spaziergänge mit heiner farwick

Unterhalb des Klosters

Wir sind in idyllischer Umgebung am Hang des Michaelsberges in Siegburg, auf dem die geschichtsträchtige mittelalterliche Abtei thront. Jedoch nicht das Bauen im Bestand ist heute das Thema von Heiner Farwick, dem Präsidenten des BDA, und Andreas Denk, dem Chefredakteur dieser Zeitschrift, sondern vielmehr dessen Erhalt: Es geht um die abrissgefährdete Architektur der 1960er und 1970er Jahre, die immer stärker in den Fokus von Kunsthistorikern, Denkmalpflegern und Architektur-Nerds rückt.

Andreas Denk: Die Architektur der 1960er und 1970er Jahre erlebt gerade einen kaum fasslichen Boom. Was da an Rettungsversuchen für die gefährdete Spezies unternommen wird, ist unüberschaubar. Konferenzen und Panels, Ausstellungen und Aktionen: Die Begeisterung für die abrissbedrohten „Betonmonster“, wie das Frankfurter DAM unlängst eine Ausstellung betitelte, überschlägt sich fast. Dabei fällt auf, dass oftmals allgemein von „Nachkriegsmoderne“ oder von „Brutalismus“ die Rede ist, selten aber trennscharf zwischen den sehr unterschiedlichen, manchmal fast gegensätzlichen architektonischen Tendenzen in der Architektur der Jahrzehnte nach dem Weltkrieg unterschieden wird. Worüber reden wir eigentlich?

Heiner Farwick: In den 1960er Jahren kam eine neue Architektengeneration an die Arbeit, die nicht mehr in der Nazizeit ausgebildet worden war. Sie wandte sich bewusst gegen jene Kollegen, die für die Kontinuität mit dem „Dritten Reich“ standen. Die Aufarbeitung der persönlichen und formalen „Verflechtungen“, wie Werner Durth das wesentliche Buch darüber genannt hat, gehört in den allgemeinen politischen Rahmen der Zeit…

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: …die Zeit der Studentenunruhen 1967 und 1968 verlief in der Architektur nicht ganz so stürmisch, aber ebenfalls folgenreich. Jane Jacobs Buch über „Tod und Leben amerikanischer Städte“, Wolf Jobst Siedlers „Die gemordete Stadt“, Hans-Paul Bahrdts soziologischen Überlegungen zur „modernen Großstadt“ und Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit der Städte“ wurden zu Standardlektüren und bewirkten mittelfristig ein Umdenken bei der Bewertung der Stadt und der Architektur des 19. Jahrhunderts, die man zunächst noch durch „Kahlschlagsanierungen“ dem Erdboden gleichmachte. Und die Soziologie bekommt überragende Bedeutung für die Ausbildung der Architekten: Die Auffassung von Architektur als materiellem, konstruktivem und ästhetischem Problem wurde zeitweise abgelöst durch gesellschaftlich-soziale, sozio-logische und ökonomische Fragen, die zu Parametern des Entwerfens wurden. In der Architekturausbildung wurde weniger entworfen als geschrieben. Architektur wurde ein Produkt, das zu einer gesellschaftsgerechten „Umweltgestaltung“ führen sollte. In der intellektuellen Diskussion wurden gesellschaftliche Prozesse zur wertvollsten Größe, und auch die Architektur stand vordergründig im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts: Das hatte auch auf Baugestalt und Ästhetik erhebliche Auswirkungen…

Heiner Farwick: …bei vielen großen Bauten der Zeit – besonders bei Schulen, Kindergärten und Hochschulen, aber auch beim Wohnungsbau – bemerkt man das Interesse an der Industrialisierung im Bauen, an der Verwendung von Betonfertigteilen in größeren Serien und der Entwicklung von Typenbauten. Die Normung von Bauteilen, die DIN 18000, die konsequente Rasterung von Gebäuden wurden eingeführt, um vorgefertigte Teile einsetzen zu können. Dahinter blieb die Entwicklung von Bauten aus ihrer landschaftlichen oder städtischen Umgebung zurück.

Andreas Denk: Hintergrund ist eine Gesellschaftsutopie, die sich in Willy Brandts Wahlkampflosung „Mehr Demokratie wagen“ sehr gut ausgedrückt hat. Man glaubte damals tatsächlich, dass nach der Überwindung des Nationalsozialismus ein auskömmliches Leben mit großen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Menschen möglich wäre. Architektur und Stadtgestaltung sollten den Rahmen dafür bilden, wie man noch heute auf dem Olympiagelände in München erahnen kann.

Heiner Farwick: Die Zukunftsgläubigkeit hat sich schon in den 1960er Jahren mit Bauten ausgedrückt, die sich an Gestaltungsformen aus der Raumfahrt oder an Science Fiction Filmen orientieren. Die Zeit durchweht ein ungebrochener Optimismus: „Uns geht es wieder gut – und es wird uns in Zukunft noch besser gehen“! In den 1970ern kippt diese Euphorie, was sich auch im Erscheinungsbild der Architektur ausdrückt: Es entstand eine Vielzahl von Bauten, die weder ihr historisches Umfeld reflektierten noch den bewusst von der Tradition sich abwendenden Zukunftsoptimismus in sich trugen. Viele dieser Gebäude „von der Stange“ haben zu einer Uniformität unserer Städte geführt…

Andreas Denk: …diese gesellschaftstheoretisch nachvollziehbare Entwicklung wurde dann von der Bauindustrie geentert, die plötzlich die „schnelle Mark“ und „Betongold“ sah und jenseits aller gesellschaftspolitischen Bemühungen und ästhetischer Absichten nur schnellstmöglich verdienen wollte.

Heiner Farwick: Parallel dazu kam es zu einer immer größeren Entmischung der Funktionen in der Stadt. Reine Wohnstandorte führten ein autistisches Leben als „Schlafstädte“. Nicht wenige bekamen fast unverzüglich soziale Probleme. Diese Veränderung ins Banale hat schließlich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zum Phänomen der Postmoderne als Kritik an dem damaligen Zustand der Städte und ihrer Bauten geführt. Dennoch: Eine ganze Reihe von Einzelbauwerken, die oftmals als Solitäre konzipiert wurden, haben eine hohe architektonische Qualität. Diese besonderen Eigenschaften werden durch das bis heute gewandelte ästhetische Empfinden oft nicht mehr wertgeschätzt. Viele sind mit einem räumlichen Luxus entstanden, den wir uns beim heutigen Kostendiktat oft zurückwünschen. Deshalb lohnt es sich, solche Gebäude noch einmal sehr genau anzuschauen, welche formalen und räumlichen Qualitäten sie haben. Wir sollten nicht, wie es immer noch zu oft geschieht, ganze Dekaden architektonischer Produktion mit dem Label „kann weg“ auszeichnen.

Andreas Denk: Der Denkmalpflege fällt es schwer, zu unterscheiden, was aus diesen Jahren erhaltenswert ist. Immer noch sind es meist kunsthistorisch gesicherte Architekten, deren Werke geschützt werden, oder spektakuläre Bauten. Können Sie Kriterien erkennen, die sich nicht nur zur Bestimmung der Baudenkmäler dieser Zeit, sondern auch zur Vermittlung der Architektur der 1960er und 1970er Jahre in der Öffentlichkeit eignen?

Heiner Farwick: Wenn wir Bauten dauerhaft als Kulturdenkmäler erhalten wollen, müssen wir sie verstehen. Das gilt für Gebäude jeglicher Epochen. Wir leben in einer Zeit, in der wir das Historische per se schön finden. Aber dennoch bedürfen Gebäude einer zurückliegenden Zeit auch immer der Erklärung. Wenn man ihren inneren Wert nicht versteht, also das, was sie ikonographisch ausmacht, aus welchen konzeptuellen Ansätzen sie entstanden sind und welche räumlichen und konstruktiven Qualitäten sie haben, werden sie lediglich zu Folien für Selfies. Wahrscheinlich werden auch gotische Kathedralen von ihren Besuchern nicht richtig verstanden. Das ist bei Bauten der Nachkriegsmoderne natürlich noch extremer. Insofern ist es eine Aufgabe der Denkmalpflege, aber auch von Architekten, solche Gebäude immer wieder zu erklären.

Andreas Denk: Aus dieser Erkenntnis heraus müsste die Denkmalpflege einen Teil ihrer Tätigkeit in die Entwicklung didaktischer Programme und Erklärungsstrategien investieren, um ihre Klientel, die Bürger, über die besonderen Eigenheiten und Eigenschaften auch moderner Gebäude zu informieren. Es geht vielleicht nicht mehr nur um das Inventarisieren, Bewerten und Erhalten, sondern auch um das Erklären von Denkmälern, um das Vermitteln ihrer Qualitäten. Wie lässt sich ein solcher programmatischer Wandel anstoßen?

Heiner Farwick: Vielleicht können wir mit unserem Gespräch anregen, dass sich auf diesem Gebiet mehr tut. Es sind nicht zuletzt öffentliche Gebäude, die zu ihrer Erbauungszeit einen spezifischen Gedanken ausdrücken sollten, im Laufe der Jahre oft technisch überholt und durch mangelnde Pflege nicht mehr in einem würdigen Zustand. Die Kommunen müssen erkennen und ihren Bürgern erklären, warum Rathäuser, Schulen, Schwimmbäder, Sport- und Grünanlagen erhaltenswert sind, und welche Bedeutung sie für das Selbstverständnis und die Tradition ihres Ortes haben.

Andreas Denk: Andreas Hild hat vor einiger Zeit das Problem der Erhaltung der Gebäude der Spätmoderne als Überflussproblem beschrieben, weil es derzeit noch sehr viele Bauten dieser Zeit gibt. Nach welchen Kriterien sollen wir auswählen, was erhaltenswert ist?

Heiner Farwick: Die 1960er und 1970er Jahre waren die Zeit eines umfangreichen Bauschaffens. Wir können versuchen, zu bestimmen, welche Gebäude Qualitäten haben, die es wert sind, über die Zeit hinaus erhalten zu bleiben. Wir müssen mit dem, was wir vorfinden, respektvoll umgehen. Dazu gehört ein Verständnis davon, was die Architekten und Bauherren ursprünglich mit dem Gebäude wollten, wie es gemeint war und was es heute noch bedeuten kann. Dann müssen wir unterscheiden, ob wir ein Gebäude denkmalgerecht erhalten müssen, weil es einen besonderen Zeugniswert hat, oder ob es erlaubt ist, Baulichkeiten weiterzubauen, ohne ihnen ihre Geschichtlichkeit zu nehmen. Wir müssen vorbehaltlos entscheiden, was unverändert erhalten bleiben soll und was durch Umbau, Ergänzung und zeitgenössische Erneuerung in ein zweites Leben überführt werden kann. Wir werden in den nächsten Jahren, schon angesichts der immensen grauen Energie, die in diesen Gebäuden enthalten ist, mit ihnen viel sorgfältiger umgehen als bisher.

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