Karla Kowalski im Gespräch mit Andreas Denk

Beschwörungen des Diffusen

Zeichnung als Medium

Andreas Denk: Frau Kowalski, was macht den Unterschied zwischen Zeichnen und Entwerfen aus?
Karla Kowalski:
Ich zeichne außerhalb des architektonischen Entwerfens ansonsten auch sehr viel: Landschaften vor allem, Welträume. Da „entwerfe“ ich nichts, außer vielleicht den Interpretationsversuch, etwas zu verstehen und in eine Atmosphäre, eine Lebensatmosphäre zu bringen, die ich für wichtig halte. Entwerfen ist etwas anderes, ist präziser und gebundener. Das Verbindende ist, dass man über das Zeichnen ein innerlich gespeichertes Potential abrufen kann, über das man sich selber häufig gar keine Rechenschaft ablegt. Das ist es, was letztlich die Kraft des Zeichnens ausmacht: dass man Dinge erfindet, deren Charakter oder sogar deren Notwendigkeit man nicht genau kennt.

Im Nachhinein kann ich natürlich jede Zeichnung rechtfertigen, kann jeder von uns bei jeder Zeichnung sagen, warum sie in dieser oder jener Form entstanden ist. Aber das, was an Ungefährem und Diffusem wie in einem Gebrauchsladen im Kopf gespeichert ist, kommt nur beim Zeichnen – oder besonders beim Zeichnen – gut zum Vorschein. Es könnte sein, dass sich solche diffusen oder kaum eindeutigen Verhältnisse wie die des Stadtraums oder die einer Atmosphäre hervorragend mit dem Instrument der Zeichnung als unpräzise Beschwörung festhalten lassen.

Wie fangen Sie eine Zeichnung an? Ist es eine eigene Erfindung, die sich in der Vorstellung gebildet hat, oder sind es Anregungen der Natur und der Stadt?
Bei der Architekturzeichnung geht es uns – Michael Szyszkowitz und mir – immer darum, einen Ansatz für eine Lösung zu finden. Auch wenn das Problem sich oft erst durch Lösungsansätze überhaupt zu erkennen gibt. Eine Aufgabe, Sie wissen es, ist nie klar umrissen, weil jede Form eine Aussage trägt, die vorher nicht da war. So ist eine Lösung immer eine Interpretation, nie eine klare Antwort auf eine klare Frage.

Es geht zunächst nicht darum, präzise Angaben zu Teilaspekten eines Gebäudes zu machen. Die Beschäftigung mit der Funktion kann vielmehr auch darin bestehen, zum Beispiel eine Stimmung als soziale Antwort zu suchen, die ein Gebäude in einem Stadtteil bewirken soll. Solche Wirkungen muss man als notwendige Funktion verstanden haben – und deshalb fangen wir beide einen Entwurf damit an, über dieses Thema zu zeichnen – dann schaut man auf seine Zeichnung und vollzieht, wie das Gezeichnete als Gebautes wirken wird. Wir können anhand der Striche die Wirkung kontrollieren: man merkt, wenn etwas zu fade, zu steif, zu trocken ist, wenn man eine Ecke verstärken oder abfangen muss, oder plötzlich der Raum zusammenfällt. Wir probieren also zeichnerisch die Wirkung eines Bauwerks aus und merken bei diesen sich selbst vorgeschlagenen Lösungen, was richtig und falsch ist – oder aber, dass man das Problem noch gar nicht richtig erfasst hat, weil alles so irgendwie, aber noch nicht deutlich wirkt.

Karla Kowalski, Haus in Bad Mergentheim, 1992 – 1993

Karla Kowalski, Haus in Bad Mergentheim, 1992 – 1993

Also ist Ihr Umgang mit der Zeichnung ähnlich wie die Arbeit mit einem Arbeitsmodell, bei dem man durch ständiges Wegnehmen, Verändern und Hinzufügen allmählich Sicherheit zur richtigen Verteilung von Strukturen, Massen, Körpern und Höhen bekommt.
Die Arbeit mit dem Modell erscheint mir direkter und konkreter, besonders wenn man etwas für Andere verständlich machen will, mit der Zeichnung ist man freier, weil man weniger vorher wissen muss. Man kann mit der Zeichnung sein bewusstes oder unbewusstes Potential – diesen diffusen Notwendigkeitsbrei, das Wissen oder Ahnen, was notwendig ist oder sein könnte – gut verwerten. Mir kommt es vor, dass das Zeichnen noch „suchender“ ist, und man auf einem einzigen Blatt alle bisherigen Stadien des Denkvorgangs erkennt. Ich korrigiere mich: mit Modellen (wenn sie nicht der Präsentation dienen) kann man ähnlich gut räumliche Wirkungen suggerieren und abtasten, beides, natürlich, sind Instrumente des Suchens.

Können Sie diese Art zu arbeiten in Verbindung mit dem setzen, was Sie als freie Zeichnung machen?
Die sogenannte freie Arbeit ist für mich geistige Erholung, weil ich mit der Welt eine relative Einheit bilde – nicht mit der Problemwelt von gestern, heute und morgen, sondern mit „des Himmels freier Natur“. Darüber freue ich mich ganz immens. Diese endlose Zeit, die man hat, man sitzt und guckt nur, man sieht den Wald, die Wiesen, die Felder und den Himmel, wie er sich bewegt. Dann denke ich, dass sie schon schön ist, diese Welt: Wenn ich tot bin, werde ich mich erinnern.

Wie bestimmen Sie die Motive in Ihrer freien Arbeit, wenn es also nicht um Problemlösungen geht?
So schön es ist das Sitzen, Schauen, Warten und Zeichnen, ist es doch auch Anstrengung, Konzentration auf etwas, was außer mir liegt – wie wunderbar!

Ich male etwas hin und denke: Die Natur ist besser. Man kann also nicht abmalen. Wie bei jedem Bild seit Jahrhunderten und Jahrtausenden male ich nicht das, was da ist. Ich nehme eine Auswahl und eine Interpretation vor, will etwas Bestimmtes mit der Zeichnung finden, von dem sich der Atem mitgeteilt hat.

Karla Kowalski, Haus in Bad Mergentheim, 1992 – 1993

Karla Kowalski, Haus in Bad Mergentheim, 1992 – 1993

Fangen Sie die Architekturzeichnung auch so an, indem sie von einer gegebenen Situation, von einem Ort und seinen Gegebenheiten ausgehen und dann eine neue Komposition erproben? Oder ist die Beharrungskraft des Faktischen bei der Architektur zu groß?
Man sucht in der Architektur immer nach dem Richtigen, nach dem, was fehlt, was besser ist. Ich weiß vorher gelegentlich nicht, was es ist. Wir gehen von dem aus, was ist. Natürlich. Aber dann kommt das, was Zukunft bedeutet.

Unterscheidet sich die Art und Weise, wie Sie zeichnen, darin, in welchem Sujet Sie arbeiten?
Für die Architektur habe ich einen Haufen Buntstifte und arbeite, ohne nachzudenken, welche Farbe ich verwende. In der Landschaft ist das anders. Früher habe ich kalte Nadeln hergestellt – das Verfahren ist aber ziemlich kompliziert und zu wackelig für die freie Landschaft. Jetzt nehme ich feine Federn und japanisches Tiefdruckpapier. Das Zeichnen mit Federn ist für Architekten viel leichter, weil man einen ähnlichen Umgang mit Zeichenwerkzeug gewohnt ist (oder war).

Die Geste des Zeichners wirkt unmittelbar auf die Zeichnung ein. Ist der Gestus, mit dem Sie die Feder führen, der gleiche wie bei der Arbeit mit den Architektur-Buntstiften?
Das habe ich mir noch nicht überlegt und verstehe die Frage vielleicht nicht genau. Ich glaube, das Unterwegssein bestimmt die Art, wie man zeichnet. Unterwegs kann man nur kleine Blätter mitnehmen, und so entstehen jedenfalls eher kleine Zeichnungen.

