Ein Gespräch über architektonische Schönheit

Räume, die bewegen

Den Beginn unserer Reihe macht ein Gespräch mit den Ideengebern des Themas, den Brüdern Ansgar und Benedikt Schulz. Der Schauplatz des Treffens im August 2015 war erneut der Zwenkauer See: Ein aufgelassener Tagebau im Revier Südraum Leipzig, der seit 2007 geflutet wird, um als größte Wasserfläche des Leipziger Neuseenland-Naherholungsgebiets zu fungieren. Der kleine Yachthafen im Anschluss an das neue Wohngebiet Kap Zwenkau ist nicht nur der Standort des Entwurfsateliers der Schulz-Brüder, sondern auch des familieneigenen Segelboots: Ein flautenreicher Törn über den Zwenkauer See im Sonnenschein bot die Möglichkeit für ein Gespräch unter acht Augen, das gleichzeitig eine Einführung ins Thema ist: Mit Benedikt und Ansgar Schulz sprachen Andreas Denk und David Kasparek.

Prof. Dipl. Ing. Ansgar Schulz (*1966) studierte von 1985 bis 1992 Architektur an der RWTH Aachen und der ETSA de Madrid. 1992 gründete er mit seinem Bruder Benedikt das Büro Schulz und Schulz mit Sitz in Leipzig. In den BDA wurde er 2002 berufen, in dessen Arbeitskreis junger Architektinnen und Architekten AKJAA im Jahr 2004. Von 2004 bis 2009 gehörte Ansgar Schulz dem Landesvorstand des BDA Sachsen an. Die BDA-Regionalgruppe Leipzig leitete er von 2005 bis 2010. In den Konvent der Bundesstiftung Baukultur wurde er 2009 berufen. Von 2002 bis 2004 lehrte Ansgar Schulz an der TU Karlsruhe. Seit 2010 leitet er gemeinsam mit seinem Bruder den Lehrstuhl Baukonstruktion an der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen der Technischen Universität Dortmund. Seit 1990 ist er Mitglied bei Schalke 04.

Prof. Dipl. Ing. Benedikt Schulz, (*1968) studierte von 1988 bis 1994 Architektur an der RWTH Aachen und der UC de Asunción/Paraguay. 1992 gründete er mit seinem Bruder Ansgar das Büro Schulz und Schulz mit Sitz in Leipzig. In den BDA wurde er 2002 berufen, in dessen Arbeitskreis junger Architektinnen und Architekten AKJAA im Jahr 2004. Als Sprecher stand er dem AKJAA von 2006 bis 2009 vor. 2010 wurde er an die Sächsische Akademie der Künste berufen. 1995 bis 1996 war Benedikt Schulz als Wissenschaftlicher Assistent an der RWTH Aachen tätig. Von 2002 bis 2004 lehrte er an der TU Karlsruhe. Seit 2010 leitet er gemeinsam mit seinem Bruder den Lehrstuhl Baukonstruktion an der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen der Technischen Universität Dortmund. Seit 1990 ist er Mitglied bei Schalke 04.

Benedikt und Ansgar Schulz im Gespräch auf dem Zwenkauer See, Foto: David Kasparek

Benedikt und Ansgar Schulz im Gespräch auf dem Zwenkauer See, Foto: David Kasparek

 

Andreas Denk: Benedikt Schulz, warum interessiert Sie das Thema der Schönheit und ihrer Beständigkeit?
Benedikt Schulz: Ich wollte anlässlich meines Abschieds aus dem Arbeitskreis reflektieren, wie es kommt, das manche gebauten Dinge, mit denen ich mich damals, vor zehn Jahren, im AKJAA vorgestellt habe, nicht mehr vorzeigbar sind, andere aber immer noch sehr gut dastehen. Es gibt Projekte, die in meinen Augen zeitlos sind, und andere, die alle Elemente von „ambitionierten Jungarchitekten“ aufweisen (lacht).

David Kasparek: Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Benedikt Schulz: Wenn ich eine gewisse Relativierung der Gültigkeit der Entwürfe schon nach zehn Jahren sehe, frage ich mich natürlich, wie das Architekten nach dreißig oder vierzig Jahren Häuserbau empfinden. Um das herauszufinden, haben wir Arno Lederer und Christoph Mäckler, die beide schon über sechzig sind, viel gebaut haben und ihr Fähnchen nicht in jeden Wind hängen, danach befragt, wo sie Kontinuitäten und Wandel im eigenen Werk sehen.

Andreas Denk: Haben die beiden Ihre Erwartungen erfüllt?
Benedikt Schulz: Lederer und Mäckler haben klargemacht, dass es ein ganz normaler Vorgang ist, sich mit seinen Arbeiten zwischen Konstanz und Wandel zu bewegen. Die Konstante besteht nicht darin, dass man auf die Welt kommt, weiß, wie man Häuser baut und alle Bauten dann gleich ausfallen. Es muss deshalb einen Wandel geben, der durch Zeitumstände, veränderte Anforderungen und Geschmacksverschiebungen begründet ist Anderseits braucht man eine grundsätzliche Haltung zu dem, was Architektur sein soll – was beide Architekten gut verdeutlicht haben.

Andreas Denk: Es gibt den Typus des Architekten, der sich gestalterisch nur innerhalb eines gewissen Rahmens fortentwickelt und unter dem Motiv einer „Haltung“ ein mehr oder weniger erratisches Œuvre wie Oswald Mathias Ungers oder Hans van der Laan vorlegen kann. Andererseits finden sich jene, deren Architektur sich mit zeitlichen Strömungen und gesellschaftlichen Zuständen immer wieder verändert. Ohne dies bewerten zu wollen: Zu welchem Typus würden Sie sich selbst zählen?
Ansgar Schulz: Wir diskutieren hier über zwei Begriffe. Das eine ist das Wort „zeitlos“ – wie immer wir es definieren – und das andere ist „Mode“. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, und beides kann schöne Resultate erzeugen. Mode ist ein zyklisches Phänomen, ein Kreislauf, bei dem Produkte um ein variables Thema zirkulieren. Vielleicht ist dieses Thema das ‚Schöne‘. Der Begriff des ‚Zeitlosen‘ scheint mir unter Architekten immer mehr für all das gebraucht zu werden, von dem man nicht mehr genau sagen kann, wann es entstanden ist. Beim Versuch einer Einordnung von „zeitlosen“ Erscheinungen in der Architektur kann man vielleicht eine Zeitspanne von dreißig Jahren festlegen, mehr aber nicht. Ein „modisches“ Haus hingegen kann man auf zehn bis fünf Jahre genau festlegen.

Schulz und Schulz Architekten, Wolkenlabor, Leipzig, 2003 – 2005, Foto: Stefan Müller-Naumann

Schulz und Schulz Architekten, Wolkenlabor, Leipzig, 2003 – 2005, Foto: Stefan Müller-Naumann

Andreas Denk: Erfassen wir mit solchen Betrachtungen von „Mode“ und Zeitlosigkeit“ den Begriff der ‚Schönheit‘ überhaupt?
Benedikt Schulz: Weder heute noch bei der Veranstaltung 2014 ging es darum, die Definition absoluter Schönheit zu finden. Das wäre anmaßend. Die Idee war, zu fragen, wie man es als Architekt schafft, sich von Tagesmoden freizuhalten und Entwürfe zu realisieren, die man auch in zehn oder zwanzig Jahren noch anschauen möchte.

David Kasparek: Schönheit entsteht also als Abwesenheit von Trends. Aber was gehört noch dazu?
Benedikt Schulz: Ich habe Schönheit in der Architektur immer so begriffen, dass sie mit dem Begriff der Emotion verschränkt ist. Ein Bauwerk muss emotional berühren. Zur Schönheit in der Architektur gehören sicher Formenlehre, Farbtheorie und dergleichen mehr – aber bei meinem Verständnis von Schönheit geht es im Wesentlichen darum, von einem Bauwerk ergriffen zu sein, sich darin wohl zu fühlen und einen schönen Moment in seinem Leben zu erleben. Das würde ich als wichtige Ingredienz architektonischer Schönheit mit in den Topf werfen.

David Kasparek: Geht es dabei um einen Moment, in dem man bewegt wird…?
Ansgar Schulz: Genau, es geht um den Moment der Anrührung. Sonst verbleiben wir bei einer Betrachtung von Einzelheiten: Licht, Material, Farbe, Proportion…
Benedikt Schulz: Wenn wir uns beispielsweise mit dem Raum beschäftigen, stellen wir fest, dass seine Wahrnehmung im Laufe der Geschichte von verschiedenen Parametern bestimmt worden ist. In den 1980er Jahren hat man ihn beispielsweise ganz anders verstanden als heute. Damals kam kein Entwurf ohne viergeschossige Hallen aus, die ein insgesamt diffuses Raumbild befördert haben. Heute empfindet man Raum eher in einer gefassten Form als angenehm. Angesichts solcher Wandlungen, die ich selbst erlebt habe, glaube ich, dass es überhaupt keine objektiven Wahrheiten bezüglich formaler Schönheit gibt – und ich glaube auch, dass das eigentlich egal ist: Entscheidend ist, dass es zu allen Zeiten immer Gebäude gegeben hat, die so beeindruckend sind, dass sich das, was an ihnen großartig war, auch heute noch so mitteilt.

Andreas Denk: Können Sie als Entwerfer den Prozess dieser Emotionalität von Architektur gezielt in Gang setzen? Entsteht der emotionale Impuls allein dadurch, dass Sie selbst voll in den Entwurfsprozess verwickelt sind – oder geht es um eine Manipulation durch bestimmte Mittel, die Sie bewusst und gezielt einsetzen?
Benedikt Schulz: Der erste Schritt ist das Erkennen des Unterschieds: Ist es Zufall, dass mich ein Gebäude berührt, oder gibt es eine Strategie, die das bewegt? Um diesen Unterschied zu erkennen, haben wir Jahre gebraucht. Heute ist es für uns ein erklärtes Ziel, unsere Gebäude zu emotionalisieren, das wir bewusst angehen.
Ansgar Schulz: Als Architekt verfügt man über Handwerkszeug. Wir versuchen meist, mit dem Haus eine Geschichte zu erzählen und unser Handwerkszeug so einzusetzen, dass diese Geschichte klar erzählt und klar begriffen werden kann. Wir haben schon bei früheren Projekten so gearbeitet. Beim „Wolkenlabor“, dem Troposphärenforschungsinstitut in Leipzig, zum Beispiel haben wir unser Handwerkszeug eingesetzt, um die Geschichte um die Forscher herum und das Einmalige dieses Bauwerks zu erzählen. Die Baukosten waren eigentlich nur für die Errichtung eines ‚Großgeräts‘ bewilligt. Von einem Haus war zunächst keine Rede, das haben wir mit einer symbolischen Form geliefert – und damit das Gerät emotionalisiert.

Andreas Denk: Würden Sie sagen, dass Sie dabei von einer formalen Ästhetik des Gebäudes zu einer inhaltlichen gekommen sind?
Benedikt Schulz: Für mich ist Formalästhetik nichts anderes als ebendieses Handwerkszeug. Aber allein zur Beherrschung dieses Handwerkszeugs haben wir eine Menge Zeit gebraucht. Das sieht man auch am Werk von Lederer und Mäckler: Man braucht einfach eine gewisse Zeit und womöglich auch ein gewisses Alter, um mit bestimmten Materialien umgehen zu können oder bestimmte Räume entstehen zu lassen. Im Vordergrund steht bei uns inzwischen jedoch die Frage nach der Story und danach, wie sich solche Geschichten in eine architektonische Idee überführen lassen. Die Ausarbeitung dieser Idee erfolgt zwar auf handwerkliche Art und Weise, aber der Garant für die innere Schlüssigkeit des Hauses ist die Stimmigkeit der Geschichte mit Raum und Form.
Ansgar Schulz: Nehmen wir als allgemeines und neutrales Beispiel für das, was wir meinen, das Pantheon: Es erzählt jenseits seiner Historie die Geschichte eines auratischen Raums, den man so vorher noch nicht gesehen hat. Und die gesamte Binnenstruktur lenkt den Blick in die Kuppel mit der zentralen Öffnung, durch die auf höchst interessante Weise Licht einfällt, das den gesamten Raum beleuchtet…
Benedikt Schulz: …das Handwerkliche allein reicht eben nicht, man braucht eine Geschichte. Noch vor der Geschichte aber steht das emotionale Erlebnis. Wenn, wie beim Pantheon, die ursprüngliche Geschichte vielleicht daraus verschwunden ist, bleibt trotzdem ein Haus, das die Menschen bewegt.

David Kasparek: Und damit wird die Geschichte ein Mittel zum Zweck?
Benedikt Schulz: Sie ist Teil der Strategie, einem Gebäude bestimmte Eigenschaften einzuschreiben, die jenseits von Vorwissen erkennbar werden. Ich kann durch einen Landschaftspark laufen und ihn großartig finden. Gleichzeitig ist es mir völlig egal, welcher Fürst hier welchen Architekten beauftragt hat. Im Idealfall ist das bei einem Gebäude auch so.

Andreas Denk: Es gibt einen bekannten Aphorismus von Wittgenstein: „Erinnere dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“ Was zunächst banal klingt, ist doch das Erkennen einer spezifischen überwältigenden, Urerkenntnis ermöglichenden Eigenschaft, die einen – wie die Natur selbst – überwältigt und einen verbalen Ausdruck zunächst ausschließt. In der Natur ist dieser Effekt gegeben, in der Architektur ist er gemacht. Ist das Stimulation oder Manipulation?
Ansgar Schulz: Die passende Geste beim Pantheon ist das Stehenbleiben angesichts der großen Kuppel mit der Öffnung in der Mitte, die den Blick in den Himmel freigibt und Regen hereinlässt.
Benedikt Schulz: Es geht nicht um Manipulation…

David Kasparek: …worum geht es Ihnen?
Benedikt Schulz: Uns geht es einfach darum, Freude zu haben, einen schönen Moment zu erleben.
Andreas Denk: Bruno Taut belegt dieses erhebende Erlebnis der Stimmigkeit in seiner „Architekturlehre“ mit dem Begriff der „Proportion“. Er meint damit nicht allein Proportion als Teilungsverhältnis von Länge zu Breite und Höhe. Gemeint ist viel mehr alles, zu dem sich Architektur ins Verhältnis setzt – bis hin zur gesellschaftlichen Richtigkeit. All das trägt dazu bei, dass ein Gebäude „proportional“, angemessen ist, könnte man auch sagen. Und die Quintessenz all dessen ist bei Taut der ‚schöne Gebrauch‘. Die Tauglichkeit all dessen, was die Architektur ausmacht, angemessen in seiner Bestimmung und zugleich so gut gemacht, dass man sich bei dessen Benutzung ergötzt…

David Kasparek: …‚schön‘ wird der ‚Gebrauch‘ erst dann, deute ich unser Gespräch, wenn er den „Benutzer“ emotional bewegt.
Ansgar Schulz: Das gehört für uns zur Hygiene: ‚Schön‘ ist okay, ‚bewegend‘ auch, nützt aber alleine nichts. Architektur ist keine Kunst, die man sich irgendwo hinstellt, sondern sie muss etwas für die Gesellschaft leisten: Das ist der ‚Gebrauch‘.

Andreas Denk: Wenn wir sagen könnten, das ein Kriterium der architektonischen Schönheit der ‚schöne Gebrauch‘ ist, ein anderer die Idee, wie sie Wittgenstein vom Zusammenhang von großer Idee und innerer Anrührung geäußert hat, könnte man als dritte Zutat eine anthropologische Konstituente annehmen: Nämlich, dass Menschen zu einer bestimmten Zeit in einem gewissen Umfeld mit einer spezifischen Prägung immer in ähnlicher Weise auf – zum Beispiel – einen Raum reagieren. Ist das so?
Ansgar Schulz: Ich glaube, dass eine wichtige Konstituente ganz einfach zu benennen ist: Es gibt schon immer den ‚Schuhkarton‘ in der Architektur, und es wird ihn auch immer geben, weil er die Determinanten des Raumes auf einfachste Weise für den Menschen sichtbar macht: Sei es als Würfel, als Quader, gut proportioniert, mit dem Goldenen Schnitt entworfen oder sonst wie. Alles andere sind zeitgebundene Ausreißer: Die technischen, konstruktiven und materiellen Möglichkeiten lassen offene Räume zu, fließende Räume, Räume, die suggerieren, dass sie Innen und Außen verbinden. Aber es wird immer wieder eine Rückbesinnung auf die einfachste aller möglichen Raumbildungen geben. Auch im Schulbau, wo man derzeit überall von offenen Lernlandschaften redet, wird man in zehn oder fünfzehn Jahren wieder auf den ‚Schuhkarton‘ zurückkommen.

Kevin Roche und John Dinkeloo, Ford Foundation, New York, USA 1963-1968, Foto: D_M_D (via flickr.com / CC BY-SA 2.0)

Kevin Roche und John Dinkeloo, Ford Foundation, New York, USA 1963-1968, Foto: D_M_D (via flickr.com / CC BY-SA 2.0)

Andreas Denk: Wie gehen Sie als Architekten mit der dennoch naheliegenden Befürchtung um, dass eine Raumvorstellung, die wir heute architektonisch formulieren, für die nächste Generation vielleicht völlig irrelevant sein könnte?
Benedikt Schulz: Es ist nie so, dass eins das andere vollständig ersetzt. Es kommen immer nur neue Dinge hinzu. Der Ausdruck des fließenden Raums ist als Gegenbewegung zu einer statischen Raumvorstellung hinzugekommen, deren gesellschaftliche und physikalische Richtigkeit man in Frage stellen wollte. Mit Zaha Hadid beispielsweise kamen wieder andere Raumvorstellungen auf den Plan, die sich wiederum aus anderen kosmischen und gesellschaftlichen Konzeptionen gespeist haben. Trotzdem kann auch ein Raum emotional höchst bewegend sein, der aus heutiger weltanschaulicher Perspektive völlig unzeitgemäß erscheint. Ich glaube nicht, dass das emotionale Erlebnis, das Erspüren und Erahnen Zeitströmungen unterworfen ist.

David Kasparek: Können Sie konkrete Beispiele nennen, bei denen Sie diese Diskrepanz von zeitlicher Bedeutung und emotionaler Rührung erlebt haben?
Benedikt Schulz: Ich war kürzlich in New York und bin an der Ford-Foundation von Kevin Roche und John Dinkeloo vorbeigekommen. Im Atrium war ich sehr ergriffen, obwohl es für unsere Gewohnheiten sehr dunkel ist und heute niemand mehr so bauen würde. Aber gleichwie: Der Raum ist wunderbar.
Ansgar Schulz: Der Metropol-Parasol von Jürgen Mayer H. in Sevilla ist für mich ein anderes Beispiel, das sehr zeitgeistig und trotzdem ein sehr bewegender Raum ist.

