Uwe Schröder

Die Wand

Grenze der Architektur – Architektur der Grenze

Das Anordnen und Errichten von Räumen an Orten ist Aufgabe der Architektur. Mittels Wand und Wänden lässt Architektur die gebrauchten Räume erscheinen. Räume, architektonische Räume, sind stets Innenräume, die von Wänden begrenzt werden. An diesen Wänden hören die Räume aber nicht etwa auf, vielmehr fangen sie recht eigentlich dort erst an. Eine Grenze sei dasjenige, wie der Philosoph meint, von woher etwas sein Wesen beginne. (1) Auch ein architektonischer Raum ist etwas, das von den begrenzenden Wänden her wesentlich bestimmt wird und an diese fest gebunden ist. Insoweit sich also der Raum phänomenal der Wand entlehnt, wird die Wand als Grenze zur Wesensbestimmerin des Raumes.

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Hans Vredemann de Vries, Perspektive, 1604

Wand als „Raumgestalterin“

Mit der Idee des Raumes und seiner vorausahnenden Vorstellung beginnt die Architektur, mit Planung und Bau der Wände kommt der Raum zum Erscheinen. Über die Wand nimmt die Architektur Einfluss auf den Raum – nach innen wie nach außen – mit der Festlegung der Wandeigenschaften gestaltet sie Raum und Räume: „Im Zimmer gestalten wir doch nicht zuerst die Wände, den Boden oder die Decke, als vielmehr den Raum, den wir wohnend in Gebrauch nehmen. Wir bekleiden nicht Wände, sondern den Raum inmitten der Wände. Und erst das Gewand lässt den Raum als das Zimmer erscheinen.“ (2)

Wände bringen Raum und Räume originär hervor: Ohne Wand ist kein Raum, jedenfalls kein architektonischer Raum, kein Innenraum. Wände der Architektur sind – so gesehen – die komplementäre, stofflich-formale Antwort auf die Frage nach der räumlichen Verfasstheit des Wohnens und der Wohnenden selbst. Komplementär ist die Wirkung der Wand und des sich ihr scheinbar entlehnenden Raumes deshalb, weil sie – die Wand – den Raum vom Äußeren her nach innen hin bestimmt, während die Wohnenden den Raum aus dem Inneren heraus – das auch ihr eigenes ist – nach außen hin erleben. (3)

Obgleich nun die Wand den Raum wesentlich bestimmt, ist doch der Raum – wenngleich nur der Vorstellung nach – immer schon eine Voraussetzung der Wand. Gleichgültig ob es sich dabei um ein Zimmer oder eine Straße handelt, die Wand kann insofern als Matrize des Raumes und der Raum als Patrize der Wand beschrieben werden.

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Donjon, Chambois, 12. Jh.

Im Poché

Nimmt die Dicke der Wand etwa wegen der Wehrhaftigkeit oder auch der Tragfähigkeit zu, kann die Wand in ihrem Inneren über Öffnungen hinaus auch eigene Räumlichkeiten ausbilden. Solche Räume, zumeist sind es Wege, Treppen und kleinere Zimmer, ermöglichen nicht nur einen Aufenthalt im Massiv der Wand, sondern weisen mit ihrer Eigenheit auch auf das Raumbildungsprinzip der Subtraktion hin. Eine Polarität von additiver und subtraktiver Raumbildung, von Halle und Höhle, die zudem auch verschiedenen Sphären des Räumlichen – etwa dem Öffentlichen und Intimen (4), oder dem Diesseits und Jenseits zugeordnet sein kann, zeichnet diese Typologien aus.

Neben dieser regelhaften Zunahme der Wand ergibt sich eine vermeintlich unregelmäßige Zunahme des Massivs zumeist aus territorialen, geometrischen und/oder proportionalen Anforderungen der hier und da anschließenden Räume. Die formale Unregelmäßigkeit der Wand folgt dabei der Regelhaftigkeit der Räume nach. Im architektonischen Körper – hier verstanden als Kohärenz von Raum und Form – ist das Räumliche das erste und bestimmende Element.

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Piazza Ducale, Platz und Kirche, Grundriss Erdgeschoss, Vigevano, Italien 15 Jh.

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John Soane, Lincoln’s Inn Fields, London, England 1837

Offenhalten der Architektur

Wände sind in aller Regel zweiseitig raumwirksam. Sie verlaufen zwischen unterschiedlichen Räumen, zwischen drinnen und draußen, zwischen innen und außen, zwischen Zimmern und Wegen, zwischen Häusern und Straßen, zwischen Innenräumen und Außenräumen, zwischen Stadt und Land. Wände schließen ein und aus.

Über Öffnungen treten die Räume zu beiden Seiten der Wand in Verbindung. Über das Fenster tritt das Zimmer des Hauses mit der Straße oder dem Garten in Verbindung, über die Tür das eine Zimmer mit dem anderen. Öffnungen sind selbst auch Räume, je dann, wenn sie den Aufenthalt der Wohnenden innerhalb der Wand räumlich ermöglichen: in der Tür, im Fenster, in der Nische usw. Die Öffnungen geben die Dicke der Wand preis, die wiederum nicht nur mit Schwelle, Laibungen und Sturz in einem proportionalen Verhältnis zum Raum der Öffnung selbst stehen, sondern in gleicher Weise auch zu den außen wie innen anschließenden Räumen.

Hier im Besonderen hat sich die Architektur als Raumkunst der Grenze und des Übergangs zu erweisen. Unter den „Sechs Elementen der Baukunst“, die Alberti nennt, ist das Element Öffnung (apertio) der Schlussstein in seiner räumlichen Annäherung an die Architektur, welche zugleich auch eine Handlungsanweisung für das Entwerfen beinhaltet: „Öffnungen nennen wir alles, wodurch und wo immer bei einem Gebäude den Inwohnern und Sachen Ein- und Austritt gewährt wird.“ (5) Diese nüchterne Definition weist auf eine grundsätzliche Bedeutung hin, die sich vollständig aber erst im Zusammenhang mit den anderen fünf Elementen ergibt. Öffnungen schließen ja nicht nur die eingeteilten Räume (partitio) – die mit Wand (paries) und Decke (tectum) errichtet werden – im Inneren des Gebäudes räumlich aneinander an, sondern zugleich und vor allem auch die inneren Räume des Gebäudes an die äußere Räumlichkeit der Lage (area) und der Gegend (regio).

Zwischen den Räumen der Stadt und des Hauses vermittelt die Räumlichkeit der Wand. Mit der Raumgestaltung der Öffnung sucht die Architektur – nach dem Prinzip der Ähnlichkeit – die Entsprechung zwischen der räumlichen und der gesellschaftlichen Verfasstheit der Wohnenden herzustellen. So spiegelt sich in der Offenheit und/oder Geschlossenheit der Wand die gesellschaftliche Trennung von öffentlich und privat insofern wieder, als das räumlich Offene in seiner architektonischen Bedeutung auf das gesellschaftlich Öffentliche hinweist. Und schon allein das Maß der Öffnung weist räumlich oder über das Dekorum symbolisch auf eine Teilhabe an dem jeweils anderen Raum hin.

Wand als Gewand des Raumes

Dieses Offenhalten einer gesellschaftsgebundenen und gesellschaftsähnlichen Architektur hatte Gottfried Semper weniger mit der Räumlichkeit der Wand und ihrer Öffnung in Verbindung gebracht, als vielmehr mit ihrer symbolischen Bekleidung. Wände der Architektur, so der Theoretiker Semper, seien einem entwicklungsgeschichtlich bedingten „Stoffwechsel“ unterworfen. Der gesellschaftsgebundene Ursprung der Wand liege im Textilen und der Weberei und erst nachkommende Anforderungen an die Wand hätten andere Materialien und Techniken ins Spiel gebracht. In letzter Konsequenz sollte die Wand als Raumabschluss hinter der Maske der Malerei die Realität des Materials und der Konstruktion der Wand vergessen machen, und sich ganz ihrer wahren, weil ursprünglichen Idee widmen, der baulichen Repräsentation gesellschaftlicher Verfasstheit. (6)

Wände werden bekleidet, im Äußeren wie im Inneren. Bekleidungen lenken die Aufmerksamkeit von der konstruktiven und/oder materialen Notwendigkeit der Wand auf einen höheren Bedeutungszusammenhang: auf den des Raumes. Die technische Form der Wand wird zu Gunsten der Raumidentität und der Raumkultur in eine architektonische Form der Wand übersetzt, aus dem Kleid der Wand wird das Gewand des Raumes, aus dem formalen Ausdruck der räumliche Eindruck. Auch wenn wir beispielsweise – wenngleich recht einseitig – von der Fassade eines Gebäudes sprechen, dann ist Raum immer schon eingedacht, entweder als Raum der Straße vor dem Gebäude oder eben als Räumlichkeit der Wand selbst.

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Piazza di Sant‘Ignazio, Nuova Topografia di Roma del Nolli (1748)

Wandeigenschaften = Raumeigenschaften

Nicht allein wegen der ihr zugehörigen transdisziplinären Anlage ist die Architektur Grenzwissenschaft, vielmehr ist sie eine solche, wenn auch im übertragenen Sinn, weil sie gleichsam ihr ganzes Wissen mit Entwurf, Bau und Gestaltung von Wänden entfaltet. Die Wand als Grenze weist in der Gestaltung auf die sich ihr entlehnten Räume hin, mit der Öffnung als Übergang sind sie räumlich aneinander gebunden. Metrik, Tektonik und Materialität der Wand sind komplementär an Räume und Räumlichkeit der Wand gebunden.

Im Verlauf ihrer Geschichte hat die Architektur ein reiches räumliches Vokabular und die entsprechende Syntax hervorgebracht, anhand derer es ihr indes auch unter der veränderten, feinschattierten gesellschaftlichen Verfassung der pluralistischen Stadt möglich sein sollte, mit einer ähnlich differenzierten und kohärenten Raumgestaltung der Wand zu entsprechen…

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Piazza di Sant‘Ignazio (Rom 1727 – 1728), Filippo Raguzzini (1690 – 1771)

Prof. Dipl.Ing. Uwe Schröder (*1964) studierte Architektur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung der Fakultät für Architektur an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 bis 2010), an der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ (2016) und am Politecnico di Bari (2016). Uwe Schröder ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift.

Anmerkungen
1 Vergl.: Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken, in: Bartning, Otto (Hrsg.): Mensch und Raum, Darmstädter Gespräch 1951, Darmstadt 1952, S. 78 f.
2 S. Verf., in: Ders., …der Malerei des Teppichs eingedenk. Wandmaske und Raumbekleidung, in: der architekt 5/13: farbe bekennen. elemente der architektur II, Oktober 2013, S. 54 f.
3 Ebd.
4 Terminologie nach Ludwig Borchardt, in: Ders.: Das Grabmal des Königs S‘ahu-Re, Band I: Der Bau, Leipzig 1910.
5 Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, ins Dt. übertr., eingeleitet und mit Anm. und Zeichn. vers. durch Max Theuer (1912), Darmstadt 1991, S. 22.
6 Vgl. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Erster Band. Textile Kunst. Frankfurt/Main, 1860, §. 60. „Das ursprünglichste auf den Begriff Raum fussende formelle Princip in der Baukunst unabhängig von der Konstruktion. Das Maskiren der Realität in den Künsten.“, S. 227 ff., hier S. 231, Fußnote 2.

Abbildungen
Abb. 1 aus: Müller, Werner: Barocke Raumphantasie. Gebaute Wirklichkeit und konstruierter Schein, Petersberg 2004, S. 129.
Abb. 2 aus: Albrecht, Uwe: Von der Burg zum Schloß. Französische Schloßbaukunst im Spätmittelalter, Worms, 1986, S. 141.
Abb. 3: Vigevano, Grundriss Erdgeschoss, nach einer Zeichnung von Bonzanini, Mario / Rossi, Sandro, 1976 (Ausschnitt).
Abb. 4 aus: Richardson, Margaret / Stevens, Mary Anne: John Soane Architect, London 1999, S. 153.
Abb. 5 aus: Romplan Nolli (Ausschnitt)
Abb. 6 aus: Norberg-Schulz, Christian: Architektur des Spätbarock und Rokoko, Stuttgart 1975, S. 25.

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