Karla Kowalski, Altern Nebel, Gardon, Cevennen

Karla Kowalski, Altern Nebel, Gardon, Cevennen

Wird Ihr Zeichnen von einer Gestik getragen, die sich in den Landschaftsbildern und vielleicht auch in der Architektur wiederfindet?
Falls Sie die persönlichkeitsgebundene Art in der Bewegung jedes einzelnen Menschen meinen, braucht man vielleicht nicht darüber nachdenken, weil man das nicht ändern kann. Die Bewegtheit, die einem Menschen innewohnt, sieht er in der Landschaft und stellt er in jeder Architektur her. Jeder Strich macht einen Ausdruck. Wenn ich Landschaften zeichne, schaue ich irgendwann nicht mehr hin, wie alles wohl sei. Dann wird es nur wichtig, dass die Zeichnung schön wird und die richtige Raumbewegung zeigt. Bei der Architektur aber achten wir nicht darauf, ob die Zeichnung als Zeichnung schön wird. Das sind Produkte, die durch das Stift-Nachdenken von alleine entstehen.

Inwieweit drückt das Medium der Zeichnung, wie Sie sie machen und was Sie zeichnen, Ihr inneres Leben aus? Was sagen Ihre Zeichnungen über Sie selbst aus?
Auch hier antworte ich nicht genau auf Ihre Frage, aber über die Unausweichlichkeit von Interpretationen möchte ich etwas sagen. Es gibt einige Menschen, die sagen, dass man nichts auszudrücken brauche, sondern die Dinge nehmen soll, „wie sie sind“. Ich glaube nicht, dass es Umstände gibt, die „so“, auf eine Art „sind“. Es geht immer um Interpretationen. Jeder Strich, den man setzt, bedeutet in der Architektur einen Fassungsversuch, eine Eingrenzung. Insofern teilt man immer etwas mit, nämlich was man zu sehen in der Lage war, man liefert also Expressionen. Wenn man es sich versagt, mit einem Raumvolumen in einer Stadt etwas ausdrücken zu wollen, also dem Phantom irgendeiner Neutralität nachjagt, macht man etwas falsch, denn selbst das Bemühen um völlige und ausdrucksverminderte Neutralität beinhaltet eine Aussage, nämlich eine Art von „ich will nicht“. Man kann nicht anders als sich auszudrücken. Die Expression ist eine zwangsläufige Folge jeder Aktion.

Das Maß und die Weise der Expression hängen von inneren Zuständen ab. Können Sie an sich selbst beobachten, in welchen Situationen Sie angenehm berührt, gelangweilt, gereizt oder aggressiv mit Zeichnungen auf Situationen reagieren?
Wahrscheinlich könnte ich das, wenn ich darauf achtete.

Karla Kowalski, Der Teich eines Eisvogels

Karla Kowalski, Der Teich eines Eisvogels

Hängt das Maß eines architektonischen Eingriffs von solchen inneren Gestimmtheiten ab?
Ich habe wohl ein Gefühl entwickelt, das meine Erfahrungen bis heute zusammenfasst. Aus diesem Gefühl weiß ich vielleicht, was richtig oder stimmig sein kann. Dann probiere ich aus, wie weit ich damit komme. Die Suche nach Stimmigkeit oder nach Angemessenheit kann aber auch auf die Nerven gehen. Wenn man immer nur stimmige und angemessene Sachen macht, ist das furchtbar. Dann denke ich: Jetzt ist Schluss, jetzt probiere ich etwas ganz Wüstes. Wenn ich dann auf ein Blatt mit so einer wüsten Idee schaue und mir die Wirkung vorstelle, wenn ich dort entlangliefe, denke ich zum Beispiel: Ganz schön, oder: zu kräftig, oder: noch nicht kräftig genug. Und so probiere ich verschiedene Wirkungen aus. Dann wirkt die Zeichnung wie ein Korrektiv der eigenen Emotion. An diesem Level der Beurteilungsfähigkeit arbeitet man sein ganzes Leben lang.

