Rena Wandel-Hoefer

Traum und Prozess

Utopie einer ganzheitlichen Schönheit des Ortes

Das Motto des BDA-Tags „Die Stadt als Traum – Die Stadt als Prozess“ ist, so vermute ich, mit der Erwartung verbunden, Grundsätzliches über das Spannungsfeld zwischen visionären Ideen des kreativen Architekten und Mechanismen der Stadtentwicklungspolitik zu hören oder bestätigt zu bekommen. Der Einladungstext ruft eine Dissonanz auf zwischen einem „Bild der Stadt, das als Ganzes erst werden soll“ und der „segmentierten Betrachtungsweise vorhabenbezogener Stadtentwicklungspläne“. Um es vorwegzunehmen: Nach meinen Erfahrungen und meiner persönlichen Überzeugung liegen die Ursachen des umschriebenen Dilemmas nicht primär im „Spannungsfeld von Ämtern, Architekten und anderen Akteuren“, auch nicht in untauglichen Prozessen oder Verfahren der Stadtplanung – wir sind in Deutschland Meister in der Perfektionierung von Wettbewerbsverfahren, von Bürgerbeteiligungsverfahren, von Bauplanungsrechtlichen Verfahren. Städtebaubeiräte, Gestaltungsbeiräte werden zunehmend Standard, Baukultur ist in der Kommunalpolitik als Standortfaktor „angekommen“.

Als Ergebnis dieser Verfahren können wir immer wieder herausragende Einzelprojekte auszeichnen – wir geben einander Bestätigung und Beispiel, zollen Bauherren und Auftraggebern Anerkennung und hoffen auf motivierende Vorbildwirkung. In glückhaften Einzelfällen finden wir diese Leuchtturmprojekte auch auf städtebaulicher Ebene.

Wir betreiben seit Jahrzehnten einen zunehmenden Aufwand in der Vermittlung „baulich manifestierter Geisteshaltung“ – aber dieser schon missionarisch zu nennende Anspruch prägt die allgemeine Qualität der in den vergangenen Jahrzehnten gebauten Lebensräume in unseren Städten nur in erschreckend geringem Maße. Und wenn wir davon ausgehen, dass sich „die stadtplanerischen Instrumente der Planungsämter mit den entwerfenden Kräften der Architekten und Stadtplaner sowie mit den Erwartungen der Bürger und Investoren arrangieren müssen“, wird sich an diesem Zustand nach meiner Überzeugung auch nichts ändern.

In Stadtplanungsämtern sitzen nicht die schlechteren Architekten und Stadtplaner, Investoren und Bürger sind mehr als Erwartungsträger und wenn alle städtebaulichen Projekte von BDA-Architekten verantwortet würden, wäre die bessere Stadtplanung noch lange nicht garantiert.

Foto: Andreas Bormann

Die Stadt als Traum
Träume haben etwas wunderbar Tiefenschichtiges, Unbestechliches, aber auch Vieldimensionales, nicht eindeutig zu Fassendes. Sie sind Spiegel der Seele und Botschafter der Sehnsucht. Aus welcher Basis speisen sich unsere Träume von Stadt? Ist es unangemessen im Zusammenhang mit der „Stadt als Traum“ auch von der „Seele der Stadt“ zu sprechen? Vertrauter ist der Begriff Genius loci, der heute leider schon genauso abgenutzt ist wie die Begriffe Nachhaltigkeit und auch Baukultur.

In der römischen Antike widmeten sich Militärplaner bei der Neugründung von aus heutiger Sicht scheinbar mustergültig rationalen Städten diesem wörtlich übersetzt und auch so zu verstehenden „Geist des Ortes“. In tiefem Respekt vor diesem Genius loci tarierten Architekten die Position ihrer Idealplanungen aus, die Notwendigkeit, ihre Eingriffe in den Ort mit dem Geist des Ortes zu versöhnen, war selbstverständlich. Mit der christlichen Kultur veränderte sich das Verständnis vom Genius loci hin zu einer unbestimmten Spiritualität und Prägung durch den Geist des Menschen. Aus alttestamentarischer Weisheit wurde in reduzierter Übersetzung von „macht Euch die Erde untertan“ der Anspruch der Neuzeit auf umfassende Naturbeherrschung, der hebräische Urtext hat dagegen die fürsorgliche Konnotation einer Inbesitznahme der Erde durch Urbarmachung als Kulturland.

Der Genius loci verliert zunehmend seine respekteinflößende Vorbedingtheit, er wird nicht mehr interpretiert, man nähert sich ihm nicht mehr an, er wird formbar, menschengemacht und in menschlicher Hybris austauschbar. Christian Norberg-Schulz schreibt 1976 in „Genius loci: Landschaft-Lebensraum-Baukunst“: „Personale Identität setzt Identität des Ortes voraus, Identifikation und Orientierung sind Grundaspekte des menschlichen In-der-Welt-Seins“.

Wer in Person träumt die Stadt heute? Träumen Jugendliche, denen reduzierte virtuelle Welten häufig die reale Umwelt ersetzen und die Stadtraum nur noch als Partymeile benutzen? Oder: Träumen temporäre Stadtbewohner, die dank gesellschaftlich geforderter Mobilität die urbanistischen Segnungen der Trennung von Arbeiten und Schlafen – denn von Wohnen ist zeitbedingt oft nicht mehr zu sprechen – als Pendler zwischen den Städten auf den Autobahnen erleiden dürfen?

Oder: Träumen Bürger, die ihre persönlichen Rückzugsräume gegen die Zumutungen dynamischer Stadtentwicklung – und dazu gehören nicht nur Großprojekte, sondern auch Neubaugebiete in der Nachbarschaft – mit Zähnen und Klauen verteidigen, wobei es keinen Unterschied in den Grund-ängsten gibt zwischen den Bewohnern von individuellen Architektenhäusern und von Siedlungen, in denen mit Surrogaten aus den Baumärkten liebevoll Vorbildern aus heilen Fernsehwelten nachgeeifert wird? Oder: Träumen Touristen, denen restaurierte Fassaden vergangener Bürgerlichkeit eine nette Kulisse für Latte macchiato unter Sonnenschirmen und Heizpilzen bieten?

Oder: Träumen Politiker, die bei klammen kommunalen Kassen innerhalb von wenigen Jahren sichtbare Nachweise ihres Anspruchs auf Wiederwahl liefern müssen? Oder: Träumen die Entwickler großer Einzelhandelszentren, die gerne ausgeweidete historische Fassaden als Verpackung ihrer Stadt-Ersatz-Innenwelten nehmen und die gemeinsam mit den austauschbaren Filialisten der Fußgängerzonen und dem Internethandel längst den Handel abgelöst haben, dem die europäische Stadt wesentlich ihre Entstehung verdankt?

Oder: Träumen die großen Investoren und Immobilienfonds, die Städte nach Lage und Renditepotential „raten“, oder etwa die privaten Anleger, die ihr Kapital lieber mit Renditeerwartung eben diesen Fonds anvertrauen statt selbst in ihrer Stadt zu investieren, die dann aber gerne bei der Stadt die Beseitigung von Schrottimmobilien einfordern?

Oder lassen wir zu, dass die EU-Verwaltung eine Stadtentwicklung erträumt, bei der dank erfolgreicher Lobby-Arbeit großer Industriekonzerne technoide Normen-Werke zukünftig für die standardisierte Kategorisierung von Lebensbedingungen in den Städten sorgen und bei denen DIN-genormte Kriterien für förderwürdige Entwicklungsstrategien diese Städte gefügig machen sollen?

Am Ende stehen dann die Hochglanz-gerenderten Wiedergänger globaler technikgläubiger Stadtphantasien – Albträume ökologisch korrekter, grün verpackter Smart Cities.

Die Stadt als Prozess
Wo finden sich die Partner, die gemeinsam daran gehen den Traum der Stadt im Alltag zu verankern? Natürlich gibt es auch den lokalen Investor, der sich dem örtlichen Gestaltungsbeirat stellt und die Beratung auch noch dankbar annimmt, oder die Bürgerinitiative, die für den kleinen Stadtpark kämpft und ihn später in Patenschaften betreut, oder die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker, die sich immer wieder in Bürgerversammlungen die Sorgen und oft nur bescheidenen Wünsche der Menschen anhören, zu helfen versuchen, um in der Presse und in Leserbriefen unter den Generalverdacht der Profilneurose oder der Käuflichkeit gestellt zu werden.

All diese sind die notwendige Hefe im Teig der Stadtgesellschaft, aber ohne den Schulterschluss von Architekten und Landschaftsplanern, aber auch benachbarten Disziplinen der Ingenieure und Umweltplaner mit Stadtentwicklungsplanung und Politik werden wir nicht weit kommen. Die Stiftung Baukultur schmiedet mit zunehmender Schlagkraft an dieser Allianz. Aber diese Allianz kann nur tragen, wenn sie mit hoher Fachlichkeit und zugleich Bescheidenheit die Herzen der Menschen anspricht.

