Benedikt Hotze

Der gekaperte Entwurf

Die Splanemannsiedlung in Berlin-Lichtenberg

Die Splanemannsiedlung, 1926 / 27 in Berlin-Lichtenberg errichtet, generiert Aufmerksamkeit hauptsächlich wegen eines ihr angehefteten Superlativs: Sie wird wahlweise als „erste Plattenbausiedlung der Welt“ bezeichnet (was sie sicher nicht ist), als „eine der ersten Plattenbausiedlungen“ (was wegen Unschärfe nicht abgewiesen werden kann) oder als „erste deutsche Siedlung in Plattenbauweise“ (was als Stand der Forschung bezeichnet werden darf). Um diesen Superlativ indes qualifizieren zu können, müsste der Begriff „Plattenbau“ definiert werden. Aus diesem Projekt heraus könnte man als Definitionsmerkmal heranziehen, dass geschosshohe Betontafeln vorgefertigt und auf der Baustelle montiert wurden. In diesem Fall hatten die Standardelemente eine Breite von 7,50 Metern und je zwei Fensterachsen.

Jakobus Göttel, Wilhelm Primke, Splanemannsiedlung, Berlin 1926 – 1930, Foto: Benedikt Hotze

Soweit die Literaturlage, die es nun vor Ort zu überprüfen gilt. Die Annäherung führt durch die Großsiedlung Friedrichsfelde aus DDR-Zeiten, gegenüber dem (Ost-)Berliner Tierpark. Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Elfgeschosser wirken die seit der letzten Sanierung 2002 blau und rot eingefärbten zwei- und dreigeschossigen Zeilen der Splanemannsiedlung wie ein kurioser Fremdkörper. Die Siedlung steht in der Tradition gartenstädtischer Bauweisen, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann vielfach in den 1920er Jahren realisiert wurden. Relativ flachgeneigte Satteldächer, Sprossenfenster und angedeutet gotisierende Giebelfronten stehen für eine konservative, solide Gestaltungsauffassung der Zeit. Die um 45 Grad herausgeklappten Treppenhäuser gliedern die Baukörper und sorgen für einen leicht expressionistischen Zug. Mietergärten machen das kleine Idyll perfekt. Nur: Allenfalls horizontale Putzkanten auf Höhe der Geschossdecken vermitteln eine Ahnung von Plattenbau, die Architektur hingegen bedient diese Erwartungshaltung sonst in keiner Weise.

Jakobus Göttel, Wilhelm Primke, Splanemannsiedlung, Berlin 1926 – 1930, Aufriss

Um die auffällige Diskrepanz zwischen Baukonstruktion und Aussehen zu verstehen, ziehen wir noch einmal die Literatur heran: Der Entwurf der Siedlung der Architekten Primke und Göttel (andere Quelle: Wilhelm Primke allein) stand bereits fest und sollte im konventionellen Mauerwerksbau errichtet werden, als Stadtbaurat Martin Wagner „verordnete“, diesen für die Plattenbauweise umzuarbeiten. Wagner, der entscheidend auch die meisten der heute als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannten „Siedlungen der Berliner Moderne“ vorangetrieben hatte, wollte hier an der damaligen Kriegerheimstraße ein „Experimentierfeld“ für industrielle Bauverfahren einrichten und kaperte gleichsam einen Entwurf, der dafür nicht gedacht war. Weil die Siedlung mit öffentlichen Mitteln gebaut werden sollte, hatte er dieses Zugriffsrecht qua Amt.

Dick Greiner, Betondorp, Amsterdam 1923 – 1925, Foto: Vincent Steenberg (CC BY SA 3.0)

Zum Einsatz kam dabei das damals hochmoderne niederländische Verfahren „Bron“. Allerdings ist es hier mit der Vorfertigung so eine Sache: Die Tafeln wurden nicht etwa in einem externen Betonwerk hergestellt, sondern direkt auf der Baustelle gegossen und mit Hilfe eines Portalkrans montiert – Fenster und Türen inklusive. Insofern kann nach einer einschlägigen Definition zwar von Plattenbau, nicht aber von „industrialisiertem Bauen“ gesprochen werden – dazu hätten die Platten aus der Fabrik kommen müssen. Doch Definition hin oder her: Im Ergebnis war das Experiment nicht erfolgreich. Die differenzierten Baukörper mit ihren Vor- und Rücksprüngen, die relativ kleinen Hauseinheiten und die unerwartet langen Trocknungszeiten der Bauteile verhinderten tatsächlich eine nennenswerte Zeit- und Kostenersparnis – weshalb diese Bauweise auch bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin für den Wohnungsbau nicht mehr zur Anwendung kam.

Jakobus Göttel, Wilhelm Primke, Splanemannsiedlung, Berlin 1926 – 1930, Foto: Benedikt Hotze

Übrigens: Das System „Bron“ war bekannt geworden durch die Siedlung „Betondorp“, die der Architekt Dick Greiner 1923 – 1925 in der Amsterdamer Oogststraat errichtet hatte. Die zweigeschossigen Zeilen dort zeigen eine komplett andere Ästhetik als die Splanemannsiedlung: In Amsterdam sind, etwa im Sinne der zeitgleichen Siedlungen von Oud in Rotterdam, sparsame weiße Flachdachbauten entstanden, die durch liegende Fensterformate und meist in Vierergruppen zusammengefasste, farbige Eingangstüren akzentuiert sind. Die Pointe ist also, dass die Plattenbauweise keine austauschbare Bautechnik unter vielen ist, sondern von vornherein nach einer spezifischen konzeptionell-gestalterischen Vorstellung verlangt. Dann können die Ergebnisse ansprechend werden und auch kosten- und terminseitig erfolgreich sein. Die Splanemannsiedlung zeigt, dass es umgekehrt jedenfalls nicht geht.

Benedikt Hotze studierte in Braunschweig und Lausanne Architektur, war 22 Jahre lang Redakteur bei Bauwelt und BauNetz und hat in Bochum und Cottbus Architekturvermittlung gelehrt. Er ist seit 2015 Pressereferent des BDA.

Literatur
Hannemann, Christine: Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Berlin 22000.
Grünzig, Matthias: Sanierung Splanemannsiedlung, in: Bauwelt 45 / 2002, S. 3.
Birne, Torsten: Die Splanemannsiedlung von Martin Wagner in Berlin-Friedrichsfelde, in: Der Architekt 9 / 97, S. 526.
Denkmaldatenbank des Landesdenkmalamts Berlin: stadtentwicklung.berlin.de/denkmal

Artikel teilen:

Ein Gedanke zu “Der gekaperte Entwurf

  1. Guten Tag,
    in dieser 1. Plattenbausiedlung wurde ich 1941 geboren und habe bis zum 18.Lebensjahr dort gewohnt.
    Es waren sehr schöne Wohnungen;Bad, Küche und Balkon und sogar ein kleiner Garten. Viel Grün herum.
    Viel Komfort zur damaligen Zeit. Gemütliches wohnen, fast alle kannten sich bei nur 138 Wohnungen.
    Ich weiß noch, daß als Füllstoff eine Art Schlacke in den Wänden war. Beim bohren größerer Löcher bröselte diese dann heraus. Das Bad hatte eine Wanne und einen Gasbadeofen und die Küche eine Gasherd. In einem der Kellerräume befand sich eine Waschküche und sogar eine Toilette !! Der Dachboden war geräumig und diente zum Wäschetrocknen. Als Kinder haben wir sogar auf dem Dachfirst gesessen, die Dachneigung war nicht so steil.
    Ich freute mich sehr über den Bericht hier und konnte viele interessante Details erfahren.
    Freundliche Grüße
    Werner Sachs

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert