Wim van den Bergh

Wand und Raum

Van der Laans Dicke der Wand

The seven relationships of architectonic space:
The outside under the spell of the inside
The inside under the spell of the wall
The wall under the spell of its surface
The surface under the spell of its outline
The line under the spell of its measure
The measure under the spell of the plastic number
That number under the spell of the ground-ratio.

Dom Hans van der Laan (1)

In seinem Buch „Der Architektonische Raum, Fünfzehn Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung“ (2) weist Dom Hans van der Laan der „Dicke der Wand“ in der Ordinanz, das heißt im ganzen Maßwerk eines Gebäudes, eine absolute Hauptrolle zu.

Die Dicke der Wand ist für Van der Laan der quantitative Keim des ganzen Gebäudes, es ist das Maß, mit dem das „Grundverhältnis“ anfängt und welches dann in einer Reihe von sieben Beziehungen (siehe Zitat) den ganzen architektonischen Raum in seinem „Bann“ hält. In seiner Theorie des „architektonischen Raums“, und mit Hilfe seiner Theorie der „plastischen Zahl“, setzt er die Dicke der Wand als das „Grundverhältnis“ von Raum zu Wand ein, wobei die Breite der primären Raumeinheit bestimmt wird von der „Nähe“ der beiden Wände, die diese Breite definieren. Er kommt dabei mit seiner Theorie zu dem Schluss, dass idealerweise die Dicke der Wand 1 / 7 der Breite des sich zwischen den beiden Wänden ausweitenden Raums sein muss, um als eingefasster Raum wahrnehmbar und in dieser Wahrnehmbarkeit quantitativ erkennbar zu sein. Von da aus zieht sich das Spiel der von der plastischen Zahl bestimmten, dreidimensionalen Proportionen der Räume und der Bauteile weiter durch das gesamte Bauwerk.

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Innen und Außen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Innen und Außen

Dieses Maß ist also im Grunde eine Art DNA des Gebäudes, die kleinste Einheit, die, mittels Van der Laans Theorie der plastischen Zahl, alle Proportionen und Maße eines Gebäudes bestimmt. Dabei beruft er sich auf den klassischen Begriff der Ordinanz bei Vitruv: „Ordinanz ist das ausgewogene Zusammengehen der Maße der Bauglieder in jedem einzelnen Teil für sich und die Beziehung zu allen Proportionen des Gebäudes in Hinblick auf die Symmetrie. Dies wird durch die Quantität bewirkt. Diese Quantität wird durch das Annehmen von Maßeinheiten bestimmt, die dem Gebäude selbst in Form von elementaren Teilen der Bauglieder entlehnt und zum Gebäude als Ganzem in Bezug gebracht werden.“ (S.78)

Das Problem bei dieser Betrachtungsweise liegt allerdings darin, dass das Gebäude bei Van der Laan Wände haben muss, die den Raum definieren. Genauer gesagt, muss das Gebäude massive Wände, sprich Mauern haben, um Van der Laans Binom von Voll und Hohl, sprich Wand und Raum, zu entsprechen.

Damit platziert Van der Laan seine Theorie exklusiv in eine Baukultur des Massiv- oder Steinbaus, die im Gegensatz zum Skelett- oder Fachwerkbau steht. Aber warum, so könnte man fragen, würde im Skelett- oder Fachwerkbau der vitruvsche Begriff der Ordinanz und Van der Laans Theorie der plastischen Zahl nicht greifen? Denn bei Vitruv wird ja nur über „Maßeinheiten, die den elementaren Teilen der Bauglieder entlehnt sind“ gesprochen und die Theorie der plastischen Zahl selber war anfänglich nichts anderes als der Versuch, den sich um uns erstreckenden Raum mittels eines Systems von unterscheidbaren Maßen zu ordnen, die auf eine für uns erkennbare Art und Weise volumetrisch miteinander in Beziehung stehen. Also eine Reihe von Proportionen, die in drei Richtungen (Länge, Breite, Höhe) zueinander in Bezug stehen; wobei aber das System der Maße völlig unabhängig ist von der Größe der Maße an sich.

Auf diese Frage werde ich später zurückkommen, zuerst möchte ich im Kontext der Wand kurz auf die beiden Begriffe Wand und Mauer eingehen. Beide Begriffe entstammen unterschiedlichen Baukulturen und sind daher nur eingeschränkt miteinander vereinbar.

1 Zentraler Hof mit zentraler Zelle 2 Zentraler Hof mit peripherer Zelle 3 Zentraler Hof mit peripherer Juxtaposition von Zellen 4 Peripherer Hof mit zentraler Zelle 5 Peripherer Hof mit peripherer Zelle 6 Peripherer Hof mit peripherer Juxtaposition von Zellen 7 Periphere Juxtaposition von Höfen mit zentraler Zelle 8 Periphere Juxtaposition von Höfen mit peripherer Zelle 9 Periphere Juxtaposition von Höfen mit peripherer Juxtaposition von Zellen

1 Zentraler Hof mit zentraler Zelle
2 Zentraler Hof mit peripherer Zelle
3 Zentraler Hof mit peripherer Juxtaposition von Zellen
4 Peripherer Hof mit zentraler Zelle
5 Peripherer Hof mit peripherer Zelle
6 Peripherer Hof mit peripherer Juxtaposition von Zellen
7 Periphere Juxtaposition von Höfen mit zentraler Zelle
8 Periphere Juxtaposition von Höfen mit peripherer Zelle
9 Periphere Juxtaposition von Höfen mit peripherer Juxtaposition von Zellen

Der Begriff Wand entstammt der germanischen Baukultur des Skelett- und Fachwerkbaus. Wand bedeutet etymologisch „Gewundenes, Geflochtenes“ und ist mit winden verwandt. (3)

Wände wurden ursprünglich geflochten aus Zweigen (Weidenruten, Binsen) und dann beidseitig mit strohvermischtem Lehm beworfen und bestrichen, um sie so abzudichten.
Eigentlich handelt es sich also um eine relativ dünne Fläche, eine Wand, die einen Innen-Raum oder ein Außen-Volumen senkrecht begrenzt und so beidem, Innen-Raum und Außen-Volumen, seine Form gibt.

Der Begriff Mauer, lateinisch murus, (4) dagegen entstammt der römischen Baukultur des Massiv-, oder Stein- und Mauerwerksbaus, mit dem die Germanen erst mit dem Vordringen der Römer an Rhein und Donau bekannt gemacht worden sind. Daher sind auch eine Anzahl von ursprünglich lateinischen Bezeichnungen als Lehnwörter in die germanischen Sprachen eingegangen: Mauer, Ziegel, Mörtel, Kalk, tünchen, aber auch Fenster, Pforte, Pfeiler, Pfosten, Keller, das niederländische Zolder (Dachboden) und Kammer. Es ist übrigens interessant, dass in der französischen Ausgabe des Buches von Van der Laan, L’espace architectonique. Quinze leçons sur la disposition de la demeure humaine, der Begriff Wand mit mur und nicht mit, zum Beispiel, paroi übersetzt wurde. Auch in der englischen Ausgabe wird Wand übersetzt mit dem gebräuchlichen Begriff wall für Mauer und nicht mit paries (5), was dem ursprünglichen Begriff der (dünnen) Wand oder der Membran wesentlich näher kommen würde, aber nur selten benutzt wird. Also könnte man sagen, wenn man sehr genau sein möchte, dass in der deutschen und niederländischen Ausgabe der Begriff Wand eigentlich als Mauer gelesen werden müsste; jedenfalls da, wo es um Wand als Volumen und nicht als Fläche geht.

Was bei Van der Laan der allerkleinste primäre Raum ist, der direkt in Relation zur Dicke der Wand steht, der Raum also, der mit seinem Innen und Außen vermittelt zwischen dem Menschen und dem ihn umgebenden natürlichen Raum, ist der von ihm sogenannte „Handlungs-Raum“. Diesen kleinsten, durch Wände vom natürlichen Raum abgetrennten menschlichen Wohn- und Wahrnehmungsraum, benennt Van der Laan mit dem lateinischen Begriff cella (6) oder Zelle. Dieser „Handlungs-Raum“, der sich von seiner Innengröße her primär auf den statischen, mit seinen Armen und Händen handelnden Menschen bezieht, wird als primärer Erfahrungsraum in Bezug gesetzt zum „Geh-Raum“ als sekundärer Erfahrungsraum, dem sogenannten „Hof“, und dieser wird wiederum in Bezug gesetzt zum „Gesichtsfeld“, der sogenannten „Domäne“, als größter, auf den Menschen in seiner Mitte bezogenen Erfahrungsraum.

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Element, Stück, Teil und Ganzem

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Element, Stück, Teil und Ganzem

Aber konzentrieren wir uns zunächst auf diesen „Handlungs-Raum“. Für diesen primären Handlungsraum des menschlichen Wohnens kennt die deutsche Sprache (abgesehen von Begriffen wie Zelle und Keller, die direkt von cella abstammen) interessanterweise zwei (7) Begriffe, nämlich Kammer und Zimmer. Beim Vergleich der beiden Begriffe wird klar, dass wir es mit unterschiedlichen Arten von Räumen und auch wieder Baukulturen zu tun haben. Die Kammer ist in unserer Vorstellung immer kleiner als das Zimmer und in den Begriffen Speisekammer, Wunderkammer, Pulverkammer, Dunkelkammer spürt man noch gut, dass die irgendwie massiv gearteten Wände dieser Kammern (entweder von außen nach innen oder von innen nach außen) eine stark schützende Funktion haben.

Wie bereits gesagt: Der Begriff Kammer stammt aus der römischen Baukultur, vom lateinischen camera, ein aus Stein oder Ziegel aufgebauter Raum, mit einer aus dem gleichen Material aufgebauten gewölbten Decke, ohne dass es hierbei auf die Raumgröße ankommt. Bezieht man diese Form der camera auf das Maß des normalen Wohnhauses, dann versteht man, dass es sich bei einer Kammer, gerade durch die Art der Konstruktion, um einen relativ kleinen Raum mit dicken Wänden und einer massiven Decke handelt (so, wie es bei älteren Häusern noch in den gewölbten Kellerräumen sichtbar ist). Im Kontrast zu dem kleinen Maß der camera als Raum- und Konstruktionsform stehen natürlich die Räume in den großen institutionellen Bauten der Römer mit ihren weit gespannten Gewölben. Diesen großmaßstäblichen Begriff der camera finden wir heutzutage noch in der Namensgebung von Institutionen, wie zum Beispiel Kammergericht, Industrie- und Handelskammer oder auch Architektenkammer.

Im Gegensatz zu Kammer kommt der Begriff Zimmer vom altgermanischen Substantiv zimber oder zimbar, was soviel wie Bauholz bedeutet (wie auch das englische timber).
Die indogermanische Wurzel von zimber und zimbar wiederum bedeutet [zusammen]fügen, bauen, also das, was ein Zimmermann macht, wenn er einen Skelett- oder Fachwerkbau errichtet. Der Begriff Zimmer entstammt also einer ganz anderen Baukultur und man versteht, dass mit Holz relativ leichte Tragwerke mit Spanten und Balkendecken gebaut werden können. Die Dicke der Wand spielt in einer derartigen Konstruktion eine eher untergeordnete Rolle. Auf das Maß des normalen Wohnhauses bezogen bedeutet dies, dass in unserer Vorstellung das Zimmer immer irgendwie größer, heller und leichter ist, als die relativ kleine, dunkle und schwere Kammer. Nicht umsonst bedeutet auch Van der Laans lateinischer Begriff cella kleiner Raum, Vorratskammer und auch Keller.

Kommen wir zurück auf die Frage, ob im Skelett- oder Fachwerkbau der vitruvsche Begriff der Ordinanz und Van der Laans Theorie der plastischen Zahl ebenfalls greifen würden. „Es gibt drei Gründe, die Wand in offene und geschlossene Teile zu gliedern. Erstens muss es in der Wand eine Öffnung geben, um den Raum betreten und so erfahren zu können. Die Wand muss zweitens durchbrochen werden, damit sich die Wanddicke zeigt und so die Wand als Form sichtbar wird. Drittens können wir durch die Gliederung der Wand ihre Quantität kennen: Sie ermöglicht es uns nämlich, die Form der Wand insgesamt auf die Form der kleineren Teile und über diese auf einen elementaren Teil, der als Größeneinheit dient, zu beziehen und durch diese Beziehung das Maß der Wand zu erfassen.

Dies ist deshalb so wichtig, weil diese Abstimmung des Gebäudes auf unser Erkenntnisvermögen die Form der Wand unter den Einfluss der quantitativen Ordnung der plastischen Zahl bringt. Wir haben aber gesehen, dass das Massiv der Wand eine gewisse Ambivalenz hat: Es ist nicht nur die Materie, in der sich die Quantität offenbart, sondern durch seine Form auch die Grundlage der Form des Raums, der zwischen den Wänden entsteht. Wir haben diesen architektonischen Raum deshalb als die Nähe von zwei Wänden beschrieben, die durch die Relation zwischen dem Abstand und der Dicke der Wände bestimmt wird.“ (S. 163) Dies schreibt Van der Laan am Anfang von Kapitell XII seines Buches, das von der Disposition des Hauses handelt und dabei hebt er selbst die Worte erfahren, sichtbar und kennen kursiv hervor.

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Man muss den Raum erfahren, die Wand muss als Form sichtbar werden und man muss durch die Gliederung der Wand ihre Quantität kennen, denn erst dann ist es uns möglich, das Ganze auf einen elementaren (als Größeneinheit dienenden) Teil zu beziehen.
Damit ist genau das gemeint, was Vitruv mit dem Begriff Ordinanz benennt, nämlich „Maßeinheiten, die den elementaren Teilen der Bauglieder entlehnt sind“. Für Van der Laan ist diese Maßeinheit des elementaren Teils die Dicke des Bauglieds Wand. Oder besser gesagt (wie oben ausgeführt), die Dicke des Bauglieds Mauer. Diese muss nämlich als massive volumetrische Form sichtbar werden, um durch seine „Nähe“ zu einer anderen (parallel dazu stehenden) Wand den Raum zu definieren und diesen erfahrbar zu machen.

Diese andere parallele Wand nun ist insofern interessant, als das es sich dabei eigentlich nur um eine wahrnehmbare Fläche handelt, deren andere Seite und Dicke man nicht unbedingt kennen muss, um den Raum als Raum erfahren zu können und in seiner volumetrischen Quantität (seinen Maßverhältnissen) zu kennen. Hier könnte man sich jetzt fragen, ob das Gleiche nicht für alle Wände gilt? Van der Laan sagt selbst, dass wir „durch die Gliederung der Wand ihre Quantität kennen“, aber meint damit eigentlich die Gliederung der Mauer als massives volumetrisches Element. Wie wäre es aber, wenn wir gerade durch die Gliederung der Wandfläche, und nicht durch die Dicke der Mauerwand, die Quantität des Raums wahrnehmen und als hohles Volumen in seiner Quantität kennen könnten?

An einer weiteren Stelle – hier geht es um die Gattungen räumlicher Disposition, also um Räume, die durch eine einzige „Nähe“ und Räume, die durch zwei „Nähen“ bestimmt werden (den Längsbau und den Zentralbau) – spricht Van der Laan kurz über das Zelt als „primitivstes Stadium der menschlichen Behausung“. (S. 165) Obwohl es ihm nur darum geht, zu zeigen, dass es zwei Grundformen gibt, die runde und die lange Form (8), bestätigt er hier implizit, dass das Zelt eine menschliche Behausung, also einen primären Raum definiert. Ein Raum, der nicht durch Wände in Form von Mauerflächen, sondern durch Wände in Form von Membranflächen definiert wird. Wände ohne signifikante Dicke, die aber auch eine Form der Gliederung brauchen, um eine gewisse Form von Stabilität zu bekommen.

Am besten kann man dies vielleicht an der traditionellen japanischen Architektur mit ihrem Fachwerkbau zeigen, bei dem die Pfosten das konstruktive Traggerüst bilden und die Innen- und Außenwände dadurch sehr dünn und mobil sein können. Das traditionelle japanische Haus ist nach der sogenannten Kiwariho-Methode maßlich bis in die kleinsten Details genormt. (9) Das Grundmaß dabei ist der shaku, der Fuß von gut 30 Zentimeter. Der Ken (von 6 in Tokyo bis 6,5 shaku in Kyoto) ist das Längenmaß der Tatami-Matte (± 181 bis 197 Zentimeter), deren Breite die Hälfte (± 91 bis 98,5 Zentimeter) ist. Der Ken ist dadurch zugleich eine Zwischenmaßeinheit der Pfosten (hashira) des Hauses. Raum- und Hausgrößen werden ausgedrückt in Tatami-Matten (beispielsweise ein Haus von 35 Matten oder ein Wohnzimmer von acht Matten). Die Zimmerhöhe richtet sich dabei nach der Größe des Zimmers. Den Mattengrößen entsprechen aber auch die Wandschränke, die Breite und Höhe der inneren Schiebetüren (fusuma), die Höhe des luftdurchlässigen Sturzes über den Schiebetüren (ramma), die Schiebeelemente der Außenwände (shoji). Und obwohl man durch das Entfernen der Schiebetüren zwischen den unterschiedlichen Räumen eine Art Flexibilität der Räume vortäuschen kann, ist in Wirklichkeit jeder Raum immer in seinem Format und seinem Ausmaß festgelegt und ablesbar durch die Schienen der fusuma und der heruntergezogenen ramma.

Thema 16-4_Van der Laan_08

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Thema 16-4_Van der Laan_09

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Dom Hans van der Laan, Der architektonische Raum, Verhältnis von Wand und Raum, Raumfolgen

Die Ordinanz eines traditionellen japanischen Hauses ist der von Van der Laan also gar nicht so unähnlich. Und da der Japaner in seinem Haus auf den Knien sitzt, und dadurch wesentlich statischer in seinen Räumen verbleibt (als wir mit unseren hohen Möbeln), so könnte man hier wirklich von einem „Handlungs-Raum“ sprechen, während es sich beim „Geh-Raum“ auch wirklich um einen Außenraum oder „Hof“ (inklusive der Veranda) handelt, der vom Gartenzaun definiert wird. Und auch das „Gesichtsfeld“, Van der Laans „Domäne“, stimmt stark überein mit dem, was der Japaner die „geborgte Landschaft“, Shakkei nennt.

Meiner Meinung nach ist Van der Laans Theorie des „architektonischen Raums“ und seiner „plastischen Zahl“ vergleichbar mit der japanischen Kiwariho-Theorie. Beide gehen von den Flächen aus, die sowohl das Massive (das Außenvolumen oder das „Volle“) definieren, wie auch den Raum (das Innenvolumen oder das „Hohle“). Der große Unterschied liegt aber darin, dass Van der Laan von der Gliederung des dreidimensionalen Massivs der Mauer ausgeht und die Japaner von der Gliederung der Flächen des dreidimensionalen Raums. Das, was bei Van der Laan das „Grundverhältnis“, sprich die Dicke der Wand ist, nämlich 1 / 7 der Breite des Raums, ist bei den Japanern der shaku, nämlich das 1 / 6 bis 1 / 6,5 vom Ken, sprich die Länge der Tatami-Matte und das Zwischenmaß der Pfostenstellung. Ein Maß, das mit seinen Unterteilungen bei den Japanern die Gliederung aller sechs, den Raum definierenden Flächen bestimmt und nicht nur der vier Wände, wie bei Van der Laan.

