Buch der Woche: Berlin – Babylon

Märkisch Mesopotamien

Die Parallelisierung zwischen dem modernen Berlin und dem altertümlichen Babylon ist ein gängiges Bild, das immer wieder in unterschiedlichen Kontexten aufgerufen wird. Gerade verfilmt Tom Tykwer unter dem Namen „Babylon Berlin“ und unter gewaltigem Aufwand die Kriminalreihe von Volker Kutscher, deren Handlung im Berlin der 1920er Jahre spielt. Zwar könnte man meinen, dass der Vergleich mit der babylonischen Hauptstadt auf viele Metropolen übertragbar wäre, doch die kulturhistorische Verknüpfung mit Berlin hat eine ganz besondere Tradition, die schon kurz vor 1900 ihren Anfang nahm und in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen starken Einfluss entfaltete. Die Textsammlung „Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination“, zusammengestellt und eingeführt von den Autoren Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan, gibt uns nun einen sehr facettenreichen Einblick in den Babylon-Boom der 1890er bis 1930er Jahre und zeigt, welchen Einfluss dies auf die Rezeption Berlins nahm. Die Anthologie vereint dabei literarische Zeugnisse von Autoren wie Thomas Mann, Karl May, Paul Scheerbart, Kaiser Wilhelm II. sowie vielen weiteren und führt an diese unter verschiedenen Themenschwerpunkten mit erhellenden und unterhaltsamen Einleitungstexten heran.

Als Ausgangspunkt für den um 1900 einsetzenden Hype um Mesopotamien und die sagenumwobene altertümliche Metropole Babylon stehen die damaligen Erfolge im Feld der Archäologie. Auf dem Staatsgebiet des Osmanischen Reiches entdeckten der Archäologe Robert Koldewey und der Philologe Eduard Sachau unter anderem das gewaltige und farbenprächtige Ischtar-Tor und das Fundament des Turms zu Babel und ließen damit eine bildliche Vorstellung von Pracht und Reichtum einer bisher wenig beachteten frühen Hochkultur aufleben. Von zusätzlicher Strahlkraft waren die philologischen Entdeckungen, die bereits einige Jahrzehnte zuvor gemacht wurden: In der mesopotamischen Schrift, die wir heute als Gilgamesch-Epos kennen, erkannte man Vorläufer der Alttestamentarischen Erzählung der Sintflut. Damit sei, so die Autoren Polaschegg und Weichenhan, „das babylonisch-assyrische Altertum in den Rang einer Ursprungskultur“ aufgerückt.

Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan (Hrsg.): Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017

Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan (Hrsg.): Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017

Auch auf die Architektenschaft wirkte die Babylon-Welle in Berlin ein: zum Beispiel in Hans Poelzigs Entwürfen für die Lichtreklame über dem BABYLON-Kino oder im U-Bahnhof Klosterstraße, an dem die Gestaltung der Thronsaalfassade Nebukadnezars II. mit Volutenbäumen auf gelben und blauen Keramikfliesen nachempfunden wurde. Im Buch finden sich die architektonische und stadtbezogene Perspektive im Kapitel Stadt mit Texten des Schriftstellers und Kunsthistorikers Josef Ponten, sowie Auszüge aus Thea von Harbous Metropolis und Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Bereits in dieser Textauswahl zeichnet sich der durchaus ambivalente Blick auf die ungebändigte Entwicklung Anfang des Jahrhunderts in Berlin ab. Den Autoren zufolge habe Babylon in besonderem Maße diese Widersprüchlichkeit verkörpert: Es sei hier „zur Chiffre einer Moderne geworden, die sich selbst als universal begreift und zugleich als beschleunigt empfindet von einer Dynamik, deren Unaufhaltsamkeit im Lichte Babylons – und das ist entscheidend – ebenso auf den Gipfel des Fortschritts führen konnte wie in den apokalyptischen Untergang“.

Viele weitere Texte werden von den Autoren in thematischen Gruppierungen wie Staat, Sterne, Scherben zusammengeführt, untermalt durch zeitgenössische Architekturzeichnungen, Illustrationen und Karikaturen. Zum einen zeigt diese Quellenkompilation auf eindrucksvolle Weise, wie sich der Faszinationskomplex Babylons, einer Stadt also, zu der es weder geographische noch historische Bezüge gibt, auf sämtliche Kulturbereiche wie Literatur, Wissenschaft, Film, Politik auswirken konnte. Zum anderen ist der von einer Thematik ausgehende interdisziplinäre Blick mit einer Vielfalt von Autoren und literarischen Stilen von Satire bis Grabungsbericht schlichtweg unterhaltsam und fesselnd – eine abwechslungsreiche Zeitreise in die geistesgeschichtlichen Kosmen des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Elina Potratz

Andrea Polaschegg und Michael Weichenhan (Hrsg.): Berlin – Babylon. Eine deutsche Faszination, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.

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