Ludwig Wittgenstein hat in einem Aphorismus geschrieben, dass gute Architektur wie ein Gedanke sei. Beide könne man daran erkennen, dass man ihnen mit einer Geste folgen möchte. Das müsste auch für den Ausdrucksgehalt einer Zeichnung als Mittler zwischen Idee und Bau gelten. Können Sie Wittgensteins Gedanken folgen?
Es könnte sein, dass Wittgenstein an Regeln interessiert war, die man verstehen sollte. Es könnte sein, dass er hier eine solche Regel vermutet hat. Ich jedenfalls habe es aufgegeben, Architektur zu klassifizieren. „Vor hundert Jahren“ haben wir auch dem Wort von der „guten Architektur“ Raum gegeben. Egal, wie etwas war: Hauptsache, es war „gut“. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass sich vieles von dem, was wir damals für „gut“ hielten, inzwischen in der Beurteilung gewandelt hat. Ich weiß letztlich nicht, was „gut“ ist. Und doch bilde ich mir oft ein, genau das zu wissen, jedenfalls reicht die Gewissheit aus, um zu handeln und sich an Bauten zu freuen.

Aber ich bin mir auch nicht sicher, dass ich genau verstehe, was Wittgenstein meint, und ob er Recht hat.

Wenn man Menschen beobachtet, die zum ersten Mal einen besonderen Raum – eine Höhle, einen Platz, eine Kathedrale, einen Konzertsaal – betreten, kann man beobachten, dass sie eine spezifische Körperhaltung annehmen und manchmal sogar eine nachvollziehende Geste machen, die die Raumerstreckung in die Tiefe, die Weite oder die Höhe nachahmt. Es könnte sein, dass es Wittgenstein um eine Klarheit des Ausdrucks geht, um eine Aussage, die so eindeutig wie ein einzelner Gedanke ist, dass sie sich jedem gleich vermittelt und eine entsprechende Reaktion provoziert…
Was die Kathedralen betrifft: ja, ein Raum wird zum visuellen Ausdruck eines inneren Empfindens. Ich glaube, Architektur muss dieses Atmen eines Raumes haben. Wenn man in ihn hineintritt, atmet man genauso.

Karla Kowalski, Pavo-real, Graz 2008

Karla Kowalski, Pavo-real, Graz 2008

Aber um diese Öffnung zu erleben, die das Atmen erlaubt, muss es auch das Gegenteil geben…
…manchmal will man auch eine Beengung erleben. Man muss wissen, was man braucht und wann eine Ausdruckslücke, also eine Erlebenslücke besteht.

Entscheidet sich diese Wirkung durch die formalen Eigenschaften der Architektur oder durch die bloße Gestalt des Raumes?
Das kann ich nicht trennen. Für uns gibt es keine Gestalt des Raumes ohne Eigenschaft der Architektur. Um noch einmal auf Ihren Kathedral-Gedanken zurück zu kommen: Ein schönes Beispiel ist die Kirche von Gottfried Böhm in Neviges. Es ist lange her, dass ich dort war, und ich erinnere mich immer noch. Der Raum, die Form, die Funktionen sind identisch. Jede Form stellt mit dem Ausdruck, den sie hat, eine Funktion dar. Jede Form ist eine Funktion, weil sie etwas ausdrückt und etwas hervorruft. Der Raum der Kathedrale ist gleichzeitig ihre Funktion: Sie drückt das Bedürfnis des Menschen nach seelischer, gedanklicher Luft aus. Lange sind immer nur die einfachen Funktionen diskutiert worden – die Anordnung, Größe und Verwendung von Räumen bekannten Zuschnitts. Die schwierigen Funktionen – die Atmosphäre, die Raumwirkung, die impressive Haltung des Grundgedankens der Architektur – sind eigentlich viel interessanter. An sie kommt man mit dem Studium der Wirkung – in unserem Falle mit dem Medium der Zeichnung – am ehesten heran. Und man findet neue Wirkungsfunktionen beim Zeichnen.