Bei Van der Laan ist das System der Maße der „plastischen Zahl“ völlig unabhängig von der Größe der Maße an sich, es geht von der menschlichen Wahrnehmung aus und dessen Unterscheidungsvermögen. Daraus entwickelt er eine Reihe von acht Maßverhältnissen (1, 4 / 3, 7 / 4, 7 / 3, 3, 4, 16 / 3 und 7), die sich in drei Dimensionen ausbreiten können. Van der Laan versuchte, mit den Maßverhältnissen seiner „plastischen Zahl“ (genau wie Le Corbusier es in seinem Modulor versuchte), die für unser Auge schöne Proportion des Goldenen Schnitts mit einer, für unseren Verstand kennbaren, zahlenmäßigen Ordnung zu versöhnen (wie Fibonacci mit seiner Reihe), dies jedoch in einer dreidimensionalen Betrachtung. Zieht man jetzt mit in Betracht, dass kiwariho  „die Kunst, Holz zu spalten“ bedeutet, um so eine Harmonisierung der Dimensionen von Baukomponenten zu bewirken, und eine derartige zahlenmäßige Reihe immer beim Doppelquadrat (wie der Tatami-Matte) anfängt, dann wird man verstehen, dass vermutlich viele dieser acht Maßverhältnisse auch in der traditionellen japanischen Architektur zu finden sind.

Der große Unterschied zu Van der Laan liegt aber darin, dass die Japaner, ausgehend vom Doppelquadrat der Tatami-Matte, den Raum sofort in seinen Proportionen ablesbar und zahlenmäßig kennbar machen. Bei Van der Laan hingegen ist man auf das Ablesen der Kanten einer dreidimensionalen Voll- oder Hohlform angewiesen, die man aber in Wirklichkeit nie simultan in drei Dimensionen (Höhe, Breite und Tiefe) wahrnehmen kann, denn zumindest eine Dimension wird immer in der Tiefe perspektivisch verkürzt wahrgenommen werden. Die Japaner lösen das Problem dieser proportionalen Ablesbarkeit, vermutlich nicht umsonst, mittels genau der Fläche des architektonischen Raums, die man immer perspektivisch verkürzt wahrnimmt, nämlich den Fußboden, während Van der Laan dazu immer die Wahrnehmung der (Wand-)Flächen in drei Dimensionen benötigt, anfangend mit der Dicke der Wand.

Anmerkungen
1 Padovan, Richard: Dom Hans van der Laan, Modern Primitive, Architectura & Natura Press, 1994, S. 104.
2 Van der Laan, Dom Hans: Der Architektonische Raum. Fünfzehn Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung, Brill, Leiden, 1992.
3 Siehe zur Etymologie: Duden, Bd. 7: Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter bis zur Gegenwart.
4 Aus dem Frühlateinischen, Duden, Bd. 7: Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter bis zur Gegenwart, moirus, abgeleitet von der indo-germanischen Wurzel pie. Zu dieser Wurzel gehören auch das lateinische moenia, Stadtmauern, Verteidigungswälle.
5 Paroi und paries entstammen dem lateinischen paries, was Wand und nicht Mauer (murus) bedeutet.
6 Cella, kleiner Raum, Vorratskammer, von dem auch Keller und Zelle abstammen, der Ursprung geht auf das indogermanische kel zurück, was bergen bedeutet.
7 Im Niederländischen kennt man nur einen Begriff, nämlich kamer, den man im deutschen mit Zimmer benennen würde.
8 „Bei der ersten Form gibt es nur einen einzigen Zeltpfosten und der Raum ist nicht orientiert. Bei der zweiten Form gibt es dagegen zwei Zeltpfosten und der Raum ist sehr wohl orientiert.”
9 Siehe dazu u. A.: Yoshida, Tetsuro: The Japanese House And Garden, New York, Praeger, 1955.

Univ-Prof. ir. Wim van den Bergh (*1955) studierte von 1973 bis 1977 Bauingenieurswesen in Heerlen und im Anschluss bis 1983 Architektur und Städtebau in Eindhoven. Zwischen 1993 und 2002 war er Leiter der Akademie für Baukunst in Maastricht, von 1996 bis 2000 Professor für Wohnbau und Entwurf an der TU Delft und der TU Eindhoven. Als Architekt, Designer und Städtebauer arbeitete er von 1983 bis 2001 zunächst in Heerlen, seitdem in Maastricht. Wim van den Bergh lebt und arbeitet in Maastricht und Aachen, wo er seit 2001 eine Professur für Wohnbau und Grundlagen des Entwerfens inne hat und Leiter des entsprechenden Lehrstuhls an der RWTH Aachen ist.

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