Andreas Denk: Es geht Ihnen darum, bei den Nutzern Wohlgefühl zu erregen. Das kann nur entstehen, wenn bestimmte ästhetische Kriterien erfüllt sind, die jenseits des Konstruktiven liegen. In einer Untersuchung, die der Philosoph Wolfgang Welsch anführt, hat man herausgefunden, dass Menschen aus Jagd- und Sammelgewohnheiten besonders positiv auf Savannenlandschaften reagieren…
Ansgar Schulz: Das steckt doch tief in uns drin. Günter Behnisch hat das beispielsweise gemacht, als er das Olympia-Stadion entworfen hat. Man könnte glauben, er habe eine Landschaft gebaut, die sich besonders eng an das Empfinden der Menschen für Naturschönheit anlehnt – und damit einen Königsweg beschritten, den man für die Architektur lange Zeit ähnlich angenommen hat. Das ist übrigens auch in Sevilla so…

Jürgen Mayer H., Metropol Parasol, Sevilla, Spanien 2005 – 2011, Foto: Rubendene (via wikimedia / CC BY-SA 3.0)

Jürgen Mayer H., Metropol Parasol, Sevilla, Spanien 2005 – 2011, Foto: Rubendene (via wikimedia / CC BY-SA 3.0)

David Kasparek: Können Sie sich vorstellen, mit solchen mentalen Mustern zu arbeiten, um ein Gefühl des Bekannten, Angenehmen und Übersichtlichen – und damit auch ästhetisch positiv Bewerteten – zu erzeugen?
Benedikt Schulz: Die Frage berührt den Kern des Problems. Wir arbeiten am liebsten in mathematisch klar definierten Systemen, weil wir sie für leicht nachvollziehbar halten. Bei anderen Architekten ist das anders. Ich würde kein System oder Rezept empfehlen, sondern viele Wege für möglich halten…

Andreas Denk: …wie den der Architektenfamilie Böhm, die eine eher skulpturale Vorstellung von Formen und Räumen haben. Der Entwurfsprozess von Gottfried Böhm geschieht vor allem durch Imagination, plastisches Gefühl und Zeichnung. Dabei können aus dem bloßen Gefühl für die plastische Bildung beeindruckende Räume entstehen, denen man sich kaum entziehen kann – wie etwa in der Wallfahrtskirche in Neviges.
Benedikt Schulz: …das ist toll! Ich kann das nicht, aber ich ziehe meinen Hut davor. Dafür kann ich auf einer anderen, vielleicht mühsameren Strecke das Ziel erreichen. Aber auch geniale Raumbildner brauchen Handwerkszeug und Wissen.

David Kasparek: Können Sie den Prozess der Aufladung der Architektur an einem eigenen Werk beschreiben? Wie war das zum Beispiel bei Ihrer Trinitatis-Kirche in Leipzig?
Benedikt Schulz: Die schwierigste Frage bei diesem Projekt war, wie man einem Bauwerk, das aus einem analytischen Projekt resultiert, Emotionen einhaucht. Das ist sicherlich nicht bei jedem Gebäude nötig oder möglich. Aber bei der Kirche war es vom Bauherrn explizit gefordert. Das war für uns natürlich eine schöne Herausforderung: Wir haben einerseits versucht, den Augenblick des Betretens des Baus zu einem empfindungsreichen Moment zu machen. Andererseits haben wir den Raum so gestaltet, dass er auch während der Gottesdienste ein besonderes Erlebnis ermöglicht. An letzterem sind wir natürlich nur noch bedingt beteiligt. Aber wenn ich an den Weihegottesdienst denke und an den Bischof, der den Altar gesalbt hat, waren das schon sehr starke Momente. Es hat sich gezeigt, dass sich auch mit rationalen Mitteln der Architektur Gefühl einschreiben lässt.

Schulz und Schulz Architekten, Katholische Propsteikirche St. Trinitatis, Leipzig 2012 – 2015, Foto: Simon Menges

Schulz und Schulz Architekten, Katholische Propsteikirche St. Trinitatis, Leipzig 2012 – 2015, Foto: Simon Menges

Andreas Denk: Welche Erkenntnisse haben Sie schließlich aus dem Entwurf der Kirche hinsichtlich der Emotionalisierung gewonnen?
Benedikt Schulz: Zum einen die Gewissheit, dass es funktioniert. Wir wissen jetzt, was wir bei einem anderen Bauvorhaben machen müssten, um einen ähnlichen atmosphärischen Effekt zu erzielen. Wir haben eine Art übertragbare Strategie gefunden, ohne dass wir unsere Überlegungen zum Patentrezept erklären wollen. Wenn ich den Vergleich zum Film und zu Hollywood-Regisseuren ziehe, dann überlegen sich diese Leute auch im Vorfeld, welche Versatzstücke sie für einen Blockbuster brauchen. Und doch ist das am Ende kein Garant dafür, dass der Film erfolgreich wird. Ich denke immer öfter, dass unser Business dem in Hollywood gar nicht so unähnlich ist. Vor allem, wenn es um das Geschichtenerzählen geht und um das Erzeugen von schönen Momenten. Der Unterschied ist wohl der, dass unser Produkt auf einer anderen Ebene angesiedelt und komplexer ist.

David Kasparek: Hollywood greift bei der Produktion von Blockbustern immer häufiger darauf zurück, eine Form von Verlässlichkeit in die eigene Produktion zu bringen. Die Zuschauer können sich darauf verlassen, dass ihnen eine gewisse Qualität und ein gewisser Inhalt geliefert werden. Geht das auch in der Architektur?
Ansgar Schulz: Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse für uns: Man muss natürlich überhaupt erst einmal die Möglichkeit haben, eine Geschichte erzählen zu können. Es bringt nichts, Energie, Zeit und Geld in ein Projekt zu stecken, wo das nicht gewünscht ist, oder die Möglichkeiten – finanziell oder intellektuell – nicht vorhanden sind. Bei der Leipziger Kirche wollte man, dass wir eine Geschichte erzählen und hat uns die Möglichkeit eröffnet, unser Handwerkszeug daraufhin zu erproben, ob sich damit Emotionen hervorrufen lassen. Wir haben eine Art Matrix entwickelt, die wir von jetzt ab im Vorfeld über Projekte legen und prüfen können, ob es solche Möglichkeiten gibt. Wenn die Voraussetzungen fehlen, versuchen wir, die Finger davon zu lassen…
Benedikt Schulz: …wir können damit inzwischen gezielter nach Projekten suchen, die das Potential dafür bieten.

Andreas Denk: Gibt es in Ihrer bisherigen Bilanz eigene Projekte, die in der Rückschau an Relevanz verlieren, weil die Diskrepanz zwischen Aufgabe und dem Bemühen um einen emotionalen Ausdruck zu groß gewesen ist?
Benedikt Schulz: Was wir über so manches unserer früheren Projekte denken, ist im Zweifel nicht relevant. Die Nutzer sind im besten Fall noch immer von ihrem Haus begeistert und emotionalisiert – unabhängig davon, was wir heute wissen und machen. Was ich mich aber angesichts der Kritik an der modernen Architektur und ihrer Verteidigung zunehmend frage: Warum ist es keine selbstverständliche Anforderung an Architektur, Menschen glücklich zu machen?

Prof. Andreas Denk (*1959) studierte Kunstgeschichte, Städtebau, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Vor- und Frühgeschichte in Bochum, Freiburg i. Brsg. und in Bonn. Er ist Architekturhistoriker und Chefredakteur der Zeitschrift der architekt des BDA und lehrt Architekturtheorie an der Technischen Hochschule Köln. Er lebt und arbeitet in Bonn und Berlin.

Dipl.-Ing. David Kasparek (*1981) studierte Architektur in Köln. Er war Mitarbeiter an der Kölner Kunsthochschule für Medien und als Gründungspartner des Gestaltungsbüros friedwurm: Gestaltung und Kommunikation als freier Autor, Grafiker und Journalist tätig. Nach einem Volontariat in der Redaktion von der architekt ist er dort seit 2008 als Redakteur beschäftigt. David Kasparek lebt und arbeitet in Berlin.

Fotos: Simon Menges/Stefan Müller-Naumann/David Kasparek/Rubendene (via wikimedia – CC BY-SA 3.0)/D_M_D (via flickr.com – CC BY-SA 2.0)

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