Wolfgang Welsch über die Permanenz der Schönheit

Zur universalen Schätzung des Schönen

An dieser Stelle geben wir den Essay von Wolfgang Welsch wieder, den wir in gekürzter Fassung im Heft 5/15 mit dem Titel „beständigkeit der schönheit“ veröffentlicht haben.

Wenn ich im folgenden das Schöne thematisiere, so hinsichtlich einer einzigen Frage: Gibt es universale Formen des Schönheitsempfindens? Die Konzentration auf diesen Punkt zwingt dazu, andere Probleme, die mit dem Thema des Schönen verbunden sind, beiseitezulassen, beispielsweise die Unterscheidung zwischen dem Natur- und dem Kunstschönen oder die Frage, inwiefern Schönheit für Kunst konstitutiv ist oder nicht. Es soll im folgenden ausschließlich um die Frage gehen, ob und gegebenenfalls welche Typen universaler Schätzung von Schönem es gibt.

Das Faktum: Universale Schätzung von Schönheit.

Universalität trotz kultureller Varianz

Die Ausgangsthese ist sehr einfach. Sie besagt: Schönheit wird in allen Kulturen geschätzt. Alle Menschen schätzen Schönes. Die Schätzung von Schönheit ist universal. Das bedeutet freilich nicht, dass alle Menschen dasselbe als schön betrachten würden. In unterschiedlichen Kulturen kann durchaus Verschiedenes als schön angesehen werden. [1] So gelten Tattoos in manchen Kulturen als schön, in anderen eher als abstoßend. Und innerhalb ein und derselben Kultur kann sich die Einschätzung, ob etwas schön sei oder nicht, historisch verändern; in Europa beispielsweise galten die Gebirge bis ins 18. Jahrhundert als abschreckend und wurden erst dann als erhaben und im weiteren Verlauf als schön empfunden. Kurzum: Es ist zwar so, dass in allen Kulturen einiges als schön gilt und entsprechend geschätzt wird, aber was im einzelnen als schön angesehen wird, kann differieren.

Das könnte die Vermutung nahelegen, dass Schönheit grundsätzlich ein kulturelles Konstrukt sei, dass allenfalls das Verlangen nach Schönheit als solches universal sei, die konkrete Bestimmung des Schönen jedoch jeweils eine kulturelle Angelegenheit darstelle. Diese Auffassung käme der heute in den Human- und Kulturwissenschaften dominierenden Denkweise entgegen, nach der alles (gar noch die Natur) ein Produkt kultureller Konstruktion sei.

Aber so ist es nicht. Es gibt tatsächlich universale Muster des Schönheitsempfindens – ästhetische Präferenzen, die für Menschen in jeder Kultur gleichermaßen gelten. Alle Menschen schätzen Gegenstände, die diesen Mustern entsprechen, als schön ein. – Ich werde im Folgenden drei Typen solch universalen Schönheitsempfindens vorstellen.[2]

Ein erster Typus universaler Schätzung von Schönem: auf Landschaften und menschliche Körper bezogen

Ein erster Typus bezieht sich auf nur zwei Gegenstandsarten: auf Landschaften und auf menschliche Körper. Man hat herausgefunden, dass alle Menschen savannenartige Landschaften schätzen – unabhängig davon, ob sie solche Landschaften aus ihrem Lebensraum kennen oder jemals durch Reisen kennengelernt haben. Die Einhelligkeit der Savannenpräferenz ist Kulturen- und Sozialschichtenübergreifend. [3] Das heißt nicht, dass nicht auch andere Landschaftstypen geschätzt werden könnten, etwa Gebirgslandschaften. Nur ist deren Schätzung nicht universal. Sie kann vielmehr von Kultur zu Kultur sowie innerhalb einer Kultur von Schicht zu Schicht und von Individuum zu Individuum variieren.

Was menschliche Körper angeht, so gelten ein betont symmetrischer Körperbau und Gesichtsschnitt als schön.[4] Zudem werden makellose Haut und kräftiges, glänzendes Kopfhaar universell als schön eingestuft.[5] Ferner gibt es Präferenzen, die Proportionen des Körperbaus betreffen. So hat eine Studie von Devendra Singh 1993 gezeigt, dass Männer weltweit bei Frauen eine Taille-Hüfte-Proportion von 7 : 10 als ideal ansehen.[6] Der Befund könnte unglaubhaft erscheinen. Wir wissen doch, dass in manchen Kulturen üppigere und in anderen schlankere Körperformen bevorzugt werden – also kann es doch kein universales Idealmaß geben. Dieser Hinweis ist richtig, steht aber nicht in Widerspruch zu der Behauptung, dass universal ein Taille-Hüfte-Verhältnis von 7 : 10 bevorzugt werde. Denn dieses Verhältnis kann natürlich in unterschiedlichen absoluten Zahlen realisiert sein – beispielsweise sowohl mittels der in Europa geläufigen 60 : 90-Zentimeter-Proportion als auch durch eine in anderen Kulturen bevorzugte Proportion von 80 : 115 Zentimetern. So beruht, was an der kulturellen Oberfläche als unterschiedlich erscheint, eben doch auf einem interkulturell gemeinsamen Tiefenmaß, eben der Proportion 7 : 10.

Dem ist generell die Warnung zu entnehmen, kulturelle Unterschiede nicht partout für das letzte ihrer selbst anzusehen und von da aus einem fröhlichen Kultur-Relativismus und Anti-Universalismus das Wort zu reden, sondern in jedem Fall erst einmal zu prüfen, ob die kulturellen Differenzen nicht, genauer betrachtet, ein universales Muster nur auf unterschiedliche Weise realisieren.

Dieser erste Typus ästhetischer Universalien ist, was mögliche schöne Gegenstände angeht, sehr beschränkt. Nur Landschaften und Körper kommen in Frage. So ist dieser einfachste Typus universeller Schätzung zugleich der begrenzteste.

Ein zweiter Typus: die universale Schätzung atemberaubend schöner Kunstwerke

Das ist beim zweiten Typus anders. Er bezieht sich auf her-ausragende kulturelle Gebilde, etwa auf Kunstwerke. Man denke beispielsweise an das Taj Mahal oder an die Mona Lisa oder an Beethovens Neunte Symphonie. Auch solche Werke erfreuen sich universaler Schätzung. Sie faszinieren Menschen jeglicher Herkunft, Menschen aus allen Kulturen.[7] Dabei kommen als Gegenstände oder Themen nun nicht mehr nur Landschaften und Körper infrage, sondern ebenso Fabelwesen, Alltagsgegenstände, abstrakte Konfigurationen usw. Das Feld ästhetischer Schätzung ist hier potentiell für alle möglichen Gegenstände offen.

Nun ist das Faktum einer universalen Schätzung herausragender Werke, an sich betrachtet, höchst erstaunlich. Denn man hat es dabei offenbar mit hochgradig kulturspezifischen Produkten zu tun: das Taj Mahal konnte nicht in Bayern, sondern nur in Indien entstehen; die Mona Lisa wäre zu ihrer Zeit in Japan undenkbar gewesen, sondern konnte nur im Zug der italienischen Renaissance gemalt werden; und Beethovens Neunte gehört so sehr zur Wiener Klassik wie Éluards Dichtung zum französischen Surrealismus. Dennoch erfahren diese hochgradig kulturspezifischen Werke eine kulturenübergreifende Schätzung.[8] Sie werden transkulturell (quer durch die Kulturen), sie werden universal als großartige Werke geschätzt, ganz unabhängig von der kulturellen Herkunft und Bildung der Rezipienten.[9]

Ein Beispiel dafür ist der Ginkakuji-Tempel in Kyoto. Viele Menschen, die zum ersten Mal nach Japan kommen und diese Tempelanlage sehen, sind von ihr tief fasziniert und verweilen dort stundenlang. Sie werden vom Magnetismus des Ortes gefangen genommen. Und diese Faszination – darauf kommt es an – stellt sich unabhängig von kulturellen Vorbedingungen ein. Sie betrifft ausländische ebenso wie inländische Besucher. Und sie setzt offenbar kein kulturelles Vorwissen voraus: den meisten ausländischen Besuchern fehlt dieses ohnehin, aber auch die meisten japanischen Besucher haben von der Kultur des 15. Jahrhunderts wenig Ahnung und von der besonderen Situation, aufgrund derer der Shogun Yoshimasa diese Anlage errichtete, schon gar nicht.

Ginkakuji, Kyoto, Foto: Oilstreet, Wikimedia CC BY 2 5

Ginkakuji, Kyoto, Foto: Oilstreet, Wikimedia CC BY 2 5

Wie kann es sein, dass etwas so sehr Kulturspezifisches zugleich universale Attraktivität besitzt? Anscheinend wird durch solche Werke eine Schicht in uns angesprochen, die tiefer liegt als unsere kulturellen Prägungen und die deshalb auch universaler ist und somit ein kulturen-übergreifendes Verstehen ermöglicht. Die menschliche Verfassung scheint (mindestens) zwei Etagen aufzuweisen: das »Piano nobile«, das edle Obergeschoß, auf das wir gemeinhin achten und das durch die Prägungen der jeweiligen Kultur bestimmt ist, in der wir aufgewachsen sind und der wir uns zugehörig fühlen; und eine oftmals übersehene Sockelzone, welche diesen kulturellen Prägungen voraus- und zugrundeliegt und sie trägt, ohne ihrerseits durch sie bestimmt zu sein. Diese Tiefenschicht ist – im Unterschied zum kulturspezifischen »Piano nobile – universal«.[10][11]

Die Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts hat lange Zeit von einem solchen Sockel nichts wissen wollen und über die Annahme von Universalien herablassend gelächelt – bis schließlich einige lieb gewordene Axiome des kulturellen Relativismus im Licht empirischer Untersuchungen wie ein Kartenhaus zusammenfielen, sodass man die Augen vor der Existenz von Universalien nicht mehr verschließen konnte.[12] Dabei rückten zuerst emotionale und mimische und dann ästhetische Universalien in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Erklärungen

Nachdem ich bislang zwei Typen universaler Schönheitserfahrung im Grundriss vorgestellt habe (der dritte Typus wird später folgen), mache ich mich nun an die Erklärungsaufgabe.

Evolutionsbiologisch erklärbare Schönheitsmuster (Landschafts- und Körperpräferenzen)

Der erste Typus, die universale Schätzung bestimmter Landschafts- und Körpertypen, hat eine evolutionsbiologische Erklärung.
Für die Savannenpräferenz lautet sie folgendermaßen: Unsere Bevorzugung savannenartiger Landschaften, die Weitblick gewähren, einen Wasserlauf oder eine Quelle erkennen lassen und ebenso einige Bäume aufweisen (die Schatten spenden oder zur Flucht vor Tieren dienen können), rührt daher, dass derlei Gegenden während der langen Periode der Menschheit, als die Savanne ihr bestimmender Lebensraum war, überlebensgünstige Gegenden darstellten.[13] Wer damals darauf programmiert war, auf solche Landschaften positiv zu reagieren, der war, wenn es darum ging, einen neuen Lebensraum zu erschließen, ein guter Anführer. Das hat auf lange Sicht zur Selektion dieser Präferenz im menschlichen Genom geführt. Und weil unser Genom sich seit der Steinzeit kaum mehr verändert hat, ist diese Prägung auch in uns noch lebendig. Deshalb schätzen noch wir, die wir nicht mehr in Savannen leben, allesamt diesen Landschaftstyp.[14]

Auf ähnliche Weise finden die körperbezogenen Präferenzmuster (etwa die Bevorzugung symmetrischen Körperbaus oder glatter Haut oder eines Taille-Hüfte-Verhältnisses von 7 : 10) eine evolutionsbiologische  Erklärung. Diese körperlichen Merkmale waren (so die verbreitete Theorie) Signale für gute Gene bzw. für Fruchtbarkeit und wurden dementsprechend selektiert.[15] Und wieder gilt: Weil sich das menschliche Genom in der kulturellen Periode kaum noch verändert hat, sind auch wir heutigen Menschen noch durch diese Prägungen bestimmt. Die alten Schemata bilden den Grund unserer Bewertungen, an dem kulturelle Überformungen dann zwar ansetzen, den sie aber nicht einfach außer Kraft setzen.

Donald Symons hat die evolutionsbiologische Erklärung der auf die Schönheit von Landschaften und Körpern bezogenen ästhetischen Universalmuster auf eine griffige Formel gebracht: »beauty is in the adaptations of the beholder«.[16] Der ältere Standardsatz der Ästhetik hatte gelautet: »beauty is in the eye of the beholder«. Diese Formel sollte die Subjektivität der Empfindung des Schönen zum Ausdruck bringen. Evolutionsbiologisch aber ist klar, dass unser Auge kein unschuldiges und subjektivistisches Auge, sondern ein durch alte biologische Anpassungen stammesgeschichtlich geprägtes Auge ist. Derlei Anpassungen liegen der Empfindung des Schönen zugrunde – daher »beauty is in the adaptations of the beholder«.

Generellere Schönheitsmuster: Symmetrie und komplexere Formen der Selbstähnlichkeit

Was jedoch den zweiten Typus universalen Schönheitsempfindens angeht – die Faszination durch die atemberaubende Schönheit kultureller Gebilde –, müssen wir offenbar nach einer anderen Erklärung Ausschau halten. Die evolutions-biologischen Muster einer 7 : 10-Proportion bei Körpern oder der Savannenpräferenz können dafür nicht ausreichen.

So haben ja die wundervollen Proportionen des Taj Mahal offenbar nichts mit der zuvor erwähnten Taille-Hüfte-Proportion zu tun, weshalb sich die Tatsache, dass wir die Proportionen des Taj Mahal schätzen, nicht als Effekt einer Übertragung des in Bezug auf menschliche bzw. weibliche Körper entwickelten Präferenzmusters auf architektonische Gebilde erklären lässt. Ebenso mag Leonardo da Vincis Mona Lisa zwar auch aufgrund ihrer Hintergrundslandschaft faszinierend sein, aber es handelt sich dabei eben nicht um eine gefällige Savannenlandschaft, sondern um einen gegenteiligen Typus, um eine wilde Gebirgslandschaft.

Taj Mahal, Agra India, Foto: Yann

Taj Mahal, Agra India, Foto: Yann

Wir werden, wenn wir die Faszination durch kulturelle Gebilde erklären wollen, nach wesentlich allgemeineren, nicht auf bestimmte Gegenstände (Landschaften und Körper) beschränkten Kriterien suchen müssen, denn im Bereich der Kunst kommen, wie zuvor gesagt, alle möglichen Gegenstände als Schönheitskandidaten in Frage. Daher muss man hier weit eher nach formalen als nach materialen Kriterien Ausschau halten (wie man das in der Tradition der Ästhetik auch immer wieder getan hat), also nach Kriterien, die, eben als formale, für die Schönheit von Objekten aller möglichen Art ausschlaggebend sein können. Welche Kriterien kommen dafür in Frage?

Symmetriepräferenz

Als erstes könnte man an unsere Präferenz für Symmetrie denken.[17] Zwar spielte Symmetrie schon bei der Schönheitstaxierung der Geschlechtspartner eine Rolle, aber wir schätzen Symmetrie eben nicht nur in Bezug auf Körperbau und Gesichter, sondern weit darüber hinaus: bei Pflanzen ebenso wie in der Architektur oder bei geometrischen Gebilden und selbst bei Zahlenfolgen. Es ist recht unwahrscheinlich, dass diese allgemeine Symmetriepräferenz als Generalisierungseffekt einer ursprünglich nur auf Körper bezogenen Bevorzugung von Symmetrie zu erklären ist.[18] Sie dürfte einen weitaus allgemeineren Grund haben. – Worin könnte dieser liegen?

Generelle Präferenz für Selbstähnlichkeit

Es gibt verschiedene Formen von Symmetrie. Die einfachste liegt bei der Spiegel- oder Achsen-Symmetrie vor. Dabei sind die rechte und die linke Hälfte eines Gebildes, auf eine zentrale Spiegelungsachse bezogen, genau gleich.

Allerdings befriedigt uns diese simpelste Form von Symmetrie ästhetisch nicht recht. Vollkommen symmetrische Gesichter empfinden wir geradezu als langweilig. Man kann sich das anhand von Dürers Selbstbildnis von 1500 klarmachen. Niemand wird bezweifeln, dass man hier ein besonders schönes Gesicht vor sich hat. Aber ist es symmetrisch? Wenn man die beiden Gesichtshälften separiert und jeweils spiegelbildlich zu einem vollen Gesicht ergänzt, stellt man nicht nur fest, wie unterschiedlich die beiden so entstehenden Gesichter sind, sondern auch, dass diese perfekt symmetrischen Gesichter weitaus weniger attraktiv sind als das Ausgangsgesicht, das keineswegs vollkommen symmetrisch ist, dafür aber umso lebendiger wirkt. – Die Spiegel- oder Achsensymmetrie als solche kann es also nicht sein, was unsere ästhetische Faszination erzeugt.[19]

Wie aber steht es mit dem nächst-komplexeren Typ von Selbstähnlichkeit, mit dem Goldenen Schnitt? Im Unterschied zur Spiegelsymmetrie erfolgt die Teilung einer Strecke hier nicht in der Mitte, sondern so, dass der dadurch entstehende kürzere Teil sich zum längeren so verhält wie dieser zur Gesamtstrecke.[20]

Eine Proportionierung nach dem Goldenen Schnitt galt in der abendländischen Kunst lange Zeit als vorbildlich. Man sprach dafür sogar von der »göttlichen Proportion«.[21] Die Beispiele reichen von der griechischen Architektur bis ins 20. Jahrhundert.[22] Aber nicht nur in unserer Kultur wird der Goldene Schnitt bevorzugt, sondern eine Proportionierung nach dem Goldenen Schnitt wird, wie neuere Studien zeigen, in allen Kulturen als besonders wohlgefällig beurteilt.[23] Auch diese Präferenz ist universal. Ein eindrucksvolles außereuropäisches Beispiel ist der Steingarten des RyØan-ji in Kyoto – der wohl berühmteste Steingarten nicht nur Japans, sondern der ganzen Welt. Man hat lange gerätselt, welcher Algorithmus der Anordnung der Steine zugrunde liegen könnte und warum deren Arrangement trotz der scheinbaren Zufälligkeit ihrer Platzierung insgesamt eine so vollendete Harmonie ausstrahlt. Inzwischen hat man herausgefunden, dass sowohl die Maße der rechteckigen Sandfläche als auch die Entfernungen der Steine zueinander sowie zur Umfassung nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts angelegt sind.[24]

Ryoan-Ji, Kyoto, Foto: cquest, Wikimedia CC BY 2 5

Ryoan-Ji, Kyoto, Foto: cquest, Wikimedia CC BY 2 5

Was aber ist das Besondere am Goldenen Schnitt? Warum löst diese Proportion bei uns ästhetisches Wohlgefallen aus? Der Goldene Schnitt geht über die Spiegel-Symmetrie insofern hinaus, als die Selbstähnlichkeit hier nicht einfach eine der Teile zueinander, sondern eine der Teile zum Ganzen ist. Wir haben es bei der Goldenen Proportion mit der ersten Form holistischer Selbstähnlichkeit zu tun.[25] Genau dass die einzelnen Teile zum Ganzen stimmen, scheint hier unser Schönheitsempfinden zu erregen.

Selbstähnlichkeit und Selbstorganisation – unser Schönheitssinn als Detektor von Selbstorganisation

Beispiele solch holistischer Selbstähnlichkeit finden sich mannigfach in der Natur. So entsprechen Wachstumsmuster oftmals der Applikation des Goldenen Schnitts auf einen Kreis (und dem daraus resultierenden Gesetz des »Goldenen Winkels«).[26] Das Bildungsgesetz dieser Goldenen Proportionen wird durch die Fibonacci-Reihe ausgedrückt, bei der die nächst-folgende Zahl jeweils der Addition der beiden vorangegangenen entspricht. Diese Bildungsgesetzlichkeit findet man beispielsweise bei den Schuppen eines Kiefernzapfens oder den Samen einer Sonnenblume, aber auch in der Anordnung der Augen des Pfauenrades oder in der Struktur von Muscheln.[27]

Und all diese Gebilde empfinden wir als schön. Unsere ästhetische Vorliebe für holistische Selbstähnlichkeit – das ist nun nachzutragen – stellt einen dritten universalen Typus ästhetischer Schätzung dar. Dieser steht gewissermaßen in der Mitte zwischen unserer Vorliebe für bestimmte Landschaften und Körper auf der einen und unserer Faszination durch atemberaubende Schönheit auf der anderen Seite.

Nun handelt es sich, physikalisch betrachtet, bei den genannten Formen holistischer Selbstähnlichkeit jeweils um Gebilde, die aus Rückkopplungsprozessen hervorgegangen sind. Sie beruhen auf dem Prinzip der Selbstorganisation. Dieses Prinzip ist das allgemein-ste Prozessprinzip, demgemäß die Natur Ordnungsstrukturen hervorbringt – von den Galaxien über die Organismen bis hin zu kulturellen Gebilden.[28]

Die Selbstähnlichkeit, die wir an Formen der geschilderten Art wahrnehmen und als schön empfinden, ist also ein Indiz dafür, dass das betreffende Gebilde aus einem Prozess der Selbstorganisation hervorgegangen ist. Unser Schönheitssinn, der solche Selbstähnlichkeit intuitiv als ›schön‹ bewertet, ist im Grunde ein Detektor von Selbstorganisation.[29] Insofern hat er eine stark kognitive Komponente.[30] ›Schön‹ ist (bei diesem Typus) das ästhetisch-emotionale Stenogramm für Selbstorganisation.

Kognitiv: leichte Bewältigung von Komplexität

Das legt die Frage nahe, warum es für uns so bedeutsam ist, Selbstorganisation zu erkennen – so überaus bedeutsam, dass wir dafür, eben mit dem auf Selbstähnlichkeit ansprechenden Schönheitssinn, einen eigenen Detektor ausgebildet haben. Inwiefern könnte es für unsere Vorfahren nützlich gewesen sein, Selbstorganisation intuitiv zu erkennen?

Ein Selbstorganisations-Detektor ist kognitiv doppelt vorteilhaft. Erstens erlaubt er die rasche, schier instantane Erfassung eines komplexen Datenzusammenhangs, den man ohne einen solchen Detektor erst Punkt für Punkt abgreifen und dann synthetisieren müsste – was außerordentlich aufwendig und fehleranfällig wäre. Im Vergleich damit ist das ästhetische Schnellverfahren leicht und sicher. Es stellt daher ein vorzügliches Mittel zur Unübersichtlichkeits-Bewältigung dar. Zweitens ist dieser Detektor, da zahlreiche natürliche Formen auf Selbstorganisation beruhen, weithin einsetzbar und dienlich. Er stellt beinahe einen kognitiven Universalschlüssel in einer Welt dar, deren Gegenstände großenteils auf Selbstorganisation beruhen. Er erlaubt eine schnelle und souveräne Sortierung der Datenmannigfaltigkeit nach zusammengehörenden Figuren und damit eine Gliederung des Datenprofils nach den tatsächlichen Gegenständen. Es scheint geradezu so zu sein, dass uns hier – in Gestalt eines ästhetischen Sinns – die Grundlogik der physischen Welt verfügbar ist. Die Fähigkeit, Phänomene der Selbstorganisation spontan zu erkennen, dürfte jedenfalls sowohl wegen ihrer Schnelligkeit als auch wegen ihrer breiten Anwendbarkeit einer besonders intensiven positiven Selektion unterlegen haben.

Kognitionslust generell: Kohärenzlust

Wenn nun die ästhetische Entschlüsselung von Formen der Selbstähnlichkeit eigentlich ein ästhetischer Stellvertreterakt für eine kognitive Leistung ist, dann dürfte auch das damit verbundene Wohlgefallen letztlich kognitiver Art sein.

Worin besteht kognitives Wohlgefallen? Unsere Kognition ist generell auf Kohärenz aus. Die Erreichung von Kohärenz ist es, die kognitive Befriedigung bzw. Lust auslöst. Nun hat solche Kohärenz nicht nur eine gegenstandsbezogene, sondern auch eine subjektive Seite. Wenn sich die gegenständlichen Daten (etwa durch die Anwendung des Selbstähnlichkeitsmusters) zu einem schlüssigen Zusammenhang fügen, so entsteht zum einen gegenständliche Kohärenz (Identifikation und Abgrenzung einzelner Gegenstände voneinander sowie von ihrer Umgebung). Diese gegenständliche Kohärenz stellt aber zugleich die Außenseite einer internen Kohärenz dar. Wahrnehmungsprozesse spielen sich nämlich stets in einem Spannungsfeld von Vorerwartung und Datenscan ab, wobei bestimmte Muster jeweils voraktiviert sind und das Wahrnehmen in einem Abgleich zwischen Muster und Daten besteht.[31] Wenn nun bei diesem Abgleich Deckung eintritt (also die Datenmannigfaltigkeit zur Vorerwartung stimmt), dann sind wir zum einen kognitiv und in Objekthinsicht überzeugt, einen Sachverhalt zutreffend erfasst zu haben, und zum anderen finden wir uns dann emotional und in unserem subjektiven Zustand befriedigt bzw. beglückt.[32] So gehen externe und interne Kohärenz Hand in Hand.

Diese Kongruenz zwischen objektiver und subjektiver Kohärenz besteht übrigens nicht deshalb, weil wir die Welt nach unserem Bild (unseren kognitiven Bedürfnissen) konstruieren würden, sondern weil die im Wahrnehmen voraktivierten Erwartungsmuster ihrerseits schon auf Welterfahrung (phylogenetischer wie epigenetischer Art) beruhen. Es ist diese Erfahrungsgeprägtheit unseres Wahrnehmungsapparats, die dafür sorgt, dass unsere subjektiven Kohärenzvorgaben – die für unsere Wahrnehmungsakte de facto leitend sind – mit den objektiven Kohärenzanforderungen übereinstimmen.

Die neurologische Besonderheit dieser Schönheitserfahrung: Resonanz von Cortexbereichen

Nun liegt das Besondere unserer ästhetischen Freude an Symmetrie, Goldenem Schnitt und Selbstähnlichkeit neueren Erkenntnissen der Neurologie zufolge darin, dass in diesen Fällen nicht nur eine lokale Befriedigung eintritt (wie bei einfachen Wahrnehmungen, etwa der Feststellung, dass ein vermuteter Ausgang tatsächlich ein Ausgang ist), sondern dass sich hier über das lokale Kohärenzerlebnis hinaus eine Resonanz mit anderen Cortexbereichen einstellt.[33]

Das Ausgangsphänomen als solches ist kaum anders als bei den normalen Wahrnehmungsleistungen auch: eine Vorerwartung erfüllt sich. Aber im ästhetischen Fall hat der Wahrnehmungsakt zusätzlich Auswirkungen, die über den einzelnen Sinnesbereich hinausgehen. Die lokale Kohärenz erzeugt kollaterale Kohärenzen. Die stimmige Aktivierung des einen Sinnesgebiets versetzt zugleich andere Sinnes- und Kognitionsbereiche in Schwingung. Offenbar wurde im Ausgangsbereich ein Grundton unseres kognitiven Apparates insgesamt angeschlagen, gewissermaßen dessen Grundstimmung angeregt. Deshalb schwingen auch die anderen Bereiche mit. Und durch diese kortikalen Resonanzen kommt es zu einer insgesamt weitaus umfassenderen Kohärenz als bei gewöhnlichen Wahrnehmungen.[34] Es ist just diese zusätzliche, diese multidimensionale Kohärenz, die wir als ästhetische Freude oder Lust erfahren.[35]

Das Resonanzphänomen unterscheidet diesen zweiten – auf Selbstähnlichkeit und Selbstorganisation bezogenen – Typus universaler Schönheitserfahrung aufs deutlichste vom ersten, auf Landschaften und Körper bezogenen Typus. Dort werden nur sehr spezifische Hirnregionen aktiviert (eben diejenigen, in denen die betreffenden Präferenzmuster verankert sind). Bei der ästhetischen Freude an Formen der Selbstähnlichkeit hingegen ist gerade die Resonanz mehrerer Cortexbereiche, also eine weitaus integralere Aktivierung unseres kognitiven Apparates typisch. – Und vollends integral wird unser Gehirn dann beim Phänomen der großen, der atemberaubenden Schönheit aktiviert. Dies sei jetzt erläutert.

Große, atemberaubende Schönheit

Erfahrungscharakteristik und Kantische Auslegung

Gehen wir vom phänomenalen Befund aus. Was kennzeichnet unsere Empfindungslage, wenn wir großer Schönheit begegnen? Wir finden uns beglückt. Wir fühlen: »das ist schön«. Dergleichen wollten wir immer schon sehen. So etwas möchte man öfter, möchte man dauernd sehen. Man sieht es von Herzen gern. Diese volle Beglückung ist der entscheidende Punkt – nicht nur in der Erfahrung, sondern auch für die Erklärung.

Kant, der das Geschmacksurteil eindringlich analysiert hat, sah diesen Punkt sehr deutlich. Als schön empfinden wir Kant zufolge dasjenige, was so ist, wie wir die Dinge wahrnehmen wollen. Dieses subjektive Moment ist entscheidend. Schön ist, was unserem allgemeinsten und tiefstliegenden Wahrnehmungsbedürfnis entspricht.

Und worin besteht dieses Bedürfnis? Kant gab eine vermögenstheoretische Antwort: Wir suchen eine Zusammenstimmung von begrifflicher und sinnlicher Seite (also das, was zuvor unter dem Stichwort ›Kohärenz‹ beschrieben wurde). In der Terminologie Kants heißt das: wir erstreben eine Harmonie von Einbildungskraft und Verstand. Wo diese Harmonie sich wie von selbst einstellt, da haben wir die Erfahrung des Schönen. Kant bestimmt das ästhetische Wohlgefallen dementsprechend als Wohlgefallen bzw. Lust »an der Harmonie der Erkennt-nis-ver-mö-gen«.[36]

Im kognitiven Normalfall müssen wir eine derartige Zusammenstimmung von begrifflicher und sinnlicher Seite durch begriffliche Tätigkeit (durch Syntheseleistungen des Verstandes) gewinnen. Im ästhetischen Ausnahmefall hingegen stellt sie sich wie von selbst ein. Das begründet den Sonderstatus und Glückscharakter des Ästhetischen.

Um noch einmal den entscheidenden Punkt herauszuheben: In der ästhetischen Erfahrung bekommen wir just das, was wir von uns aus wollen. Genau dafür steht das Erlebnis ›schön‹. Ein Gegenstand ist nicht als solcher, ist nicht objektiv schön, sondern wir erleben ihn deshalb als schön, weil seine Wahrnehmung unser grundlegendstes Wahrnehmungsbedürfnis – eben das nach kognitiver Harmonie – erfüllt. Die Erfahrung des Schönen beruht auf dieser subjektiven Bedingung. Wir wollen etwas – von uns aus. Und im Fall des Schönen wird es uns vollkommen zuteil.[37]

Die neuronale Erklärung

Und wie lautet die neuronale Erklärung für das Erlebnis atemberaubender Schönheit? Charakteristisch ist in diesem Fall, dass die neuronale Erregung (mehr noch als im Fall der kollateralen Resonanz bei Phänomenen der Selbst-ähnlichkeit) unseren Wahrnehmungsapparat im Ganzen ergreift. Die Erfahrung großer, atemberaubender Schönheit geht mit Erregungswellen einher, die sich über den gesamten Cortex ausbreiten. Sie nehmen zwar ebenfalls von einer bestimmten Sphäre (etwa der visuellen oder der akustischen) ihren Ausgang, versetzen jedoch unseren gesamten aisthetischen und kognitiven Apparat in einen Schwingungszustand, der dessen grundlegender Konfiguration und Erwartungshaltung entspricht. Deshalb finden wir uns in diesem Fall integral und optimal aktiviert. Daher rührt das große Glück bei der Erfahrung atemberaubender Schönheit.[38]

Zusammenfassender Vergleich der drei Typen universaler Schönheitserfahrung

Überblickshaft will ich die drei geschilderten Typen universaler Schönheitserfahrung noch einmal vergleichen, und zwar zunächst hinsichtlich ihrer neuronalen Charakteristik und anschließend hinsichtlich des Grundes ihrer Universalität.

Neuronale Charakteristik

Wenn wir einen Körper oder eine Landschaft als schön empfinden, so beruht dies auf der hochgradig lokal beschränkten Aktivierung eines bestimmten neuronalen Musters. Wenn wir hingegen Formen der Selbstähnlichkeit als schön erleben, so erfolgt dabei eine weiterreichende Aktivierung des Cortex infolge der Resonanz angrenzender Cortexbereiche. Die Erfahrung großer, atemberaubender Schönheit schließlich beruht auf einer integralen Aktivierung unserer gesamten aisthetischen und kognitiven Architektur.

Nun gilt freilich für jeden dieser drei Typen, dass Schönheit eigentlich »brain-happiness« ist.[39] Struktur und Intensität dieser »happiness« sind jedoch charakteristisch unterschiedlich: lokal, wenn ein biologisches Programm aktiviert wird; kollateral, wenn unser kognitives Programm aktiviert wird; integral im Fall der übergroßen Schönheit.

Und nicht nur die Extension der neuronalen Erregung, sondern auch die jeweilige Erlebnisqualität ist charakteristisch verschieden: bei lokaler Erregung empfinden wir Attraktivität, bei kollateraler Erregung beträchtliches Wohlgefallen, und bei integraler Erregung eben atemberaubende Schönheit. – So viel zur neuronalen Grammatik der Schönheit.

Unterschiedliche Gründe der Universalität

Schließlich noch einmal zur Frage der Universalität: Woher rührt es, dass die drei genannten Typen von Schönheitserfahrung allesamt universal sind? – Die Gründe dafür sind so unterschiedlich wie die Typen selbst.

Die Körper- und Landschaftspräferenzen sind universal, weil sie sich Selektionseffekten verdanken, die – vor aller kulturellen Diversifizierung – das Genom vom Homo sapiens betroffen haben. Deshalb sind sie unverändert auf uns gekommen und wirken noch heute universell. Dieser Schönheitstypus hat sich in der protokulturellen Periode der Menschheit herausgebildet (die von vor ca. 2,5 Millionen Jahren bis vor ca. 40 000 Jahren reichte).[40] Dieser Typus ist humanspezifisch. Seiner Funktion nach ist er auf Reproduktion und Ökologie bezogen. – Er steht damit, innerhalb des Ästhetischen, sozusagen für das Gute.

Die ästhetische Präferenz für Formen der Selbstähnlichkeit, die auf Selbstorganisation verweisen, ist ebenfalls schon in der Phylogenese ausgebildet und selektiert worden. Ihre heutige Universalität ergibt sich aus der Permanenz der entsprechenden genetischen Ausstattung. Allerdings ist dieser Schönheitstypus schon vor dem Menschen – im Zug der kognitiven Entwicklung der Tiere, die über ein dorsales Nervensystem und ein Gehirn verfügen – entstanden. Er ist der älteste Typus ästhetischer Schätzung. Darwin hat ihn mit der Genese des Schönheitsempfindens überhaupt, das längst vor dem Menschen im Tierreich entwickelt worden war, in Verbindung gebracht.[41] Der Vorteil dieses Schönheitstypus liegt auf kognitivem Gebiet. – Er repräsentiert, innerhalb des Ästhetischen, sozusagen das Wahre.

Die Universalität der Faszination durch große Schönheit schließlich dürfte daher rühren, dass diese Begeisterung schlicht auf der Architektur des Cortex als solchem beruht. Und da diese Architektur bei allen Angehörigen von Homo sapiens dem Grunde nach gleich ist, sind wir alle – kulturen-übergreifend – dieses Schönheits-Erlebnisses fähig und ist somit auch dieser Typus von Schönheitserfahrung universal. Zeitlich gesehen hat sich dieser Typus aber vermutlich erst in der kulturellen Periode der Menschheit, also in den letzten 40 000 Jahren herausgebildet. Er ist der jüngste der drei Typen.[42] Anders als bei den vorgenannten Typen glaube ich jedoch nicht, dass die Faszination durch große Schönheit auf einem spezifischen Nutzen beruht. Vielmehr scheint das Gehirn sich hier selbst zu feiern, scheint gleichsam intern zu jubilieren. Große Schönheit ist ein zweckfreies neuronales Feuerwerk – jenseits eines biologischen oder kognitiven Nutzens. Insofern betreten wir erst mit diesem Typus die Sphäre des ganz und gar Schönen, des Schönen um des Schönen willen. – Dieser Typus stellt also, innerhalb des Ästhetischen, das eigentlich Schöne (bzw. Hyperschöne) dar.

Rückblick und Ausblick

Universalität und Einzelheit

Was, so könnte man fragen, ist durch die vorstehenden Überlegungen gewonnen? Für die Ästhetik insgesamt, denke ich, einiges. Für die detaillierte Analyse einzelner schöner Gebilde, etwa eines Kunstwerks, hingegen vergleichsweise wenig.

Die angeführten Befunde lehren uns besser zu verstehen, warum wir Menschen so weithin durch Schönheit fasziniert sind – nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, sondern ebenso hinsichtlich der Natur und der Kunst. Wir sind schönheits-süchtig, weil Schönheit nicht nur für unsere Sexualität, sondern ebenso für unsere Kognition, ja für unser Wohlbefinden insgesamt eine gewichtige Rolle spielt. Unser wichtigstes, unser einziges gesamtheitliches ›Organ‹, das Gehirn, strebt in der Erfahrung des Schönen nach seinem Bestzustand.

Dass die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen nach Schönheit gesucht haben, ist der ästhetischen Theorie vertraut. Aber man hat das Augenmerk doch insgesamt zu einseitig auf die kulturelle Diversität – auf die Unterschiedlichkeit der Schönheitserzeugung und -schätzung in den verschiedenen Kulturen – gerichtet. Über dem Lobpreis der ästhetischen Vielfalt hat man den Umstand übersehen oder gar geleugnet, dass schöne Produkte, die für einen Kulturkreis kennzeichnend sind, auch von Angehörigen anderer Kulturkreise als schön erfahren werden können. Man hat die potentielle Universalität des Schönen verkannt. Der Kulturalismus – dem zufolge alle Hervorbringungen der Menschen ausschließlich auf kulturellen und nicht auch auf tieferen, präkulturellen Grundlagen beruhen –, hat auch hier zu einem Ghettoismus geführt, der die kulturellen Erzeugnisse strikt an die Leine ihrer Herkunftskultur legen und die Möglichkeit genuinen Verstehens und genuiner Schätzung auf diese beschränken
wollte.

Im Gegensatz dazu weisen die vorstehenden Ausführungen auf das präkulturelle Unterfutter und die transkulturellen Tiefendimensionen des Ästhetischen hin, aus denen sich sowohl erklärt, dass in hochgradig unterschiedlichen Kulturen dieselben ästhetischen Präferenzmuster wirksam sein können, wie durch sie auch verständlich wird, dass Angehörige einer Kultur die Schönheitsleistungen einer ganz anderen Kultur gleichermaßen schätzen können. Es gibt sowohl eine produktive als auch eine rezeptive Universalität des Ästhetischen. Es ist an der Zeit, das kulturalistische Vorurteil abzulegen und sich den Universalitätsdimensionen des Ästhetischen zuzuwenden.

Aber so wichtig die letzteren für die Sphäre des Ästhetischen insgesamt sind, so wenig vermag ihre Beachtung doch für die detaillierte Analyse einzelner Phänomene auszutragen. Universal sind die genannten Typen ästhetischer Schätzung. Aber tausenderlei Phänomene können einem dieser Typen zugehören und doch in ihrer ästhetischen Qualität beträchtlich verschieden sein. Um die Gründe für die jeweilige Qualität anzugeben (was eine Aufgabe ästhetischer Analyse ist), hilft der Hinweis auf die Typik nichts mehr, sondern hier müssen andere Kriterien ins Spiel gebracht werden – unter Umständen sogar hochgradig spezifische Kriterien, gar solche, die überhaupt erst durch dieses Werk (sofern es stilbildend war) in die Welt gelangten. Mehrere griechische Tempel und etliche japanische Steingärten sind durch die Goldene Proportion bestimmt, aber das Besondere des Parthenon oder des RyØan-ji bedarf einer zusätzlichen Erklärung. Und Beethovens 3. Symphonie gewinnt ihre Großartigkeit nicht aus der Erfüllung von Sonatenform und symphonischer Satztechnik, sondern aus der Realisierung eines bis dato unerhörten Pathos.

Der Universalaspekt hat hier also eine deutliche Grenze. Er vermag die universale Faszination durch ästhetische Typen zu erklären, nicht aber auch noch die größere oder geringere Qualität einzelner Manifestationen dieses Typus. Freilich: eine derartige Grenze gehört stets zu ästhetischen Erklärungsmustern allgemeiner Art. Ob man an generelle Grundsätze wie ›variatio delectat‹ oder ›ut pictura poesis‹ oder an semi-generelle Prinzipien wie Tiefenperspektive oder Diagonalkomposition denkt – jedesmal wird es darauf ankommen, dass das Einzelwerk nicht nur solchen Leitlinien genügt, sondern in seiner Besonderheit wahrgenommen zu werden verlangt und verdient. Und es wäre wohl ohnehin paradox, ausgerechnet vom Universalaspekt zu erwarten, dass er Aufschluss über alles Einzelne gibt.

Bloße Subjektivität der Erfahrung des Schönen?

Die Konvergenz von klassischer und neuronaler Subjektivitätsthese

Man könnte die neuronalen Erklärungen des Schönen, die ich referiert habe, rundweg als Bestätigung der These von der Subjektivität des Ästhetischen ansehen. Die letztere These ist mindestens seit dem 18. Jahrhundert weit verbreitet. Kant, auf den ich mich zuvor bezog, hat sie am klarsten expliziert. Demzufolge ist ›schön‹ keine Eigenschaft, die den Erscheinungen objektiv anhaftet (wie etwa deren Größe), sondern eine ganz und gar relationale Eigenschaft, welche gewissen Erscheinungen nur in Bezug auf das menschliche Erkenntnisvermögen und die menschliche Betrachtungsweise zuerkannt werden kann. Dinge sind nicht deshalb schön, weil sie an sich schön wären, sondern sie sind für uns schön, weil wir ihnen aufgrund unserer Art, die Welt zu betrachten, und im Duktus der dabei leitenden Bedürfnisse diese Eigenschaft zuschreiben, sie ihnen aufgrund unserer Verfassung als Subjekte verleihen.[43] – Ganz analog lehrt nun auch die neuere Hirnforschung, dass die Erfahrung des Schönen durch die interne Architektur unseres Gehirns bestimmt, dass die neuronale Disposition von uns Subjekten für Schönheit ausschlaggebend, dass Schönheit eigentlich »brain-happiness« ist.

Allerdings regten sich schon Ende des 18. Jahrhunderts Einsprüche gegen die Subjektivitätsthese. Schiller z. B. meinte, dass Schönheit zumindest auch etwas Objektives sein müsse und etwa als »Freiheit in der Erscheinung« zu bestimmen sei.[44] Oft wurde auch darauf hingewiesen, dass Schönheit schon deshalb keine rein subjektive Angelegenheit sein könne, weil uns doch offenbar nicht jeder beliebige Gegenstand als schön erscheint, schöne Gegenstände also offensichtlich auch gewisse objektive Bedingungen erfüllen müssten, um als schön zu gelten. Symmetrie und Goldene Proportion beispielsweise seien objektiv verifizierbare Eigenschaften der betreffenden schönen Gegenstände.

So sehr ich anschließend selber Objektivitätsdimensionen des Ästhetischen das Wort reden möchte, muss ich doch zunächst diesen zu einfachen Einwand gegen die Subjektivitätsthese zurückweisen. Auf dem geschilderten Weg lässt sich keine Bresche für die Objektivitätsthese schlagen. Es ist nämlich nicht so, dass die Vertreter der Subjektivitätsthese gänzlich bestreiten müssten, dass die Schönheitserfahrung auch auf objektiven Eigenschaften der Gegenstände beruht. Was sie behaupten, ist vielmehr nur, dass diese objektiven Bestimmungen allenfalls notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingungen des Schönheitserlebnisses darstellen. Derlei Gegenstandseigenschaften vermögen die Erfahrung des Schönen allenfalls auszulösen, können sie aber nicht von sich aus bewirken. Und auch auslösen können sie die Schönheitsempfindung nur deshalb, weil wir Menschen von unserer sinnlichen und mentalen Konstitution her gewissermaßen schönheits-süchtig, grundlegend auf Schönes aus sind. Nur in diesem durch unsere Subjektivität bestimmten Suchhorizont können entsprechende Gegenstandsmerkmale dann schönheitsauslösende Wirkung haben. Insofern bleibt, auch wenn objektive Faktoren eine Rolle spielen, grundlegend die Subjektivitätsthese im Recht.

Die Objektivitätshypothese – zur evolutionären Rückseite der Subjektivität

Eine Überschreitung der These von der bloßen Subjektivität des Ästhetischen muss also anders ansetzen. Eigentlich liegt der Ansatzpunkt auf der Hand. Man braucht bloß die Rückseite der Subjektivität ins Auge zu fassen. Woher rührt es denn, dass die menschliche Subjektivität, die für unsere Erfahrung des Schönen ausschlaggebend ist, just die Konstitution besitzt, die sie besitzt? Warum ist sie so verfasst, wie sie es ist? Diese eigentliche Grundfrage wird von den Vertretern der Subjektivitätsthese regelmäßig beiseitegeschoben bzw. ignoriert.

Solange man dies tut, erscheint es dann zwangsläufig so, als sei unsere ganze Schönheitsbegeisterung nur eine humane Eigenwilligkeit bzw. Idiosynkrasie, die bloß mit uns, aber nichts mit der Welt zu tun habe. Aber die Idiosynkrasie-These ist aus mindestens zwei Gründen hochgradig unplausibel: Erstens ist unsere ästhetische Empfänglichkeit tief in unserer kognitiven Architektur verankert, sodass man, unsere Ästhetik als idiosynkratisch einschätzend, unsere gesamte Kognition der Idiosynkrasie verdächtigen müsste. Und zweitens setzt sich in der menschlichen Ästhetik (wie Darwin dargelegt hat) die längst vor dem Menschen begonnene animalische Genese und Geschichte des ästhetischen Empfindens fort, weshalb man, die menschliche Ästhetik der Idiosynkrasie anheimgebend, auch die ästhetische Sensibilität der Tiere, ja den gesamten Umweltbezug der sich auf Nervensystem und Gehirn verlassenden Tiere der Idiosynkrasie überantworten müsste.

Im Gegensatz zur generellen Idiosynkrasie-Vermutung wurde im vorigen wahrscheinlich gemacht, dass unser ästhetisches Empfinden – bei aller subjektiven Verankertheit seiner Schemata – durchaus auf objektiven Bedingungen beruht. Das wurde insbesondere im Blick auf den zweiten Universaltypus, die Faszination durch Gebilde der Selbstähnlichkeit, deutlich. Wir empfinden Formen, die durch Selbstähnlichkeit gekennzeichnet sind und die auf diese Weise anzeigen, dass sie aus Rückkopplungsprozessen hervorgegangen sind, unmittelbar als schön. Nun ist Selbstorganisation aber das allgemeinste ontologische Prinzip der Natur. Insofern ist unser ästhetischer Sinn geradezu ex-trem objektiv orientiert – also alles andere als idiosynkratisch: Er antwortet mit Lust und Beglückung auf das, was die Welt im Innersten antreibt. Er pulsiert gleichsam im Takt der Welt. Er ist als humanes zugleich ein ontologisches bzw. kosmisches Sensorium.

Wie eine solche Kongruenz von subjektiver Empfindung und objektiver Relevanz möglich ist, lässt sich evolutionstheoretisch erklären. Letztlich bewährt sich im Gang der Evolution nur das, was auf die Welt, in der es zurechtkommen muss, auch einigermaßen passt. Das heißt nicht, dass man einem simplen Anpassungstheorem das Wort reden sollte. Stephen J. Gould und andere haben überzeugend dargetan, dass die evolutionäre Dynamik der Organismen in starkem Maß als innengesteuert und nicht einfach als außenbedingt zu begreifen ist. Nur: Was immer da im Duktus innerer Organisationslogiken erwächst, muss letztlich doch so sein, dass es durch den Druck der Außenbedingungen nicht wegselektiert wird, sondern ihm standzuhalten, ja idealerweise mit den Umweltbedingungen zu kooperieren vermag. Das letztere zeichnet die Erfolgsmodelle der Evolution aus.

Hier ist nicht der Ort, die Frage von Subjektivität und Objektivität abschließend zur Entscheidung zu bringen. Dennoch sei gegen das moderne Standardtheorem von der bloßen Subjektivität des Ästhetischen eine Lanze für die mögliche Objektivität des Ästhetischen gebrochen. Es lässt sich durchaus angeben, wie Objektivität und Subjektivität zusammengehen können. Solange man nur ins Auge fasst, dass neuronale Dispositionen, die zur Konstitution des Homo sapiens gehören, für die Typen unseres universalen Schönheitsempfindens verantwortlich sind, scheint die Subjektivitätsthese im Recht. Aber unsere subjektiven Dispositionen sind nicht einfach – wie die Theoretiker der Subjektivität das gerne hätten – das letzte ihrer selbst, sondern sie sind durch ihre evolutionäre Herkunft und Rückseite bestimmt. Aus ihr erklärt sich sowohl die Existenz wie das Design dieser subjektiven Formen. Das aber bedeutet: Diese Formen sind in Wahrheit schon weltgeprägt, und von daher wohnt ihnen grundlegend ein Objektivitätspotential inne.

Das gilt natürlich auch für den ästhetischen Sinn. Und so wäre es – dies als letzter Gedanke – vielleicht nicht übertrieben zu sagen, dass in diesem auf gewisse Weise die Welt zu sich kommt. Warum lässt sich das sagen? Sinnliches und Sinnesvermögen sind, evolutionär verständlich, von gleicher Art. Tritt nun der Fall ein, dass Sinnliches uns so begegnet, dass unser Sinnesvermögen dabei in seine beste Verfassung gelangt, dann erfahren wir Schönheit – die subjektive Beglückung durch Schönheit. Diesen Vorgang muss man aber nicht einfach, wie üblich, als Prozess subjektiver Erfüllung ansehen. Sondern man kann ihn auch als objektiven Prozess betrachten. Man muss dafür nur einen Blickwechsel vom Erleben des Subjekts auf die Korrelation von sinnlichem Gegenstand und ästhetischem Sinn vornehmen. Wenn ein Schönheitserleben eintritt, so beruht dies auf einer Selbstverstärkung dieser Korrelation. Eine Gegenstandsqualität erregt den ihr korrespondierenden Sinn, und dieser verleiht der Gegenstandsqualität über ihre physische Existenz hinaus eine phänomenale Präsenz. Es kommt also zu einer Rückkopplung zwischen Gegenstand und Sinn. Insofern vollzieht sich in der ästhetischen Wahrnehmung just das, was generell die ontologische Grunddynamik der Welt überhaupt ausmacht. Anders gesagt: Diese Grunddynamik vollzieht sich hier, sich auf sich selbst beziehend, als ästhetische Wahrnehmung. In der Erfahrung von Schönheit kommt somit nicht (wie man naiverweise meint) die Schönheit der Welt, sondern (wie es reflektierterweise zu sehen ist) deren selbstgenerativer Charakter zum Ausdruck. Die Schönheitserfahrung ist eine in uns sich vollziehende Selbsterfahrung der Welt.

[1]  Darauf weist auch allein schon der Umstand hin, dass die Semantik der Termini, die in verschiedenen Kulturen für ›schön‹ stehen, zum Teil beträchtlich differiert. Vgl. dazu: Crispin Sartwell, Six Names of Beauty, New York 2004.

[2]  Ob dieser Katalog erschöpfend ist, mag im Moment offenbleiben.

[3]  Vgl. Gordon H. Orians / Judith H. Heerwagen, »Evolved Responses to Landscapes«, in: Jerome H. Barkow / Leda Cosmides / John Tooby [Hrsg.], The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, New York 1992, S. 555–579; Stephen Kaplan, »Environmental preference in a knowledge-seeking, knowledge-using organism«, in: The Adapted Mind, a. a. O., S. 581–600; Roger S. Ulrich, »Biophilia, Biophobia and Natural Landscapes«, in: The Biophilia Hypothesis, hrsg. von Stephen R. Kellert und Edward O. Wilson, Washington D. C. 1993, S. 73–137; Judith H. Heerwagen / Gordon H. Orians, »Humans, Habitat, and Aesthetics«, in: The Biophilia Hypothesis, a. a. O., S. 138–172.

[4]  Vgl. Nancy Etcoff, Survival of the Prettiest: The Science of Beauty, New York 1999, S. 185–187.

[5]  Vgl. ebd., S. 91 f.

[6]  Vgl. Devendra Singh, »Adaptive significance of female physical attractiveness: Role of waist-to-hip ratio«, in: Journal of Personality and Social Psychology 65 (1993), S. 293–307.

[7]  Meine Rede von ›großer‹ oder ›atemberaubender‹ Schönheit bezieht sich vor allem darauf, dass es dabei, im Unterschied zur Standardschönheit, nicht einfach um das Wohlgefallen an einer Entsprechung geht, sondern dass die große Schönheit uns über unsere gewohnte Verfassung immer auch hinausführt, uns gleichsam einen Stoß versetzt. Das Standardschöne hingegen steht immer in der Gefahr, zum bloß Hübschen zu verfallen.

[8]  Vgl. Wolfgang Welsch, »Rethinking identity in the age of globalization – a transcultural perspective«, in: Hiroshi Okabayashi [u. a.] [Hrsg.], Symposion on Beauty and Art. Festschrift for Tsunemichi Kambayashi, Tokyo 2002, S. 333–346.

[9]  Das heißt nicht, dass jeder einzelne mögliche Rezipient de facto von der überragenden Qualität solcher Werke ergriffen werden müsste. Es mag da im einzelnen Alters-, Gewohnheits- oder Sozialbarrieren geben. Aber potentiell ist jeder Mensch imstande, diese Faszination zu erfahren. In diesem Sinn wies schon Charles Baudelaire darauf hin, dass jedermann bis zu einem gewissen Grad den Sinn für universale Schönheit besitzt und diesen noch weiter ausbilden kann (vgl. Charles Baudelaire, »Die Weltausstellung 1855 – Die schönen Künste« [1868], in: Ch. B., Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig 1990, S. 138–164, insbes. S. 138 f.).

[10]  Vgl. zur Doppelung von Kulturspezifik und transkultureller Tiefenschicht: Wolfgang Welsch, »Transkulturalität – neue und alte Gemeinsamkeiten«, in: W. W., Immer nur der Mensch? Skizzen zu einer anderen Anthropologie, Berlin 2011, S. 294–322.

[11]  Ein alternativer Erklärungsversuch, die kulturen-übergreifende Faszination durch herausragende kulturelle Gebilde nicht als Folge dieser humanen Tiefenschicht, sondern als Effekt der Kulturindustrie zu verstehen, scheint mir hochgradig abwegig. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass eine globalisierte Kultur- und Tourismus-Industrie sich gerade auf Werke wie das Taj Mahal oder die Mona Lisa oder Beethovens Neunte stürzt. Aber dass sie gerade solche Werke wählt, erklärt sich eben daraus, dass diesen ein besonderes Potential zu universeller Schätzung innewohnt. Man sollte hier Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Nicht schafft die kulturindustrielle Zuwendung die universale Faszinationskraft der Werke, sondern das den Werken immanente universale Potential macht sie zu Erfolgskandidaten für ihre kultur- und tourismusindustrielle Ausbeutung.

[12]  Freeman widerlegte 1983 Margaret Meads Samoa-Mythos (Derek Freeman, Margaret Mead and Samoa: The Making and Unmaking of an Anthropological Myth, Cambridge/London 1983), und im gleichen Jahr demontierte Malotki die einst so einflussreichen Behauptungen von Benjamin Lee Whorf über die Sprache der Hopi-Indianer (Ekkehart Malotki, Hopi Time, Berlin 1983). Vgl. zum heutigen Diskussionsstand in Sachen Universalien: Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen, Darmstadt 2007.

[13]  Vgl. Gordon H. Orians / Judith H. Heerwagen, »Evolved Responses to Landscapes« (s. Anm. 3), S. 558.

[14]  Man bedenke, dass wir alle von Vorfahren abstammen, welche sich während einer langen Zeit (zunächst in Afrika) in einem solchen Lebensraum entwickelt haben.

[15]  »Symmetry is tied to beauty because it acts as a measure of overall fitness« (Nancy Etcoff, Survival of the Prettiest, New York 1999, S. 186); »symmetry is an indicator of health and fitness« (ebd., S. 162). »Krankhafte Veränderungen des Körpers betreffen in aller Regel nicht beide Arme, Beine, Augen oder Ohren in genau gleicher Weise. Krankheit – was immer es sei – macht daher asymmetrisch« (Manfred Spitzer, Vom Sinn des Lebens. Wege statt Werke, Stuttgart 2007, S. 111).

[16]  D. Symons, »Beauty is in the adaptations of the beholder«, in: P. R. Abramson / S. D. Pinkerton [Hrsg.], Sexual nature / sexual culture, Chicago 1995, S. 80–118.

[17]  Das Taj Mahal ist ja ein eindrucksvolles Beispiel für Symmetrie.

[18]  Es könnte genau umgekehrt gewesen sein. Die Symmetriepräferenz in Bezug auf die Körper von Geschlechtspartnern ist möglicherweise bloß der besondere Fall einer weitaus allgemeiner begründeten Symmetriepräferenz. Die allermeisten lebensweltlich relevanten Objekte sind symmetrisch: gefährliche Jagdtiere ebenso wie gesuchte Beutetiere und eben auch Sexualpartner. Daher könnte es vorteilhaft gewesen sein, in Form genereller Symmetrieaufmerksamkeit eine Art Frühwarn-system für relevante Objekte zu entwickeln. Dieser generelle Symme-triesinn hätte dann in Bezug auf den menschlichen Körper nur eine seiner Anwendungen, ohne dass die Partnerwahl die Ursprungssphäre dieses Sinns gewesen wäre.

[19]  Die Reklameindustrie weiß sehr genau, dass vollkommen symmetrische Gesichter langweilig sind. Sie nützt diesen Effekt bei der Haar-Reklame. Man wählt Models mit möglichst symmetrischen Gesichtern, damit beim Betrachter das Gesicht gleichsam ›durchrutscht‹ und die Aufmerksamkeit sich, wie gewünscht, nur auf die Haare richtet.

[20]  Die beiden Strecken stehen dabei im Verhältnis 1 : 1,618…

[21]  So erstmals Luca Pacioli in seinem Werk De Divina Proportione von 1509 und erneut Johannes Kepler in Harmonices Mundi (1619). Vgl. dazu insgesamt: Albert van der Schoot, Die Geschichte des Goldenen Schnitts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005.

[22]  Die Säulen- und Giebelfront des Parthenon war so dimensioniert, dass sie sich in ein liegendes Rechteck mit goldener Proportion einfügte. Le Corbusier entwickelte ein Maßsystem (»Modulor«), das auf den menschlichen Maßen und dem Goldenen Schnitt beruhte.

[23]  »Psychophysical experiments show that irrespective of culture and education, people prefer golden rectangles, the lengths of whose sides are related by the golden section ratio, to any other shape of rectangle« (Frederick Turner, »The Sociobiology of Beauty«, in: Jan Baptist Bedaux / Brett Cooke [Hrsg.], Sociobiology and the Arts, Amsterdam 1999, S. 63–81, hier S. 75).

[24]  Vgl. György Doczi, Die Kraft der Grenzen. Harmonische Proportionen in Natur, Kunst und Architektur [1981], München 1984, S. 138 f. Eine andere Interpretation geben van Tonder und Lyons, kommen dabei aber ebenfalls zu dem Schluss, dass Strukturen der Selbstähnlichkeit ausschlaggebend sind (Gert J. van Tonder / Michael J. Lyons, »Visual Perception in Japanese Rock Garden Design«, in: Axiomathes 15 [2005], S. 353–371, hier S. 363 und 366).

[25]  Man kann dafür auch sagen: Die Gleichheit ist hier nicht mehr eine von Teilen, sondern eine von Verhältnissen. Insofern handelt es sich, anders als bei der Achsensymmetrie, um Ungleichheit auf der Teilebene und Gleichheit erst auf der Metaebene. Der Goldene Schnitt kombiniert (für Philosophen von Heraklit bis Hegel und darüber hinaus hochinteressant) Bruch auf der Erscheinungs- und Zusammenstimmung auf der Wesensebene. – Im übrigen soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Verhältniszahl des Goldenen Schnitts eine sehr besondere Zahl ist: sie ist die irrationalste aller Zahlen (diejenige, die sich, auch näherungsweise, am wenigsten durch ein Verhältnis rationaler Zahlen ausdrücken lässt) und die nobelste aller Zahlen (die Zahl, deren Kettenbruchdarstellung am frühesten nur noch Einsen enthält).

[26]  Tatsächlich enthält jede Proportionierung nach dem Goldenen Schnitt intrinsisch eine Anweisung zur Generierung weiterer ›golden‹ proportionierter Gebilde. Addiert man nämlich die größere Teilstrecke zum Ganzen, so erhält man erneut ein Gebilde, das nach dem Goldenen Schnitt proportioniert ist (wobei in dem neuen Gebilde die vorherige längere Strecke die kürzere und die vorherige Gesamtstrecke die längere Strecke bildet). Das macht verständlich, warum diese Proportion als Wachstumsgesetz dienen kann.

[27]  Vgl. Friedrich Cramer, Chaos und Ordnung: Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 31989, S. 195–202. Ebenso: Friedrich Cramer / Wolfgang Kaempfer, Die Natur der Schönheit: Zur Dynamik der schönen Formen, Frankfurt a. M. 1992, S. 264–283.

[28]  »The fundamental tendency or theme of the universe […] is reflexivity or feedback« (Frederick Turner, »The Sociobiology of Beauty« [s. Anm. 23], S. 79). »The process of evolution itself is a prime example of a generative feedback process. Variation, selection, and heredity constitute a cycle, which when repeated over and over again produces out of this very simple algorithm the most extraordinarily complex and beautiful lifeforms« (ebd., S. 80). Neuerdings hat man sogar schon im Quantenbereich Realisationen der Proportion des Goldenen Schnittes entdeckt (R. Coldea [u. a.], »Quantum Criticality in an Ising Chain: Experimental Evidence for Emergent E8 Symmetry«, in: Science Vol. 327 [8. Januar 2010], S. 177–180).

[29]  Vgl. Turner: »The iterative feedback principle which is at the heart of all these processes is the deep theme or tendency of all of nature […] and it is what we feel and intuit when we recognize beauty« (Frederick Turner, »The Sociobiology of Beauty« [s. Anm. 23], S. 80).

[30]  Die Empfindung des Schönen ist »Ausdruck eines impliziten Wissens […], das uns zur Wahrnehmung des Gesetzmäßigen im Komplexen und damit zur Reduktion von Komplexität befähigt« (Bernd-Olaf Küppers, »Die ästhetischen Dimensionen natürlicher Komplexität«, in: Wolfgang Welsch [Hrsg.], Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993, S. 247–277, hier S. 248).

[31]  Das wissen wir seit der Gestalttheorie des letzten Jahrhunderts und verstärkt durch neuere Befunde der Neurologie. Vgl. zur Rolle der Vorerwartungen: Manfred Fahle, »Ästhetik als Teilaspekt bei der Synthese menschlicher Wahrnehmung«, in: Ralf Schnell [Hrsg.], Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik. Neurobiologie und Medienwissenschaften, Bielefeld 2005, S. 61–109; ferner zur internen Bewertung von Hirnzuständen im Zusammenhang mit den Vorerwartungen: Wolf Singer, »Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung«, in: Christa Maar / Hubert Burda [Hrsg.], Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 56–76.

[32]  Stimmigkeit hat tatsächlich schon im einfachsten Erkenntnisurteil einen Beiklang von Lust. Dieser Beiklang ist allerdings im Normalfall kaum merklich, sondern nur in den ästhetischen Fällen sowie in kognitiven Extremfällen (Heureka) deutlich.

[33]  Vgl. Manfred Fahle, »Ästhetik als Teilaspekt bei der Synthese menschlicher Wahrnehmung« (s. Anm. 31), S. 107 f. – Mit ›lokal‹ meine ich: ›auf eine spezifische Funktion bezogen‹. Gewiss können schon an deren Erfüllung weitläufige Netzwerke beteiligt sein, so dass die Erregung zwar an einer räumlichen Stelle ihr Maximum hat, aber nicht auf diese Stelle beschränkt ist. Das Resonanzphänomen zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass nicht nur u. U. weit entfernte Verbindungen, die für die jeweilige spezifische Funktion unentbehrlich sind, aktiviert werden, sondern dass neuronale Komplexe miterregt werden, die zu der Ausgangsfunktion als solcher nichts beitragen.

[34]  Man beachte auch: für kognitive Kohärenz ist insgesamt weit mehr verlangt als eine einzelne Passung zwischen Schema und Befund. Es braucht darüber hinaus eine Kohärenz zwischen vielen solchen Passungen quer durch die Sinnesgebiete, ja durch potentiell alle Dimensionen unserer Welterfassung. Oder anders gesagt: Es braucht nicht nur die vertikale Passung zwischen Schema und Einzelbefund, sondern auch die horizontale Kohärenz zwischen verschiedenen kognitiven Feldern. Genau das letztere ist im Fall bereichsübergreifender Resonanzen der Fall. Entsprechend weist z. B. Redies darauf hin, dass ästhetische Reize zu maximal synchronisierten Antworten in verschiedenen neuronalen Netzwerken führen (Christoph Redies, »A universal model of esthetic perception based on the sensory coding of natural stimuli«, in: Spatial Vision Vol. 21 (2007), No. 1–2, S. 97–117, hier S. 106).

[35]  Vgl. dazu auch Ramachandrans und Hirsteins Hinweis, dass zur ästhetischen Erfahrung die Verstärkung schon bestehender temporärer Bindungen von Zellensembles gehört (»feature binding«), was mit einer Aktivierung des limbischen Systems einhergeht (Vilayanur S. Ramachandran / William Hirstein, »The Science of Art – A Neurological Theory of Aesthetic Experience«, in: Journal of Consciousness Studies 6 (1999), S. 15–51, hier S. 21 f.).

[36]  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], hrsg. von Gerhard Lehmann, Stuttgart 1963, S. 91, B 29 [§ 9].

[37]  Vgl. dazu schon Baumgartens Bestimmung der Schönheit als Vollendungs-Phänomen (Vollerfüllungs-Phänomen) sinnlicher Erkenntnis: »Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Und eben das ist die Schönheit« – Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 1. Teil [1750], Hildesheim 1970, S. 6 [§ 14].

[38]  Darin, dass für das Erlebnis großer Schönheit eine subjektive Beglückung ausschlaggebend ist, die aus einer ganzheitlichen Aktivierung unserer Grundkonstellation resultiert, stimmen also Phänomenbetrachtung, Kantische Analyse und neuronale Erklärung des Schönen überein.

[39]  Das ist die generelle These der Neuroästhetik. Sie könnte trivial erscheinen – ist es aber nicht. Man überlege nur einmal, wie anders man Kunstausstellungen und Museen nützen wird, wenn man dieser These vertraut. Man wird sie nicht mehr als Andachtstempel ansehen oder als Sonntagnachmittagspflichten aufsuchen, sondern man wird sie als Trainings- und Fitnesszentren für das Gehirn nützen: zum Zweck des Besetzungsumbaus, zur Erzeugung neuer Verbindungen, für Integralerregungen. Oder einem Sonatensatz wird man nicht mehr als historische Kuriosität nachforschen, sondern man wird ihn auf das hin abhören, was er mit unserem Gehirn macht. Und es muss nicht der Sonatensatz sein – Ligeti oder Nono kommen dafür ebenso in Frage.

[40]  Vgl. Wolfgang Welsch, »Das Rätsel der menschlichen Besonderheit«, in: W. W., Immer nur der Mensch? Skizzen zu einer anderen Anthropologie, S. 277–293.

[41]  Vgl. beispielsweise: »Die Wahrnehmung und möglicherweise auch die Freude an musikalischen Kadenzen sowie am Rhythmus ist wahrscheinlich allen Tieren gemeinsam und beruht ohne Zweifel auf der gemeinsamen physiologischen Struktur ihrer Nervensysteme« (Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Stuttgart 21871/72, Bd. II, S. 292). Vgl. dazu in diesem Band: »Der animalische Ursprung der Ästhetik«, bes. S.  243–247.

[42]  Dieser Typus, der an keinerlei Inhalte gebunden ist – weder an die vordergründigen des ersten Typs (Landschaft, Körper) noch an die tieferreichenden des zweiten Typs (Selbstähnlichkeit, Selbstorganisation) –, sondern ganz auf der Erregung der Architektur des Cortex als solchen beruht, ist natürlich auch nicht an bestimmte kulturelle Inhalte gebunden. Eben deshalb ist die Faszination ja, wenngleich stets durch Werke mit bestimmter kultureller Prägung veranlasst, ihrem Grunde wie ihrer Extension nach universal. Dennoch ist anzunehmen, dass dieser Typus erst in der Periode der Kultur zur Geltung kam bzw. verfolgt wurde – weil hier erst die elementaren biologischen und kognitiven Notwendigkeiten abgedeckt waren und ein ›freies Spiel‹ von Wahrnehmungen und Erfindungen beginnen konnte. Der Grund der Faszination durch atemberaubend schöne Werke also liegt tiefer als alles Kulturelle, aber diese Möglichkeit kam erst in der Kultur frei zum Tragen.

[43]  Dabei ist mit ›Subjektivität‹ natürlich die allen Menschen gemeinsame Gattungs-Subjektivität gemeint, nicht die gerade in aestheticis später so beliebt gewordene Individual-Subjektivität.

[44]  Friedrich Schiller, »Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner« [1793 entst., 1847 publ.], in: F. Sch., Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 61980, S. 394–433, hier S. 400 [Brief vom 8. Februar 1793].

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