Kai Koch

Warum Hannover?

Von der Stadt als Maschine zur Stadtplanung als interdisziplinäres Moderationsmodell

Der BDA Tag findet jedes Jahr statt und immer an einem anderen Ort. Dieses Mal also in Hannover. Im Folgenden versuche ich, Thema und Ort in Beziehung zu bringen mit der Frage „Warum Hannover?“. „Von der Stadt als Maschine zur Stadtplanung als interdisziplinäres Moderationsmodell“ – dieser Subtitel versucht in der gebotenen Kürze die Paradigmen zu beschreiben, die die Entwicklung der Stadt über seine Geschichte auch im Sinne von Prägung beeinflusst haben.

Unsere Einladung beginnt ja mit einer Frage, mehreren Fragen und Behauptungen sogar – und ich muss zugeben, dass ich keine abschließenden Antworten weiß, keine, die nicht wenigstens ein „ja, aber…“ oder „einerseits, andererseits“ enthalten müssten. Ich denke, dass diese Art des Fragens eher aporetischer Natur ist und wir uns über deren Abarbeitung das gesetzte Thema erschließen.

Es ist wahrscheinlich nur einmal vorgekommen, dass ein Architekt oder Städtebauer den Titel einer großen überregionalen deutschen Zeitung ziert. 1959 titelte DER SPIEGEL mit dem Konterfei von Rudolf Hillebrecht „Das Wunder von Hannover“. Hillebrecht war seit 1948 Stadtbaurat Hannovers. In diesem Artikel wird die seinerzeit als beispielhaft empfundene Wiederaufbauplanung Hannovers und die internationale Resonanz thematisiert.

Handel als Impuls
Hannover erhielt 1241 die Stadtrechte: Die kleine Marktsiedlung am Flussübergang der Leine wuchs schnell zu einer durch Stadtmauern umgrenzten mittelalterlichen Stadt. Die mandelförmige Grundform, die auch heute noch im Stadtgrundriss erkennbar ist, aus Schmiedestraße und Osterstraße in Verbindung der beiden Stadttore Aegidientor und Steintor, im Zentrum die Marktkirche und das Alte Rathaus mit den umgebenden, die Stände beherbergenden Straßen Kramerstraße, Knochenhauerstraße, Seilwinderstraße. Diese geschlossene Form überdauerte mehrere Jahrhunderte, bis Georg von Braunschweig-Lüneburg, Herzog von Calenberg, seine Residenz während des 30jährigen Krieges in die befestigte Stadt verlagerte. Es war dann Georg Ludwig Laves, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts – nach der Entfestigung der Stadt und dem Aufkommen der Eisenbahn im Zuge der beginnenden Industrialisierung – über Stadterweiterungen auf den dann als öffentlicher Grund zur Verfügung stehenden ehemaligen Befestigungsanlagen nachdachte. Deren Geometrie ist heute etwa im Operndreieck präzise nachgezeichnet und hat so die Jahrhunderte mit zwei Weltkriegen überdauert. Hinzu kamen Bauten für den höfischen Bereich und die Anlage der Herrenhäuser Gärten.

Wachstum, Industrie
Hannover wuchs dann Ende des 19. Jahrhunderts schnell zu einer räumlich expandierenden Industriestadt heran. Insbesondere das bis 1921 selbständige Linden mit der Hanomag und der Ahrbergfabrik prägten das typische Arbeiterquartier der wachsenden Großstadt. Zu erwähnen sind auch Unternehmen wie Sprengel, Bahlsen, Pelikan oder die von Siegfried Seligmann seit den 1880er Jahren zu einem international bedeutenden Unternehmen aufgebaute Continental Caoutchou Gutta Percha Compagnie, kurz Conti. Bedeutende Architekten der Vor- und Frühmoderne wie Behrens, Bonatz, van de Velde oder Poelzig bekamen in Hannover Gelegenheit zu bauen, nicht zu vergessen Fritz Höger.

Das industrielle Wachstum der Städte überall in Europa führte zu bis dahin nicht gekannten Wanderungsbewegungen und einer schlagartigen Ausdehnung der Städte, die überall zu Bedingungen führte, die – was Hygiene und Lebensverhältnisse betraf – als unerträglich wahrgenommen wurden. Die Folge waren Reformansätze wie etwa die Gartenstadtbewegung oder der genossenschaftliche Wohnungsbau, besonders in Deutschland. Die Städte und insbesondere der Wohnungs- und Siedlungsbau im Verbund mit der fortschreitenden Technisierung des Bauens wurden zum Handlungsfeld der Architekten, vor allem der jungen und modernen Architekten wie Walter Gropius oder Ludwig Mies van der Rohe, die ihre Ausbildung noch bei den Altmeistern wie Peter Behrens gelernt hatten.

Insbesondere der 1928 gegründete Congres Internationaux d’Architecture Moderne, kurz CIAM, bedeutet den Beginn der akademischen Phase in der modernen Architektur. Die Maximen des künftigen Städtebaus wurden in der 1933 verfassten ‚Charta von Athen’ niedergelegt. Le Corbusier, der zu Beginn der zwanziger Jahre bereits durch radikale Stadtplanungsprojekte wie seinen Plan für Algier oder den Plan Voisin (1925) aufgefallen war, gab der Charta die prägende Handschrift. Eine der sechs Grundforderungen der Charta war die Entflechtung und Ordnung der vier Grundfunktionen Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit.

„Die Zoneneinteilung ist eine auf dem Stadtplan durchgeführte Operation mit dem Ziel, jeder Funktion, jedem Individuum den richtigen Platz zuzuweisen.“ Der gebieterische Unterton dieser Textpassage ist unverkennbar. Dem Individuum, an dieser Stelle schon fast mit einer Funktion gleichgesetzt, wird vorgeschrieben, wo es hingehört. Der „richtige Platz“ des Menschen wiederum wird ebenfalls definiert. Er besteht aus einer Wohnung, deren „gesunde Beschaffenheit“ verantwortlich ist für das „Wohl und die moralische Gesundheit des Individuums“.

An dieser Stelle macht sich ein Fortschrittsglaube bemerkbar, der charakteristisch ist für die Moderne. Sie wehrte sich gegen die im Vorhinein erfolgte Sinngebung durch das historische Zitat und zwang den Menschen so in eine von Symbolen befreite und geschichtslose Umwelt, die in ihrem gesamten Aufbau gut gemeint und dabei sehr statisch war. Die Stadt der Moderne gab, zumindest wenn es nach den Architekten der CIAM ging, ihren Bewohnern geregelte Lebensentwürfe vor. Lebensentwürfe, die viel Sonnenlicht, ausreichend Platz und frische Luft beinhalteten. Alles, was die Malerei und vor allem Literatur am Erscheinungsbild der Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts inspiriert hat, kommt in dieser „Division“ durch Vier ohne Rest nicht mehr vor. Insofern war es konsequent und bezeichnend, dass Le Corbusier in seinem schon erwähnten Plan Voisin für Paris die historischen Bestände der Ile de la Cite – also Notre Dame etc. – komplett überplante. Unter dem nachvollziehbaren Postulat der Schaffung gesunder Lebensverhältnisse bricht sich ein – oft im Gestus religiöser Heilsversprechung vorgetragen – übergreifendes Dogma von Ordnung, Hygiene und letztlich Kontrolle Bahn.

Nicht zufällig sind die von Sigfried Giedion, dem Apologeten der Modernen Architektur, in seinem Standardwerk „Space, Time, Architecture“ gezeigten Beispiele Sanatorien oder dergleichen. Ernst Bloch bezeichnete das Dogma der Transparenz bereits in den dreißiger Jahren als „Lichtkitsch“ und stellte die Frage: „Was nützt Transparenz, wenn draußen die SA marschiert?“

Horkheimer und Marcuse unterziehen in den vierziger Jahren in der „Dialektik der Aufklärung” angesichts des Triumphs von Faschismus und monopolistischem Kapitalismus als neue Herrschaftsformen, denen die Gesellschaft keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzt, den Vernunftbegriff der Aufklärung einer radikalen Kritik.

Die Ansichten der modernen Architekten richteten sich eindeutig gegen eine „symbolische Affizierung“. Sie beraubten den Menschen der Moderne somit um den „zeichenhaften Charakter des Ornaments, das letztlich ein Ausdrucksmittel zur Bereicherung der bestehenden Substanz [ist], indem [es] dem Betrachter weitere Erzählebenen anbietet.“ Baudrillard kritisierte diese Tatsache wie folgt: „Und genau an diesem Verlust der Szenerie, also der Sehweise, also der gesamten Dramaturgie der Illusion und der Verführung leiden alle unsere Städte, welche zum Vollführen des Raumes durch eine Funktionsarchitektur verurteilt wird – sei sie nun nützlich oder unnütz.“

Die Gedanken der ‚Charta von Athen’ übten auf die Architekten jener Zeit eine unglaubliche Anziehungskraft aus, so auch auf den jungen Rudolf Hillebrecht, in Hannover geboren und studiert. Gropius, Mitglied im CIAM, war eine prägende Leitfigur für Hillebrecht, der er zeitlebens persönlich verbunden blieb. Von maßgeblichem Einfluss auf Hillebrechts städtebauliche Vorstellungen war aber auch die Nähe zu Konstanty Gutschow, in dessen Hamburger Büro er in den vierziger Jahren arbeitete und der als Mitglied des Wiederaufbaustabs um Albert Speer stark in die Neuordnung der zerstörten Städte involviert war.

