Andreas Denk

Architektur am Pranger

Die Debatte um Partizipation, die gegenwärtig den bundesdeutschen Architekturdiskurs bestimmt, ist notwendig, wird aber unter falschen Vorzeichen geführt. Denn das Verlangen zumindest eines Teils der Bevölkerung nach mehr Teilhabe an Entscheidungen, die ihr unmittelbares und mittelbares Lebensumfeld betreffen, ist wohl nur selten Ausdruck der grundsätzlichen Ablehnung einer spezifischen Architektur oder Stadtfigur. Vielmehr spiegelt sich im Streit über die Gestaltung der Stadt eine Systemkrise, die erheblich größeres Konfliktpotential birgt, als auf den ersten Blick sichtbar wird. Der Protest ist Ausdruck der vielleicht größten Krise des Parlamentarismus seit 1949.

Dass sich die öffentliche Diskussion aus der Sicht von Architekten und Stadtplanern auf eine Kritik der zeitgenössischen Architektur- und Planungspraxis reduziert, ist verständlich. Dazu trägt bei, dass seit längerem große und mittelgroße, mitunter sogar kleine Projekte sowohl in der Stadt wie auf dem Land kaum noch unwidersprochen bleiben. Die Folgen sind offenbar: Neben dem Zeitverlust und dem Kostenanstieg bei der Realisierung von Projekten bleibt mitunter die Qualität auf der Strecke, weil formale und materialästhetische Belange von Architektur in der öffentlichen Diskussion selten gewichtige Fürsprecher haben.

Dass das so ist, liegt zu einem guten Teil an der sektoralen Bildungsferne einer erklecklichen Anzahl der politischen Akteure. Sie sind sozialisationsbedingt gewohnt, zuerst die wirtschaftlichen und dann vielleicht die sozialen Vor- und Nachteile baulicher Unternehmungen zu registrieren. Ästhetische Urteile fallen in der Regel nicht in ihr Ressort und bleiben, wenn überhaupt, den Feuilletons der Tagespresse überlassen. Dass das Wohl der Gemeinschaft auch über die Ethik der Ästhetik entschieden werden könnte, ist in diesen Kreisen eine selten anzutreffende Meinung einzelner Sonderlinge.

Stattdessen hat „die Politik“ erkannt, dass das Bauen eine mögliche Chance, aber auch ein Gefahrenpotential für die Sicherung der Wiederwahl bietet. Populistische Maßnahmen ziehen Masse, der Einsatz für unpopuläre Projekte kann Wählerstimmen oder gar die politische Karriere kosten. Ein zeitliches Investment über die Legislaturperiode hinaus lohnt sich nicht. Der Politiker „zieht die einzelne Aufgabe, die ihm Erfolg bringt, dem längeren Engagement vor“, hat Lucius Burckhardt schon 1968 geschrieben. Und schon gar nicht will er für Misserfolge zur Rechenschaft gezogen werden können: eine Haltung, die inzwischen in vielen Städten den „vorhabenbezogenen Bebauungsplan“ zur Strategie städtischer Nicht-Planung erhoben hat.

Das Tragische an Burckhardts Feststellung ist indes, dass sie nicht allein für die Architektur, sondern für alle Politikbereiche gilt. Denn die Fehlstellen des Systems sind offensichtlich: Für die komplexe Feinkörnigkeit urbaner Probleme fehlt vielen lokalen Mandatsträgern der Überblick. Zudem werden viele Projekte in Städten inzwischen von Konsortien initiiert, die als „global player“ die Kompetenzen von Lokalpolitikern eindeutig überfordern. Die Komplexität der Aufgaben nimmt in den nächsthöheren Ebenen der Landes- und Bundespolitik weiter zu: Hier herrscht zwangsläufig eine gröbere Körnung der Aufmerksamkeit, die sich durch die Belastung mit bundes- und europaweiten oder sogar globalen Themen erklärt, die intellektuell und organisatorisch kaum noch beherrschbar sind. Gegenüber Eurokrise und globaler Erwärmung bleibt die Sozialpolitik im eigenen Land ein Luxusthema.

Viele „Volksvertreter“ scheinen in der öffentlichen Wahrnehmung nichts anderes zu vertreten als sich selbst oder wirtschaftliche Interessen einflussreicher Finanz- und Wirtschaftsakteure: Der Losungsruf „Wir sind das Volk“ hat in den Augen vieler Bürger eindeutig eine befremdliche Neuinterpretation erfahren. Bei objektivierter Betrachtung bleibt diese Sicht einseitig. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Parlamentariern auf allen Ebenen, die ihrer Aufgabe gerecht zu werden versuchen. Ihr Gestaltungswille allein reicht indes nicht: Bei der gegenwärtigen parlamentarischen Kurzatmigkeit bleiben Themen wie Integration, Armut, Bildung und Kultur Strohfeuer.

Diese Problematik ist weiten Kreisen der Bevölkerung reflexiv oder intuitiv bewusst. Die viel beklagte Politikverdrossenheit ist nichts anderes als ein ins Bodenlose tendierendes Misstrauen gegenüber Politikern. Aus ihm erwächst bei vielen der dringende Wunsch nach einem anderen Verhältnis der Bürger zu ihren Vertretern und der noch dringendere Wunsch nach einem anderen Verhältnis der Politiker zu den Entscheidungsträgern der Wirtschaft, die ihnen oft zu nah verbunden scheinen. Die lokale, aber auch überregionale Selbstorganisation von Wissens- und Interessensnetzwerken – durch das Internet enorm vereinfacht – wird den Druck auf die Politik weiter erhöhen. Gefordert ist ein anderer Typ des Politikers, der den schwierigen Spagat zwischen basisnahem Demokratieverständnis und dem Einsatz auch für schwierig zu vermittelnde Projekte und Maßnahmen hinbekommt. Ob die politische Kaste schließlich aus sich selbst heraus reformfähig ist, entscheidet über die Zukunft der Demokratie.

Wenn sich also der Unmut denkender oder frustrierter Bürger gegen Bauvorhaben und städtische Planungen richtet, ist das eher symbolisch als grundsätzlich zu verstehen. Architektur ist ein unmittelbar sichtbarer Teil öffentlichen Handelns, an dem sich der Widerspruchsgeist am ehesten entzündet: Nicht weil eine architektonische Idee besonders gut oder schlecht ist, sondern weil sie anders als das Sozial- oder das Finanzwesen mit einer materiellen Konkretisierung verbunden ist. Architektur ist eben eine „öffentliche Kunst“, der man zu Recht viel abverlangen darf.

Doch diese Erkenntnis ist kein sanftes Ruhekissen. Die Diskussion um die Partizipation ist angesichts der unzureichenden Praxis von Beteiligungsverfahren weiterhin angebracht. Die kaum noch ernsthaft betriebene „vorgezogene Bürgerbeteiligung“ muss dringend rehabilitiert und reformiert werden. Dabei ist zu überlegen, ob nicht Charette-Verfahren, die als ideengebende Workshops in den USA zur täglichen Planungspraxis gehören, trotz eines hohen Betreuungsaufwands zu einem regelmäßig genutzten Instrument der Stadtplanung werden können. Gelingt hier eine andere und bessere Form der bürgerlichen Teilhabe, wäre viel gewonnen – auch für den Berufsstand.

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