Einführung von Uwe Schröder

Offene Form…

…und architektonische Entscheidung

Dass ein Körper Raum einnimmt, gilt für den architektonischen Körper in gleicher Weise, so der Architekt und Architekturtheoretiker Uwe Schröder, nur dass dieser in seinem Inneren – im Gebäude gleich in der Stadt – zudem auch Raum und Räume selbst hervorbringt. Architektonische Körper bestehen aus Formen und Räumen. Diese Räume sind für die Architektur elementar und daher weder als Leere wahrzunehmen noch als Nichts vorzustellen.

Formen und Räume sind im architektonischen Körper komplementär miteinander verbunden. Das Anordnen und Errichten von Räumen an Orten ist Aufgabe der Architektur, mittels Form – innerhalb der Form – lässt Architektur die gebrauchten Räume erscheinen. Architektonische Räume kommen als ortgebundene Innenräume vor, die von Form und Formen begrenzt werden. An diesen begrenzenden Formen beginnen die Räume ihr Wesen, phänomenal entlehnt sich also der Raum seiner ihm gewidmeten Form, oder mit anderen Worten: Die Form als Grenze ist die stoffliche Wesensbestimmerin des Raums. Darin liegt die grundsätzliche Bedeutung architektonischer Form. Mitnichten aber beginnt Architektur mit der Form als vielmehr mit der Idee von Raum und Räumen und deren vorausahnender Vorstellung. Und erst infolge und danach lassen sich architektonische Formen bestimmen, in deren Mitten die Räume erscheinen: „Im Zimmer gestalten wir doch nicht zuerst die Wände, den Boden oder die Decke, als vielmehr den Raum, den wir wohnend in Gebrauch nehmen. Wir bekleiden nicht Wände, sondern den Raum inmitten der Wände. Und erst dieses Gewand lässt den Raum als dieses Zimmer erscheinen.“(1)

Simon Ungers, Sieben Sakrale Räume, Kathedrale, Katalog anlässlich der Ausstellung vom 28. Oktober bis 21. Dezember 2003 in der Kunststation St. Peter Köln, Copyright: Simon Ungers und Sven Röttger

Die Oberfläche der Form weist sich zugleich als Oberfläche des Raums aus. Und in der Weise, in der die Form durch diese Oberfläche begrenzt wird, ihren Umriss erhält und recht eigentlich an dieser Grenze erst ihren Anfang nimmt, so nimmt auch der Raum an derselben Oberfläche als seine Begrenzung seinen Anfang: Die Grenze ist also für die Form wie für den Raum ein und dieselbe. Gleichermaßen also zeigt die Oberfläche der Form die äußere Grenze der Form wie die des Raums. Beiderseits dieser materialen „Außenfläche“ beginnt diesseits das Wesen des Raums und jenseits das der Form. Und noch bevor die Form als „begrenzendes Massiv“ sichtbar wird, entlehnt sich der Raum bereits der materialen Oberfläche der Form. Der Wahrnehmung nach verdankt der Raum seine Gestalt allein der begrenzenden Fläche und nicht dem „begrenzenden Massiv“.(2) Einerseits legt eine Öffnung in der Oberfläche das Massiv der Form frei – beispielsweise als Dicke der Wand –, andererseits aber erscheinen Öffnungen mit ihren begrenzenden Oberflächen grundsätzlich selbst auch als eigenständige Räume.(3) Das Erscheinen architektonischen Raums verdankt sich den äußeren Flächen der architektonischen Form, und die wahrgenommenen „Nähen“(4) dieser Flächen zueinander bestimmen die inneren Ausdehnungen der Räume: „Architektur als Raumkunst der Grenze und des Übergangs.“(5)

Zunächst aber zeigt sich die architektonische Form unmittelbar und wechselseitig mit Material und Konstruktion verbunden. Mit Anschluss an die architektoni­sche Überlieferung können Material und die Kon­struktion entsprechenden Ausdruck finden und zu (archi)tektonischem Erscheinen kommen. Dieses „Architektonische“ ist ein wesentliches Charakteristikum der Form und schon die kleinste Fehlstellung in diesen noch einfachen Relationen führte unmittelbar zu Irritation und Missverständnis. Gleichwohl erweist sich auch die Form, in der Material und Konstruktion aufgehen, nicht von anderen inneren oder äußeren Bestimmungen als unabhängig: Form ist Form des Raums. Architektonische Räume zeigen sich als zeit-, ort- und zweckgebundene Innenräume. So ist zum Beispiel die Zweckhaftigkeit in der Funktion des Gebäudes als Konzentration von Möglichkeiten des Gebrauchs hinterlegt. Das Wirken dieser Räume – ihr Erscheinen – setzt die Form als materiale, in der Konstruktion gebundene, bauliche Grenze voraus. Daher bestimmt das „Architektonische“ nicht nur den Charakter der Form als vielmehr auch die Atmosphäre des Raums. Im Zusammenhang der Konstruktion hatten wir insofern von einer „Architektonik des Raums“ gesprochen.(6)

Simon Ungers, Sieben Sakrale Räume, Synagoge, Katalog anlässlich der Ausstellung vom 28. Oktober
bis 21. Dezember 2003 in der Kunststation St. Peter Köln, Copyright: Simon Ungers und Sven Röttger

Als bauliche Grenzen bestimmen charakteristische Formen die Atmosphären der Räume, nach innen der Zimmer und der Höfe, nach außen der Straßen und der Plätze. Beim Entwerfen und Gestalten nehmen wir die Form in der Architektur dennoch als unfrei an, da sie einerseits als Darstellung von Material und Konstruktion und über das „Architektonische“ auch immer als Analogie zu Anderem vorkommt, beispielsweise zu Natur, zu Konstruktion oder zu Raum. Andererseits und in erweitertem Sinn kommen auch äußere Einflüsse und Bestimmungen in architektonischen Formen zum Tragen, beispielsweise mit dem „Ort“ oder mit der „Zeit“, vor allem aber mit dem „Zweck“ (kulturell und gesellschaftlich), welcher allein sich imstande zeigte, die Architektur zu höherer Idee und Sinnstiftung zu führen: Verschiedene Konnotationen werden vorstellbar, etwa die der erhabenen Landschaft, des endlosen Raums, der Unergründlichkeit der Zeit (Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit), der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses, der menschlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit, der natürlichen Harmonie, der Einfachheit eines guten und richtigen Lebens, der Wahl des Materials und der handwerklichen Fügung oder auch die „der Stadt als der monumentalen Bühne der Wohnenden.“(7)

Simon Ungers, Sieben Sakrale Räume, Moschee, Katalog anlässlich der Ausstellung vom 28. Oktober
bis 21. Dezember 2003 in der Kunststation St. Peter Köln, Copyright: Simon Ungers und Sven Röttger

Aber zurück zur Form, die obgleich der offensichtlichen Verbindlichkeiten als die entscheidende und letzte Instanz des architektonischen Gestaltens gelten darf, ohne dabei die Architektonik von Material und Konstruktion zu negieren, ohne ihre unmittelbare Raumbindung zu leugnen und vor allem aber auch ohne die äußeren Einflüsse von Ort, Zeit und Zweck zu übergehen. Schon in der planenden Definition von Form und Formen kommt die gestalterische Bedeutung zum Tragen, Räume inmitten der Formen errichten wir schließlich nur mittelbar. Mit technischen Planzeichnungen, die zur Ausführung dienen, werden mitnichten allein die „inneren“ Grundlagen
festgelegt, die infolge als Eigenschaften des Gebäudes auftreten, sondern ebenso die „äußeren“ Grundlagen eingeschrieben, die das Gebäude vor Ort und in der Zeit verankern und für seinen Zweck offenhalten. Architektur ist mitnichten Form allein, aber was Architektur wesenhaft ausmacht, findet sich in ihren Formen nachweis­bar angelegt, ein Verständnis für Material, die Logik der Konstruktion, das Wirken der Räume, viele Möglichkeiten des Gebrauchs, ei­ne Verbundenheit mit dem Ort, die Konzentration auf die Gegenwart und eine Kul­tur des Wohnens und der Wohnenden. Also, aber wir ahnten es schon, die Frage nach der Form bleibt offen, keine Formel, oder vielleicht als Vorstellung eine „offene“ Form, eine Offenheit, die im Entwurf einer architektonischen Entscheidung bedarf.

Prof. Dipl. Ing. Uwe Schröder (*1964), Architekt BDA, studierte Architektur an der RWTH Aachen und an der Kunstaka­demie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträ­gen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 – 2010), an der Università degli Studi di Na­po­li „Federico II“ (2016), am Politecnico di Bari (2016), an der Università degli Studi di Catania (2018), am Politecnico di Milano (2019) und an der Università di Parma (2020 – 2021). Er ist Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift.

Fußnoten:

1 Siehe: Verf., in: Ders.: …der Malerei des Teppichs eingedenk. Wandmaske und Raumbekleidung, in: der architekt 5 / 2013: farbe bekennen. elemente der architektur II, Oktober 2013, S. 54 f.

2 Siehe: Dom H. van der Laan: „Der Raum, der zwischen solchen Wänden entsteht, kann nicht in gleichem Sinn eine Form haben, wie die massive Wand sie hat; der Innenraum und die Wand würden beide ihre Form derselben Innenfläche der Wand verdanken, was unmöglich ist.“, in: Ders., Der architektonische Raum, Fünfzehn Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung, Leiden / New York / Köln 1992, S. 41.

3 Zur Räumlichkeit der Wand vgl. Verf., Die Wand. Grenze der Architektur – Architektur der Grenze, in: der architekt 4 / 2016, S. 20 – 25.

4 „Daher sagen wir auch, dass zwei große Steine näher beieinander liegen als zwei kleine, obwohl der Abstand in beiden Fällen derselbe ist.“, in: Van der Laan, Leiden / New York / Köln 1992, S. 43.

5 Vgl. Verf., 4 / 2016, S. 23.

6 Vgl. Verf., Architektonik des Raums. Zur Konstruktion in der Architektur, in: der architekt 6 / 2019, kon­struktion. grundlagen der architektur IV, S. 20 – 25.

7 Vgl. Denk, Andreas / Schröder, Uwe, Das Romantische in der Architektur. Fragmente aus Gesprächen, in: der architekt 6 / 2021, geheimnis im gewöhnlichen. zum romantischen in der architektur, S. 15 – 18.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert