Karin Wilhelm

Pathos des Gestischen

„Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“

I
Als der in Wien groß gewordene Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) diesen Gedanken um 1930 notiert, hat er bereits selbst praktische Erfahrungen mit der Konzeption einer anspruchsvollen Wohnhausarchitektur gesammelt. In Zusammenarbeit mit dem jungen Architekten Paul Engelmann und dem Ingenieur Jacques Groag, die beide durch die reduktionistische Ästhetik des in Intellektuellenkreisen hoch geschätzten Adolf Loos geprägt waren und die auch Wittgenstein schätzte, hat er für seine Schwester Margaret Stonborough-Wittgenstein in der Wiener Kundmanngasse, „einem nicht vornehmen Allerweltsviertel“2, ein Stadtpalais konzipiert und bis in haustechnische Details hinein präzise durchgearbeitet. 1928 war die schmucklose Stadtvilla mit dem sachlich klaren Interieur, die inmitten eines romantischen Gartens gelegen ist, bezugsfertig. Noch wartete Margaret Stonborough auf die angemessene Möblierung und schrieb dem inzwischen in Cambridge weilenden Bruder: das Haus „schreit nach anständigen Möbeln.“3 Zwar wollte die Bauherrin, die ansonsten mit den noblen Inneneinrichtungen der Wiener Werkstätten oder zwischen Antiquitäten leben mochte, den Bruder mit ihrer Aufforderung, die eigenen Möblierungsentwürfe für ihr neues Domizil zu intensivieren, zunächst finanziell unterstützen. Doch ihre Bitte offenbart mehr: Das auf reine Volumina reduzierte Wittgensteinsche Stadtpalais, dessen Raum-atmosphäre in der bel etage durch die „abnorm großen Glastüren“ (Hermine Wittgenstein) in Eisenfassung geprägt ist, in dem die Präzision der Handwerksarbeit unmittelbar ins Auge fällt, das mit einem Fahrstuhl ausgestattet ist und eine vernünftig organisierte Bequemlichkeit verspricht, „schreit“ nach neuen, entsprechenden Wohnutensilien! Offenbar ist dieser Architektur ein Raummuster eingewoben, das, wenn auch subkutan, eine grundlegende Veränderung des Lebensstils in opulenter Ringstraßenmanier anmahnt, der der Familie Stonborough-Wittgenstein vertraut war. Und diese Notwendigkeit war es, die die Bauherrin in der Architektur ihres Hauses erkannte und dem Bruder mitteilte. Sie wollte seiner „guten Architektur“ mit einer (angemessenen) Geste folgen.

Paul Engelmann hat die ästhetischen Absichten Ludwig Wittgensteins später expliziert und die am Verdikt der Ornamentlosigkeit des Adolf Loos orientierte Formfindung einer zeitgemäßen, modernen Architektur‚sprache‘ verdeutlicht. Es gelte nämlich, schrieb er: „…nichts zu tun, als in richtiger menschlicher Haltung einen Bau technisch richtig zu konstruieren, woraus sich die richtige, allein wirklich zeitgemäße Form von selbst ergeben muss: sie soll vom Architekten nicht am Gebrauchsgegenstand und am Bauwerk absichtsvoll ausgesprochen werden, sondern sich selbst an ihm zeigen.“4 Mit dieser Aussage ist ein programmatischer Aspekt der modernen Architektur verdeut-licht worden, den Wittgenstein später (1942) in den Satz fassen sollte: „Architektur ist eine Geste“.5 So gesehen muss die Aussagefähigkeit der Architektur nicht länger an das „schmückende Beiwerk“ eines erläuternden Dekorums gebunden bleiben. Vielmehr zeigt das „Bauwerk an sich selbst“, in der Eigenart seiner spezifischen Raumorganisation und Raumwirkungen, von welchen Gedanken es beseelt ist, was seine Aufgabe und sein Ziel ist. Die Raumbenutzer nehmen diese Raumwirkungen als „deiktische Gestenkommunikation…zur Koordinierung von Handlungen“ (Jürgen Habermas) wahr – im Diskurs zur Architektur wird diese „Gestenkommunikation“ der Architektur im Rahmen der Gebäudetypologien systematisiert und wie eine Grammatik im Entwurfsprozess handhabbar.

II
„Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen“: Ludwig Wittgensteins Sentenz behauptet, dass der „guten“ Architektur Gedanken zu Grunde liegen, die vom betrachtenden und agierenden Nutzer erlebt und erkannt werden können. Ein Gebäude ist, so gesehen, präformierend. Es offeriert in seiner Raumbildung einen diesem Gedanken angemessenen Gebrauch. Der „Eindruck guter Architektur“ wirkt also auf eine spezifische, gleichsam vorsprachliche Weise auf den Nutzer ein und bietet mehr oder weniger direkt ein Feld seiner habituellen Praxis. Tatsächlich hat die „gute Architektur“ Qualitäten dieser Art: Man denke an den Habitus eines Menschen, der einen Sakralraum betritt, der – ist er ein Mann, seine Kopfbedeckung abnehmen, ist dieser Mensch hingegen eine Frau, (in katholisch geprägten Ländern) das Haupt mit einem leichten, transparenten Schleier verhüllen wird – der seine Bewegungs- und Schrittfolgen verlangsamt, die Tonlage dämpft und derart seine Sensibilität für den räumlich anwesenden Gedanken des Heiligen zum Ausdruck bringt. Man muss nicht gläubig sein, um diese gleichsam ritualisierten Verhaltensmuster in unserem Kulturkreis geradezu „naturwüchsig“ zu reproduzieren. Allein durch die kulturellen Prägungen werden im Durchschreiten eines vollkommen ungeschmückten Kirchenraums (zum Beispiel bei den Zisterziensern) Verhaltensweisen wie beispielsweise Ehrfurcht gleichsam automatisch wach gerufen. Derartige Wirkungsweisen bilden bis heute das gestische Repertoire einer Rhetorik der Architektur, die dem „Gebrauchenden“ über die Funktion hinaus eine Wirkung offeriert, in der sich der Gedanke und die Intention der Raumproduzenten zeigt und übermittelt.6 Denn eben das ist ein Zeichen „guter Architektur“, dass ihr etwas über das Funktionale hinaus anhaftet, dem man sodann, nach Wittgenstein, mit der Geste „folgen möchte“ (nicht muss!); schließlich handelt es sich um eine freiwillig gewählte Nacherzählung der „guten“, der intentionalen Architektur im gestischen Habitus, nicht um einen behavouristischen Zwangscharakter. „Nicht jede zweckmäßige Bewegung des menschlichen Körpers ist eine Geste. So wenig, wie jedes zweckmäßige Gebäude Architektur.“7

III
Die Vorstellung vom intentionalen Raum hat die Idee des modernen Schöpfer-Architekten beflügelt, der, wie Le Corbusier, gerne den Blick des Betrachters auf die eigene zeichnende Hand fokussierte, um sich gleichsam mit dem Hinweis auf diese Art Urgeste der Architektur schon als leitender Gedankenproduzent des Raums zu präsentieren. Und tatsächlich werden in den ersten Skizzen der Architektinnen und Architekten, in ihrem (ver)zeichnenden Raumdenken erste, spontan hingeworfene Gedanken sichtbar, die sodann in der Suche nach den angemessenen räumlichen Ausdruckswerten durchgespielt werden. Was derart umkreist wird, ist die Suche nach „Pathosformeln“ (Aby Warburg) in der Architektur, nach eben jenen angemessenen räumlichen „Affektgebärden“ und „Stimmungswerten“, die uns, den Nutzer, zur Geste bringen sollen. Solche Gebärden der Räume können, das wusste Wittgenstein, wie die Sprache unterschiedlich sein: laut, leise, gewählt, proletenhaft, unverständlich, fein gefügt, weltläufig, oder dialektal. Dass Ludwig Wittgenstein mit dem Konzept für das Haus seiner Schwester nur eine der Möglichkeiten gewählt hat, wusste der Sprachphilosoph aus gutem jüdischen Hause: „…mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck großen Verständnisses (für eine Kultur). Aber das ursprüngliche Leben, welches sich austoben möchte – fehlt.“8

Diese Ausgabe von der architekt möchte demgemäß den unterschiedlichen Ebenen des Gestischen und der Vielfalt von Pathosformeln der „guten“ Architektur mit einer Geste des Dankes an die AutorInnen und RedakteurInnen dieses Heftes folgen.

Anmerkungen
1 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt / Main 1977, S. 49. Die Komplexität des Themas kann hier nur angerissen werden.
2 Hermine Wittgenstein: zit. nach: Bernhard Leitner: The Architecture of Ludwig Wittgenstein, London 1995, S. 28. „Zu meiner Schwester Gretl aber passte das Haus wie der Handschuh auf die Hand…Das Haus war einfach eine Erweiterung ihrer Persönlichkeit…“, S. 32.
3 Margaret Stonborough-Wittgenstein, zit. nach: Ursula Prokop: Margaret Stonborough-Wittgenstein. Bauherrin, Intellektuelle, Mäzenin, Wien/Köln/Weimar 2003, S. 169.
4 Paul Engelmann: Erinnerungen an Ludwig Wittgenstein, in: Ilse Somavilla (Hrsg.): Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, Innsbruck / Wien 2006, S. 128. (Hervorh. K.W.)
5 Wie Anm.: 1, S. 86. (Hervorh. K.W.)
6 Einst war sie mit der Säulentheorie des Vitruv verbunden, die seit dem späten 18. Jahrhundert in der Charakterenlehre der französischen Revolutionsarchitekten in der architecture parlante neue Zeichen-Setzungen erhielt. Siehe dazu: Wilhelm, Karin: Ordnungsmuster der Stadt. Camillo Sitte und der moderne Städtebaudiskurs, in: dies. / Detlef Jessen-Klingenberg: Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen (Bauwelt-Fundamente 132), Basel / Gütersloh, S. 52 ff.
7 Wie Anm.: 5.
8 Wie Anm.: 3, S. 170.

Prof. Dr. phil Karin Wilhelm MA studierte Kunstgeschichte, Soziologie, Philosophie in Hamburg, Heidelberg, München, Berlin und Marburg. 1981 wurde sie mit ihrer Dissertation (Walter Gropius – Industriearchitekt) bei Prof. Heinrich Klotz in Marburg promoviert. Nach verschiedenen Lehrtätigkeiten war sie von 1991 bis 2001 Ordinaria für Kunst- und Architekturgeschichte im Fachbereich Architektur an der Technischen Universität Graz und von 2001 bis 2012 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig. Karin Wilhelm konzipierte eine Vielzahl von Ausstellungen im In- und Ausland und ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift.

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