Die meisten Architekten und Architektinnen werden die Erfahrung gemacht haben, dass es nicht mehr ausreicht, als Architekt einen städtebaulichen Wettbewerb zu gewinnen – ….und dann beglückt man mit dem Segen der Jury die dankbare Stadtgesellschaft? Soweit öffentliches Planungsrecht oder eigene Bautätigkeit der öffentlichen Hand überhaupt die Federführung zuordnen, bereiten die meisten Stadtverwaltungen nachhaltig erfolgreiche Wettbewerbs- oder Planungsverfahren in langen Vorlaufzeiten vor, in denen möglichst umfassend alle Rahmenbedingungen und Betroffenheiten geklärt und der Dialog zwischen Bürgerschaft, Planern, Politik und / oder Bauherren vorbereitet wird.

Ich bin überzeugt davon, dass es in großen Planungsverfahren nicht mehr ausreicht, sich auf den Dialog zwischen Planern und Fachjury zu beschränken, es ist durchaus möglich, ohne Verzicht auf klare Zuständigkeiten in der Fachlichkeit die Bürger als Betroffene, als Ortskundige, auch als Bedenkenträger bereits im Verfahren einzubeziehen. Empfehlungen der Fachleute können so mit Respekt auch vor abweichenden Bürgervoten begründet werden und die politischen Mandatsträger erhalten frühzeitig ein umfassendes Meinungs- und Argumentationsbild für ihre Entscheidungen. Die fachliche Kompetenz in städtischen Planungsämtern ist in der Aufstellung städtebaulicher Rahmenplanungen und Entwicklungskonzepten ebenso unverzichtbar wie im Einfordern von Spielregeln, auf die sich die Stadtgesellschaft in der Gestaltung ihres öffentlichen Raumes verständigt hat.

Bei privaten Bauvorhaben ermöglichen oft nur vorhabenbezogene Bebauungspläne eine positiv steuernde Einflussnahme von Bürgerschaft, Politik und Stadtverwaltung. In vielen Standard-Bauantragsverfahren warten erfahrene Verwaltungsjuristen nur darauf, gegen die vermeintliche Bevormundung durch die Bauverwaltung mit rechtlichen Schritten vorzugehen und das Recht des Eigentümers auf freie Entscheidung einzufordern – dass die Verpflichtung, die mit Eigentum nach dem Geist unseres Grundgesetzes verbunden ist, auch für die Gestaltung der Stadt eingefordert werden kann, ist in einer hedonistischen Gesellschaft offensichtlich eine Zumutung.

Städtische Planungsämter kennen mehr als Regeln und Verhinderungsparagraphen, sie sind die Garanten für nachhaltige Verfolgung von Planungszielen, sie bewahren das Gedächtnis der jüngeren Planungsgeschichte der Stadt und sollten gerade von freien Planern selbstverständlicher als notwendige Sparringspartner auf Augenhöhe akzeptiert werden. Wenn den Verwaltungseinheiten manchmal formalistische Starrheit vorgeworfen wird, ist mein Eindruck eher, dass das eine Rückzugsreaktion angesichts eines Auftretens von manchen freien Büros gegenüber der Verwaltung ist, bei dem Anspruchshaltung und fachliche Defizite nicht zusammenpassen – sei es bei Antragsverfahren oder bei komplexen Planungskoordinationen im öffentlichen Raum.

Ich plädiere für mehr wechselseitige Durchlässigkeit, für Offenheit und Kooperation zwischen freien Büros und Verwaltung – sie könnte beiden Seiten gut tun. Wir sollten uns die Chance geben, uns als Verbündete kennenzulernen.

Eine Erwartung muss ich allerdings enttäuschen: Die wenigsten Kommunen werden in den kommenden Jahren finanziell in der Lage sein, aus eigener Kraft große Grundsatzuntersuchungen oder Masterplanungen zu beauftragen. Auch in Saarbrücken wären die 2008 mit EU-Förderung erstellten Planungen zur neuen Stadtmitte heute in dieser Gründlichkeit und mit den Beteiligungsverfahren, die bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt haben, nicht mehr finanzierbar. In den meisten Bundesländern wurde in den vergangenen Jahren die Doppik eingeführt, die zwischen Ergebnishaushalt für Pflichtaufgaben und konsumtive Ausgaben und dem Investitionshaushalt streng unterscheidet.

Ziel der Einführung war die wirtschaftliche Steuerung von Kommunalhaushalten nach sogenannten „Produkten“. Profitiert haben Beratungsfirmen und Softwarehäuser und in den Verwaltungen wurden Controllingabteilungen ausgebaut, während gleichzeitig operative Verwaltungsstellen eingespart werden mussten. Fatal an der Anwendung dieser Betriebswirtschaftsdoktrin auf die öffentliche Verwaltung ist, dass strategische Planungen, die für langfristige Entwicklungssteuerung einer Stadt wichtiger sind als Pseudooptimierungen der Verwaltungsläufe, im Ergebnishaushalt veranschlagt werden müssen. Damit treten sie in direkte Konkurrenz zu den Ausgaben für Kindergärten, Schwimmbäder, Jugendhilfe etc. Was das für die politischen Entscheidungsträger bei knappen kommunalen Kassen bedeutet, kann man sich vorstellen.

Wir helfen uns in Saarbrücken, indem wir an Forschungsprogrammen des Bundes teilnehmen, uns mit anderen Kommunen austauschen oder Hochschulen für experimentelle Studienprojekte gewinnen. Neben der Alltagsarbeit haben wir – aufbauend auf dem 2008 verabschiedeten Stadtentwicklungskonzept – unser städtebauliches Entwicklungskonzept ämterübergreifend selbst erarbeitet. Für vorhabenbezogene Bebauungspläne schließen wir konsequent Planungskostenübernahmeverträge ab. Grundsätzlich macht Not erfinderisch und weckt kreative Ressourcen.

Wichtig für Städte wie Saarbrücken sind Planungen, die helfen, alltägliche und kleinteilige Veränderungen durch Sanierungs- und Unterhaltsmaßnahmen und durch private Baumaßnahmen schrittweise wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Instrumentarien dazu sind Verkehrsentwicklungsplan, Gestaltungsleitlinien und -satzungen für den öffentlichen Raum vom Bodenbelag über Stadtmöblierung, die Beleuchtung bis zu privaten Werbeanlagen und Farbkonzepten. Das bedeutet dann natürlich auch, dass nicht bei jeder Platzgestaltung der freie Planer neue Bank-, Belags- und Leuchtentypen auswählen kann.

Für diese immer wieder zu ergänzenden und weiterzuentwickelnden Grundlagen würde ich mir beispielsweise die offensive Unterstützung der Berufsverbände wünschen. Sie sind nicht Gängelung der Gestaltungsfreiheit, sondern wesentliches Instrumentarium, um zu verhindern, dass der öffentliche Raum weiter zum Ausstellungs- und Musterkatalog von Herstellern und Werbefirmen verkommt. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt, ist die Farbe im öffentlichen Raum. Wie wohltuend und die Identität einer Stadt stärkend über Jahrzehnte durchgehaltene Farbleitlinien wirken können, lässt sich zum Beispiel in Stockholm genießen.

Gestaltungsbeiräte – vom BDA unterstützt, aber von vielen Kollegen immer noch kritisch beäugt – sind ein weiteres unverzichtbares Instrumentarium, um Stadtplanung, Architekten und Investoren durch unabhängige externe Gutachter unterstützt, in den Dialog zu bringen und die Verantwortung jedes einzelnen Akteurs für das Gesicht der Stadt öffentlich zu machen.

Das Bild der Stadt entwickelt sich in Projektion, Weiterdenken und Weiterbauen. Es braucht die gemeinsame Basis und den langen Atem, es braucht Zähigkeit in der Verteidigung gegen Egoismen, es braucht die breite Vermittlungsarbeit, es braucht die Fähigkeit, Komplexitäten Synergien abzuringen und sie nicht zu Hindernissen werden zu lassen, vor allem aber braucht es den Mut, unseren Anspruch auf die Würde des Ortes zu verteidigen. Ich gehe noch weiter: Ich glaube an die Utopie einer ganzheitlichen Schönheit des Ortes, an das Ziel eines Genius loci, der jedem Stadtbewohner offensteht und der nur gemeinsam und in Demut vor der Zeit gewonnen werden kann.

Dr.-Ing. Rena Wandel-Hoefer (*1959), studierte Architektur an der TH Darmstadt, wo sie 1989 mit einer Arbeit über Richard Neutra promoviert wurde. Gemeinsam mit Andrea Wandel, Andreas Hoefer und Wolfgang Lorch gründete sie 1994 in Saarbrücken das Büro Wandel Hoefer Lorch. Von 2001 bis 2008 war sie Vorsitzende des Städtebaubeirats in Saarbrücken, seit 2007 ist sie Mitglied der Sektion Baukunst der Akademie der Künste in Berlin. Seit Februar 2008 amtiert Rena Wandel-Hoefer, die inzwischen nicht mehr im Architekturbüro tätig ist, als Saarbrückens Baudezernentin.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert