neu im club

Unfertige Häuser

Florian Kaiser und Guobin Shen, Architekten BDA, Atelier Kaiser Shen, Stuttgart

Als Guobin Shen und Florian Kaiser sich in der zweiten Woche ihres ersten Semes­ters an der Universität Stuttgart bei einem Kneipenabend kennenlernten, dachten sie erstens noch nicht an eine gemeinsame Bürogründung – und zweitens hätten die Zeichen dafür auch schlecht gestanden. Denn Shen war als Austauschstudent aus Shanghai nach Stuttgart gekommen, um die Welt kennenzulernen und danach wieder zurückzukehren. Und Kaiser, aufgewachsen in der oberschwäbischen Provinz, schielte auf eine Zukunft im Ausland.

Inzwischen arbeiten sie – viele gemeinsame Projekte während des Studiums eingerechnet – schon im 15. Jahr zusammen und sind mit ihrem 2017 gegründeten Atelier Kaiser Shen aufgrund des wachsenden Teams gerade in neue Räumlichkeiten gezogen. Ihr aktuellstes Projekt ist die Sanierung der Mehrzweckhalle Ingerkingen nahe Biberach, die sie in Holzbauweise erweitern, aufstocken und dabei einen möglichst gro­ßen Teil des Bestands integrieren. Dass sich all ihre bisherigen Projekte im süddeutschen Raum befinden, hat den beiden Büropartnern nicht den weltoffenen Blick verstellt. Vielmehr haben sie die interkulturelle Kommunikation als Kern ihrer Arbeit kultiviert: „Wir sind oft unterschiedlicher Meinung und diskutieren laut und intensiv, aber genau dadurch entstehen bereichernde Kontraste.“

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Schon ihr erstes gebautes Projekt, das Mikrohofhaus in Ludwigsburg, ist ein Beispiel für diesen Ansatz. Florian Kaiser fasst zusammen: „Es ist ein schwäbisches Haus, weil es so klein ist – mit einem chinesischen Hof, der besonders in Peking ganz typisch ist.“ Der Entwurf stammt aus dem ersten Jahr ihrer Selbständigkeit. Shen und Kaiser erinnern sich, wie sie „blauäugig und fast naiv“ ohne Aussicht auf einen Auftrag einen Raum gemietet und an offenen Wettbewerben teilgenommen haben. Ihr Mut wurde belohnt mit zwei ersten Preisen: bei Europan 14 „Die produktive Stadt“ für ihren Entwurf zur Sanierung eines Wohnhochhauses in Aschaffenburg sowie beim Wettbewerb „Raumpio­niere – Wohnen auf kleinstem Raum“, den die Stadt Ludwigsburg anlässlich des 300. Stadtjubiläums ausgeschrieben hatte und aus dem das Mikrohofhaus hervorging.

Gesucht wurde ein Tiny House, das als temporäres Ausstellungsobjekt einen Eindruck zeitgemäßen Wohnens vermittelt. Dabei tragen Tiny Houses nur bedingt zur Lösung des Wohnraumproblems bei, weil sie keine städtebauliche Dichte ermöglichen, wie Florian Kaiser klarstellt: „Das sind meistens Bungalows, die verloren auf der Wiese stehen und in der Addition an einen Campingplatz erinnern.“ In Ludwigsburg war diese Wiese gar nur eine Verkehrsinsel inmitten einer stark befahrenen Kreuzung, die nicht gerade zum Wohnen einlädt.

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Ihren Wettbewerbsbeitrag konzipierten Shen und Kaiser als Protest gegen die Aufgabenstellung, indem sie um das 7,3 Quadratmeter kleine Holzhaus herum den großzügigen chinesischen Hof anlegten. Dieser erweitert bei warmem Wetter die Wohnfläche und schirmt sie visuell sowie mit einem kleinen Brunnen auch akustisch von den Autos ab. Das Mikrohofhaus kann natürlich die Wohnungsfrage auch nicht lösen, zwei Dinge lassen sich aus dem Projekt jedoch trotzdem ableiten. Guobin Shen argumentiert städtebaulich: „Es gibt in der Stadt immer Rest-Grundstücke: Orte, an denen man normalerweise nicht wohnen kann. Aber durch geschickte Typologien kann man so manches schwierige Grundstück doch noch zur Nachverdichtung nutzen.“ Florian Kaiser weist darauf hin, dass in Deutschland eine Person durchschnittlich auf fast 50 Quadratmetern wohnt, wobei nach Meinung des Atelier Kaiser Shen etwa die Hälfte ausreiche: „Unser Ziel ist es, mit diesem kleinen Projekt die Bevölkerung zum Umdenken über den Wohnflächenkonsum anzuregen.“

7 Atelier Kaiser Shen, Flüchtlingsheim Schön­aich, seit 2019, Modellfoto: Nicolai Rapp

Atelier Kaiser Shen, Flüchtlingsheim Schön­aich, seit 2019, Modellfoto: Nicolai Rapp

Die anschließend aufkommenden Anfragen nach dem Bau kleiner Gartenhäuser, die die Bodenversiegelung befeuern statt sie zu verhindern, mussten Kaiser und Shen zwangsläufig ablehnen. Über das Mikrohofhaus war allerdings auch die Gemeinde Schönaich bei Böblingen auf die beiden jungen Architekten aufmerksam geworden und engagierte sie zur Planung einer Unterkunft für Geflüchtete, bei der sich die Frage nach kompakten räumlichen Lösungen ebenfalls stellte – und zwar vor allem aus Budgetgründen. Damit die Reduktion der Wohnfläche allerdings nicht zulasten der Geflüchteten geht, sorgen erweiterte Gemeinschaftsflächen für Kompensation, wie Guobin Shen erklärt: „Es entstehen Räume, die nicht vom Raumprogramm vorgegeben sind, sondern durch das Tragwerk ermöglicht werden.“ Die Laubengänge sind besonders breit angelegt, sodass sie nicht nur der Erschließung, sondern auch als Räume zur Begegnung und Aneignung dienen, wie Shen betont: „Wir definieren nicht alle Räume, sondern geben den Nutzenden die Chance, sie selbst weiterzuentwickeln.“

9 Atelier Kaiser Shen, Haus B, Altbach, seit 2019, Modellfoto: AKS

Atelier Kaiser Shen, Haus B, Altbach, seit 2019, Modellfoto: AKS

Eine ähnliche Aufwertung der Erschließungsräume zu Gemeinschaftsterrassen findet sich im Haus B, dessen offensichtlichste Besonderheit aber zuerst einmal ist, dass es im Grunde genommen aus zwei Häusern besteht. Guobin Shen begründet diese Entscheidung mit dem Straßenbild der kleinen Gemeinde Altbach im Landkreis Esslingen: „Ein Mehrparteienhaus ist hier eher selten. Damit das Projekt nicht als störend empfunden wird, nähert es sich in seiner Körnung der Umgebung an.“ Verbunden sind die beiden Baukörper durch einen Treppen- und Aufzugturm, dessen Plattformen zu gemeinschaftlich genutzten Terrassen werden können.

8 Atelier Kaiser Shen, Haus Hoinka, Pfaffenhofen, seit 2018, Modellfoto: AKS

Atelier Kaiser Shen, Haus Hoinka, Pfaffenhofen, seit 2018, Modellfoto: AKS

„Unfertige Häuser“ heißen im Atelier Kaiser Shen solche Gebäude mit bewussten Leerstellen, zu denen auch das Haus Hoinka zählt. Der Bauherr, ein Energieplaner, wünschte sich für das Doppelhaus eine Fassade aus den umweltschonenden Materialien Stroh und Lehmputz, die allerdings vor der Feuchtigkeit des Bodens geschützt werden müssen und diesen daher nicht berühren dürfen. Von der Idee, das Haus minimal über den Boden zu heben, rieten die beiden Architekten ab. Guobin Shen erläutert: „Unser Eindruck war, dass dabei ein undefinierter Raum entstünde. Also haben wir vorgeschlagen, das Gebäude noch deutlicher anzuheben und damit einen Freiraum zu bilden, den man auch tatsächlich nutzen kann“ – wie genau, das bleibt auch hier vorläufig offen.

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Atelier Kaiser Shen, Mikrohofhaus, Ludwigsburg 2017 – 2018, Foto: Nicolai Rapp

Inspiriert zum Konzept der „unfertigen Häuser“ hat Kaiser und Shen die 1952 in einer der Bidonvilles genannten informellen Siedlungen Casablancas erbaute Cité Verticale von Georges Candilis, Shadrach Woods und Victor Bodiansky: ein gerasterter Wohnblock, den die Bewohnerinnen und Bewohner sich sukzessive angeeignet und ihn selbst weiter ausgebaut haben. Das Sammeln solcher Referenzen – nicht nur aus dem Architekturkontext – ist typisch für den Entwurfsprozess im Atelier Kaiser Shen, dessen Name nicht zufällig an Kunstateliers erinnert. Florian Kaiser resümiert: „Das war eine sehr bewusste Entscheidung, obwohl ‚Kaiser Shen Architekten‘ aus kommerzieller Sicht vielleicht der bessere Name gewesen wäre.“ Guobin Shen ergänzt: „Wir reden immer zuerst über die Haltung und die Atmosphäre, bevor wir über konkrete Lösungsansätze sprechen.“ Diese Herangehensweise ist bei beiden Partnern geprägt durch ihre Erfahrungen bei Herzog & de Meuron, wo Shen von 2010 bis 2011 ein Praktikum absolvierte und Kaiser von 2014 bis 2016 angestellt war. Letzterer erinnert sich: „Dort nähert man sich in Studien Schritt für Schritt der Lösung an – und zwar offen und nicht zu zielorientiert. Dieser Ansatz erinnert fast an wissenschaftliches Arbeiten.“ Um sich diese Experimentierfreude auch zu bewahren, während ihnen wegen des wachsenden Büros immer weniger Zeit für Lehraufträge an der Universität Stuttgart bleibt, haben die beiden Gründer kürzlich die internen „Atelier Gespräche“ eingeführt, deren Ablauf Florian Kaiser schildert: „Bei jedem Termin hält ein Teammitglied einen Kurzvortrag über ein Thema, das unser Büro gerade beschäftigt – im Moment also vor allem über Themen des Wohnungsbaus –, und dann diskutieren wir gemeinsam mit dem Ziel, Thesen aufzustellen und so unsere Projekte zu schärfen.“ In gewisser Weise führt dieser ungezwungene Austausch also wieder zurück zum Kneipenabend, an dem der Weg des Atelier Kaiser Shen seinen Anfang nahm.
Maximilian Liesner

www.atelierkaisershen.de

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Medienpartner: www.marlowes.de

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