tatort

Ein neues Eiland

Wieder einmal ist es soweit: Wir suchen ein Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Lösungsvorschläge können per E-Mail an die Redaktion gesandt werden. Unter den richtigen Einsendungen verlosen wir ein Buch. Einsendeschluss ist der 16. Juli 2021.

Der gesuchte „tatort“ liegt in einer Stadt im westlichen Teil des Landes, die als Standort einer überregional bedeutenden Textilproduktion früher große, allmählich verblassende Bedeutung hatte. Zwischen der im Krieg stark zerstörten Altstadt und den westlich gelegenen Stadtteilen sollte ein Bauwerk vermitteln, das sowohl politische, Verwaltungs- und kulturelle Zwecke erfüllen sollte. Der Architekt löste die Aufgabe, indem er das Bauwerk auf einer neu angelegten, langgezogenen Insel inmitten des Flusslaufs positionierte, der die Stadtteile trennt. Sechs Brücken verbinden das neue Eiland beidseitig mit den Ufern. Das Gebäude zeigt seine unterschiedlichen Funktionen schon durch Material und Konstruktion: Der Verwaltungstrakt ist als fast vollständig durchfensterte, hellgrün gefasste Stahlskelettkonstruktion gebildet, die auf einer ziegelverkleideten Sockelzone ruht. Beidseitig stehen die äußeren Stützen der Konstruktion vor der Fassade im Wasser. Die Geschosse werden durch Umgänge und brise soleil akzentuiert. Im Süden entwickeln sich aus dem Sockel die ebenfalls in Backstein ausgeführten Bauteile, die kulturellen Zwecken dienen. Zum Norden schließen teils ziegelverkleidete, teils betonbelassene Flachbauten mit Treppenaufgängen und ein Rundturm die Spange zu beiden Seiten des Verwaltungsbaus. Die sichtbar durch Gänge und Räume geführten Rohre und Leitungen der Haustechnik prägen das Innere des Baus. Ursprünglich in kräftigen, kontrastierenden Farben gefasst, zeigt diese Installationsarchitektur deutliche Anklänge an das Centre Pompidou in Paris oder das Klinikum in Aachen.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Im Zentrum der Anlage liegt die zweigeschossige Bürgerhalle als Symbol des demokratischen Aufbruchs der Entstehungsjahre des Baus. Symbolisch für die beabsichtigte Bürgernähe und Volkstümlichkeit ist auch die teils illusionistische, teils figurative Ausmalung des kulturellen Zwecken vorbehaltenen Saals zu verstehen, den zwei Söhne des Architekten gestaltet haben. Das politische Zentrum der Stadt, das auf der Westseite des Baus liegt, hat der Architekt als wellblechverkleideten Erker gestaltet, der das gleiche Architektur­element des historischen Rathauses der Stadt paraphrasiert. Auf die Erkerwand aufgelegt ist eine farbig gestaltete Chronik der Stadt, die die offensichtlich ikonographisch-identifikatorischen Absichten des Architekten unterstreicht. Die Bemühungen um eine Identifikation der Bürger mit „ihrem“ Haus ist nur bedingt gelungen: Inzwischen ist das öffentliche Gebäude nicht mehr auf bestem Stand. Zwar haben die Jahre der robusten Struktur offenbar wenig anhaben können. Dennoch hat man in der Stadt seit mehreren Jahren Für und Wider einer grundlegenden Sanierung des Gebäudes diskutiert. Von einigen Gruppen wurde zwischenzeitlich sogar ein Abriss des denkmalgeschützten Baus ins Spiel gebracht. Inzwischen jedoch scheint es sicher, dass das Gebäude zumindest energetisch saniert werden soll, was eine Verminderung des CO2-Ausstoßes um 80 Prozent zur Folge hätte. Zudem soll das Haus nach Plänen eines weiteren Sohns des kürzlich in stolzem Alter verstorbenen Architekten eine Aufstockung bekommen, die kulturellen Zwecken dienen soll. Ob sich die markante Gestaltung der Innenräume halten lassen wird, ist bisher unklar. Das aber wäre äußerst wünschenswert. Um welches Gebäude handelt es sich, wo steht es, wann ist es entstanden und wer hat es entworfen?

Der „tatort“ der Ausgabe 2 / 21 war der „Bowlingtreff“ unter dem Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig, den der 2021 verstorbene Winfried Sziegoleit 1985 – 1987 entwickelte. Gewinner des Buchpreises ist Franco Bertossi aus Düsseldorf.

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