Welche Wirkung wollen Sie mit der Architektur erzielen?
Der Eindruck der expressiven Architektur, das heißt der angemessen ausdrückenden, die wir in unseren Zeichnungen suchen, frisst sich in das Leben der Menschen am ehesten ein und hinterlässt in deren Erinnerung besetzte Stellen und keine Hohlstellen. Wenn man nach seinem Tode an das Leben zurückdächte, fände sich dort ein Batzen von lebensproduzierenden und ausdrucksgeladenen Situationen. Denn alles, was man in seinem Leben erlebt hat, ist immer mit Orten, mit Städten, mit Gebäuden, Landschaften, mit Atmosphären, kurz: Welttopografien und deren Ausdrucksfähigkeit verknüpft.

Karla Kowalski, Gewitter über Morcote

Karla Kowalski, Gewitter über Morcote

Wenn man darüber nachdenkt, woraus sich Erinnerung zusammensetzt, so sind es immer singuläre Situationen, nicht ein mainstream von Eindrücken, an die wir uns erinnern…
Ja, es sind singuläre Eindrücke, die man speichert. Ich kenne das gut. Es macht ein Leben voll von Erinnerung. Um den Anschluss an die Zukunft zu bekommen, ist eine volle Vergangenheit ein guter Ansatzpunkt. Das, was nicht da war und was kommen kann, und zu kommen notwendig ist. In diesem Sinne wäre das Neue, Unverbrauchte das Ziel.

Glauben Sie, dass Gesten – auch in der Architektur – pathetisch sein dürfen, um dieses Ziel der Einzigartigkeit und Erinnerbarkeit zu erreichen?
Wenn wir den Begriff von seiner negativen Konnotation befreien, sondern als gewählte Ausdrucksform: dann ja. Versailles oder die Grands Projets in Paris wirken heute – nachdem ihr ideologisch mitunter belastender Hintergrund entfallen ist – als großatmige Volumen in der Stadt. In engen Umgebungen, in denen man nach Atem ringt, kann eine große Geste geradezu ein Geschenk sein. Die genannten theatralischen Erscheinungen, so übertrieben selbstsüchtig sie manchmal erscheinen, können einer Stadt einen großen Zusammenhang geben – und jedem, der dort wohnt, vermitteln sie diesen Zusammenhang.

Große Gesten können auch das Gefühl von Erhabenheit und von Größe geben.
Klar! Große Plätze, große Freiheiten, große Höhen, große Kathedralen, große Landschaften sind herrlich – das ist ein Quantum, das wir zum Menschsein auch brauchen.

Kann man sich einer machtvollen Gestik überhaupt enthalten oder ist sie die Konsequenz der Architektur?
Alles ist eine Macht. Selbst, wenn man etwas Nichtssagendes sagt, ist das ein Machtanspruch, mit dem man jemanden zwingt, zuzuhören. Es geht wohl nicht anders. Damit leben wir. Wir glauben in dieser heutigen Zeit allerdings, dass ein gewisser Ausgleich der Machtverteilung nicht schlecht wäre. Dieser Mensch und jener Mensch, das sogenannte „Du“ und das sogenannte „Ich“ sollen im Gleichmaß leben, bei dem jeder eine Stimme hat. Ein Phantom, ich weiß, aber an sich müsste das Phantom eine architektonische Konsequenz haben. Schwierig: welche denn, wenn das Phantom nicht einmal bekannt ist? Jedenfalls glaube ich, dass alles Gestik ist, nicht nur gestenreiche Architektur.

Sie setzen mit Ihrer Architektur mitunter große Zeichen.
Es sind – verglichen mit der handverlesenen Weltarchitektur – weniger große, sondern eher bezugnehmende Zeichen. Es geht dabei um eine Interpretation, wie wir Zusammenhänge sehen möchten, wie wir mit Menschen zusammenleben möchten. Wir setzen Zeichen, um Menschen förderliche Angebote zu geben, weil wir unsere Bauten als Beitrag zum Gesamtgespinst der Stadtgestalt verstehen möchten. Und dazu gehört auch ein Ausdruck, den diese Häuser haben müssen. Man kann mit Architektur eine gewisse Zuneigung zu Menschen ausdrücken, indem man ihnen Möglichkeiten gibt, sich auf eine bestimmte, ihre Seele fördernde Weise zu fühlen oder zu bewegen oder sich aufzuhalten.

Karla Kowalski, Schloss in Devon

Karla Kowalski, Schloss in Devon

Darf man Räume soweit kodieren, dass bestimmte Verhaltensweisen nahegelegt oder nötig, ja sogar erzwungen werden?
Anders fände ich es besser: Wenn man ein Angebot macht, das so leicht und so abstrakt ist, so dass sich das Gegenüber auch ganz anders entscheiden kann – und das Angebot trotzdem dem Gebäude einen Sinn und vor allem Charakter gibt. Das ist gültiger, zukunftsfähiger und menschenfreundlicher als eine strenge Kodierung. Man traut den Menschen mehr zu. Welch schönes Ereignis, wenn die Menschen wirklich etwas mit einem solchen Angebot anfangen können! Letztlich aber, da gebe ich Ihnen recht, baut man auf dem Bekanntheitsgrad einer Form auf, und muss nun verhindern, dass diese Form keine Blockade der Zukunft bedeutet, sondern genügend Unbekanntes, Neues, Unerwartetes, Abstraktes hat.

Wie wichtig ist es, dass man diesen Ausdruck unmittelbar erkennen kann?
Viele sind relativ blind, was Architektur anbelangt. Am besten sieht man die Wirkung von Architektur bei Kindern oder bei jungen Menschen. Wenn sie sich Räume sofort und unmittelbar aneignen, wissen wir, dass wir etwas richtig gemacht haben. Andere Menschen entwickeln im Laufe der Zeit ein Gefühl für solche Sachverhalte, wenn ein Angebot besteht und seine Wirkung entfaltet. Das ist ein Teil unserer Kunst.

Vielleicht ist es das, was der Kern des Satzes von Wittgenstein ist: Die Architektur macht ein Angebot, das wir verstehen und annehmen können. Sie offeriert etwas, legt etwas nahe, das Menschen erkennen und nutzen können. Sie können gewissermaßen eine ausgestreckte Hand annehmen.
So könnte ich es auch gut verstehen.

In diesem Moment wäre die Idee der Architektur ihre Zugewandtheit zum Menschen, die er erkennen kann und in diesem Sinne für eine eigene Handlung aufgreift.
Jedes Stück Mauer reicht, um als Angebot verstanden werden zu können.

Prof. em. Dipl.-Ing. Karla Kowalski (*1941), Architektin BDA, studierte Architektur an der TH Darmstadt und der AA in London. Nach Mitarbeit bei Behnisch & Partner in München gründete sie mit Michael Szyszkowitz 1978 das gemeinsame Büro Szyszkowitz-Kowalski in Graz. Karla Kowalski wurde 1988 als Direktorin des Instituts für Öffentliche Bauten und Entwerfen an die Universität Stuttgart berufen. Diese Professur hatte sie bis 2003 inne.

Prof. i.V. Andreas Denk (*1959) studierte Kunstgeschichte, Städtebau, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Vor- und Frühgeschichte in Bochum, Freiburg i. Brsg. und in Bonn. Er ist Architekturhistoriker und Chefredakteur dieser Zeitschrift und lehrt Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln. Er lebt und arbeitet in Bonn und Berlin.

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