nördlich der ehemaligen Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee in Berlin, ist der Städtebau in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre seinen sozialistischen Gang gegangen. Die folgerichtig Fragment gebliebenen Ansätze Hermann Henselmanns zu einem Wohnhof am Weidenweg finden ihren Ausdruck vornehmlich durch einen großen Torbogen in einem neoklassizistischen Blockrand, der sich auf einen Hof mit einer heterogenen Bebauung aus verschiedenen Bauphasen öffnet. Die Binnenerschließung dieses Hofes entlang der Eckertstraße, die hinter dem Torbogen beginnt, hat seine Tücken in der Parzellierung und im Bestand. Das Grundstück, das Peter Tschada und Anna Weber (orange architekten) hier direkt im Anschluss an Henselmanns Blockrand für den Bau ihres Wohn- und Geschäftshauses nach eigenen Plänen erwarben, galt eigentlich als unbebaubar.

orange architekten, Wohn- und Geschäftshaus einfach gebaut, Berlin 2016–2017, Foto: Jasmin Schuller

Die Idee der Architekten war zuallererst die Reparatur der komplizierten Grundstücks- und Bestandslage. Tschada und Weber erreichten das mit einem in der Höhe gestaffelten fünfgeschossigen Längsriegel, der parallel zur Henselmannschen Bebauung in der Parzelle liegt und einem nördlich straßenseitig anschließenden dreigeschossigen Ateliertrakt, der die inzwischen schon von anderen Architekten umgesetzte Schließung der Binnenblockrandbebauung an der Eckertstraße ermöglichte. Eine offene, leicht in den Straßenraum vorspringende Metalltreppe bildet den Mittelpunkt der markanten, fast technoid wirkenden Stirnseite des Gebäudes. Der Treppe, die gleichermaßen als Kommunikationsraum für die Hausbewohner dienen soll, gliedern sich der zur Straße, nördlich und östlich schwarz verkleidete Wohnriegel, der straßenseitig mit großen Fenstern ausgestattete Ateliertrakt und ein eingeschossiger Ladenpavillon mit außenliegender Sitzbank als nahezu eigene Baukörper an. Insgesamt sind hier 15 Wohneinheiten als Eigentum entstanden, mit deren Verkauf die Architekten ihr Projekt ermöglicht haben.

orange architekten, Wohn- und Geschäftshaus einfach gebaut, Berlin 2016–2017, Foto: orange architekten

Sowohl Wohn- wie der Ateliertrakt sind im Erdgeschoss aufgeständert: Unterhalb der Wohnebenen ergibt sich so der Platz für eine offene Parkgarage und ein großzügiges Büro im Südosten, unter den Arbeitsräumen entsteht ein Durchgang in den großen Blockinnenhof, der so eine Öffnung ins Öffentliche bekommt. Die Struktur des Bauwerks zielt auf räumliche Flexibilität: Das Treppenhaus erschließt von der Straße oder vom hauseigenen Parkplatz über Laubengänge drei Regel- und zwei zurückspringende Dachgeschosse mit Dachgarten im südlichen Wohnriegel sowie die übereinanderliegenden Atelierwohnungen mit Arbeitsraum, WC, Bad und Schlafzimmer im Norden. Die Schottenbauweise des Wohntrakts ermöglicht eine unterschiedliche Kombination der vier Meter breiten Kompartimente, die eine Nutzungsanpassung der Wohnungen über einen langen Zeitraum sicherstellen soll. Die Südseite öffnet sich über die ganze Länge des Gebäudes auf Balkone, deren Betonplatten in jedem Geschoss unterschiedlich auskragen, damit den Wohnraum ergänzen und zudem inmitten des erhaltenen alten Baumbestands ein abwechslungsreiches Gesamtbild abgeben.

orange architekten, Wohn- und Geschäftshaus einfach gebaut, Berlin 2016–2017, Foto: Jasmin Schuller

Eine weitere Zielsetzung der Architekten war die Vermeidung von Hybridmaterialien, die sich bei einem späteren Rückbau des Gebäudes als nicht recycelbar erweisen. Erprobt werden sollte vielmehr die Möglichkeit einer sortenreinen Materialverwendung. Deshalb war die Verwendung eines Verbundsystems zur Wärmedämmung von vornherein ausgeschlossen. Peter Tschada und Anna Weber nutzten stattdessen Mineralwolle, die gestapelt und punktuell mit Latten fixiert, aber nicht verklebt wurde. Darüber liegt eine Unterspannbahn zur Abdeckung, die mit einem schwarzen textilen Netz überspannt ist, dessen Ränder teilweise in Eigenarbeit mit Seilwerk an Ösen verspannt wurden und das die Haut des gedämmten Betonkerns bildet. Auf der Nordseite ist die mattschwarze Wandbekleidung sogar über die Fensteröffnungen an den Laubengängen gezogen worden. Das semitransparente Material verhindert so tagsüber einen Einblick in die Räume am Gang, ermöglicht aber einen Ausblick vom Zimmer ins Taghelle. Abends kehren sich die Verhältnisse dann um.

orange architekten, Wohn- und Geschäftshaus einfach gebaut, Berlin 2016–2017, Foto: Jasmin Schuller

Im Innenausbau prägte der Gedanke des differenzierten Materialeinsatzes die Konstruktion der Geschossböden: Hier ersetzten Tschada und Weber Estrich und Klebeparkett durch eine lose liegende, massive Brettschichtholzplatte, die Dämmung und Oberfläche miteinander verbindet. Zusammen mit den an Laubengängen und Balkonen umlaufenden Geländern, die durch eine filigrane Seilverspannung entstehen, den schwarzen, segelartig verschnürten Textilflächen, dem Zink des Treppenhauses, dem Hellgrau des Sichtbetons und dem hellen Türkis der gläsernen Atelierseitenwände ergibt sich eine ganz eigene Ästhetik des Gebäudes: Der ungewöhnliche, aber gut überlegte Materialeinsatz bedient sich – ohne eine allzu platte Anlehnung an eine Schiffsmetaphorik – maritimer Topoi, die anschaulich Funktionalität und visuellen Eindruck miteinander verknüpfen. Der programmatische Wunsch von Peter Tschada und Anna Weber, „alles denken, hinterfragen, planen und bauen zu dürfen, was man als schlüssig, vernünftig und wegweisend hält“, hat mit der kommunikativen, ökologischen und materiell-funktionalen Logik, die das Gebäude hat, auch einen ästhetischen Ausdruck bekommen, der sich aus der zweckmäßigen Fügung von Räumen, Körpern und Materialien ergibt und dennoch mehr ist als deren Summe. Dass dies wahrscheinlich nur möglich war, weil die Architekten zugleich als Entwerfer und als Bauherren aufgetreten sind, stimmt angesichts des vorzüglichen Resultats nachdenklich.
Andreas Denk

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