Nach den schweren Zerstörungen durch den Bombenkrieg – besonders im Oktober 1943, als die Stadt wesentlich zerstört wurde – begannen unter Führung des damaligen Stadtbaurats Karl Elkart und unter intensiver Mitwirkung der Architekturlehrer der TH Hannover, intensive Überlegungen, die unter anderem den kompletten Neuaufbau an anderer Stelle in Betracht zogen. Im Falle Hannovers waren es letztlich pragmatische Gründe wie etwa die Verkehrsinfrastruktur. Maßgebliche Leitlinie war aber auf jeden Fall der sogenannte „Wehrgedanke“, der eine deutliche Auflockerung der neuen Stadt aus militärstrategischen Motiven vorsah, die durchaus im Einklang mit der architektonischen Ideologie des CIAM stand.

Foto: Andreas Bormann

Wiederaufbau / Neuaufbau
Hillebrecht trat 1948 das Amt des Stadtbaurats an. Hannover sollte Hauptstadt des neu geschaffenen Bundeslandes Niedersachsen werden. Hillebrecht konnte auf die Grundlagen seines Vorgängers aufbauen und auch personell gab es durchaus Kontinuität über das Kriegsende hinaus. Gutschow wurde nun zu einem der wichtigsten Berater Hillebrechts und konnte sich später auch als Architekt in Hannover verwirklichen. Zu den herausragenden Leistungen Hillebrechts gehörte zweifellos die politische Durchsetzung seiner Ziele in unendlichen Sitzungen und Gremien. Dieser mühevollen Überzeugungsarbeit war es zu verdanken, dass Eingriffe in die Grundstücksverhältnisse möglich wurden, die unter anderem ein Wohnviertel wie das um die Kreuzkirche herum entstehen ließen, eine Oase innerstädtischer Ruhe von ganz eigener Qualität.

„Eine seltsame Versammlung tagte in dem rauchgeschwärzten Gastzimmer der Vorortkneipe. Grundstückseigner und Schrebergartenbesitzer, Bauingenieure, Architekten und städtische Beamte waren zusammengekommen, um ein kommunales Zukunftsthema zu diskutieren: den Wiederaufbau der Stadt Hannover. Das Hauptreferat des Bierkneipentreffens hielt ein gedrungener Mann mit schwerer Hornbrille über rotgeäderten Wangen; seinen Straßenanzug zierte als ungewöhnliches modisches Attribut eine knotenlos gebundene Krawatte. Vor dem geladenen Publikum entwarf der Herr mit dem unvollendeten Krawattenknoten, der Hannoversche Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, die Vision einer Stadt mit einem grandiosen Netz von Schnellstraßen. Doch die Zuhörer, Bürger einer biederen Residenz- und Pensionärsstadt, blickten sich verständnislos an und bedachten den Redner mit ironischen Zwischenrufen. Es war Frühjahr 1949 – zwischen den zerlöcherten Straßen türmten sich über sechs Millionen Kubikmeter Schutt zu bizarren Kulissen. In 88 Angriffen hatten alliierte Bomber weite Bezirke Hannovers in einen Trümmerkarst verwandelt. Über die Straßen rollten antiquierte Vorkriegsautos, zum Teil mit Holzgasmotor, denn das Benzin war noch immer rationiert.“ (Der Spiegel, „Das Wunder von Hannover“, Hamburg 1959).

Auf den Grundlagen seines Vorgängers und dem Ergebnis eines städtebaulichen Wettbewerbs entstand 1949 der Bebauungsplan für die Innenstadt nach den Leitbildern der aufgelockerten und gegliederten Stadt, wie die ‚Charta von Athen’ sie intendierte. Wesentliches Element war die autogerechte Stadt mit einem großzügigen Tangentensystem, eingebunden in einen stadtlandschaftlich aufgefassten Landschaftsraum der Leine mit ausgedehnten Grünräumen.

Wichtige Mitstreiter Hillebrechts waren wiederum auch die an den Hochschulen in Hannover und Braunschweig lehrenden Architekten wie Kraemer, Zinsser oder Oesterlen, die in den Folgejahren dann auch Gelegenheit bekamen, hervorragende Architekturen an prominenter Stelle kongenial zum Hillebrechtschen Stadtraumkonzept zu verwirklichen. Man denke an Ernst Zinssers Conti-Hauptverwaltung, seine Kali-Chemie, das Funkhaus von Friedrich Wilhelm Kraemer, die Preussag von Graupner oder Dieter Oesterlens Bauten entlang des Leineufers.

Ich bin der Meinung, dass hier ein heute noch erlebbares und grundsätzlich funktionsfähiges Gesamtkonzept einer Stadt entstanden ist, das heute – Jahrzehnte später – eine eigene geschichtliche Evidenz besitzt, die zu pflegen und behutsam weiterzuentwickeln ist. Es ist allerdings auch nicht zu verschweigen, dass dieses Konzept weniger stimmige Bereiche – wie etwa den östlich des Bahnhofs – besitzt und dass Hillebrechts Gesamtkonzept unter Preisgabe wertvoller historischer Bausubstanz und räumlicher Ensembles verwirklicht wurde. Ein zumindest partielles Zurück zu diesen früheren Zuständen, wie es hin und wieder in Teilbereichen wie der verschwundenen Leineinsel oder der Wasserkunst diskutiert wird, würde meines Erachtens ohne den notwendigen historischen Referenzrahmen als Fragment wiederum zur Verletzung eines, seinerseits Geschichte gewordenen, Stadtraumkonzeptes führen.

Vor einigen Jahren hat Hannover nun einen engagierten und intensiven stadtgesellschaftlichen Dialog zur Weiterentwicklung zentraler Bereiche der Innenstadt unter dem Namen ‚Hannover 2020‘ begonnen. Aufsetzend auf dem Raumkonzept des Wiederaufbaus wurden wesentliche Bereiche wie Leibnizufer, Marstall, Klagesmarkt und Köbelinger Markt fokussiert, deren Potenziale erforscht und in Wettbewerben präzisiert. Die ersten Projekte sind mittlerweile nach weiteren Bauwettbewerben in der Realisierung.

Und die Zukunft?
Sind das, was wir hier für unsere Verhältnisse diskutieren, nicht Luxusprobleme angesichts der globalen Entwicklung mit 60 Prozent Stadtbewohnern weltweit und mit starker Zunahme, einer zu erwartenden Migration, die vor allem die Städte treffen wird? Was Edward Soja für Los Angeles prognostiziert, könnte auch hier Realität werden – Segregation, Exopolis, Simcity!

Welche Rahmenbedingungen gelten heute, wenn der mündige Stadtbürger im Zeichen einer alle Lebensbereiche durchdringenden Kommerzialisierung vor allem Konsument, der Unternehmensführer kein kulturell verorteter Stadtbürger mehr ist, sondern leitender Angestellter, der am Wochenende zur Familie nach Hause fährt, wenn es statt inhabergeführter Geschäfte nur noch die immer gleichen Kettenfilialen oder den soundsovielten Rossmann gibt?

Im Interesse von Google oder Amazon wird die Zellwand der Persönlichkeit perforiert und in Echtzeit in sämtlichen Nuancierungen erfasst und bewertet. Jede intermediäre Instanz wird zum zeitfressenden Hindernis. Die politische Willensbildung folgt diesen Entwicklungen und ändert ihre Richtung entsprechend vorherrschender Stimmungslagen.

Botho Strauß beobachtet das „Verenden des Verstehens“, und damit meint er, dass sich die Vergesellschaftung der Bürger nicht mehr über den Kopf vollzieht, nicht mehr über einen bewussten Akt der Weltdeutung, sondern durch mediale Anpassung: In den hochverdichteten Strömen der Kommunikation spricht man, wie alle sprechen, und macht das, was alle machen. Der Einzelne ist ein „Masseteilchen der Kommunikation“.

Dass Stadt nicht nur als physische Realität, als sozialer Handlungs- und Deutungsraum, sondern als metaphorische Projektion und Entwurf einer künftigen Welt zu sehen ist, möchte ich abschließend mit einem Zitat von Luigi Snozzi zum Ausdruck bringen: „Der Bergsteiger ist glücklich inmitten der Berge, weil er hinter dem Horizont die Stadt weiß. Der Seefahrer ist glücklich mitten auf dem Meer, weil er hinter dem Horizont die Stadt weiß.“ (Luigi Snozzi)

Dipl.-Ing. Kai Koch (*1954) studierte Architektur an der Universität Hannover, wo er 1983 diplomierte. Bereits während seines Studiums erhielt er 1981 den Schinkelpreis Berlin. Seit 1985 ist er freischaffender Architekt in Hannover, ab 1997 in Partnerschaft mit Anne Panse (KOCH PANSE ARCHITEKTEN). Ab 2011 gehörte Kai Koch dem BDA-Präsidium an, seit Ende 2013 ist er Vizepräsident des BDA.

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