Spaziergänge mit Heiner Farwick

Auf dem Boulevard

Diesmal ist Hannover der Schauplatz des Geschehens: Für das zur guten Gewohnheit gewordene Gespräch in Bewegung haben sich Heiner Farwick, Präsident  des BDA, und Andreas Denk, Chefredakteur dieser Zeitschrift, die Flaniermeile der Georgstraße zwischen Kröpke und Aegidienplatz mit ihren Plätzen, Grünanlagen und architektonischen und künstlerischen Monumenten inmitten der Leine-Metropole ausgesucht. Im Zentrum des Gesprächs steht die Stadt als solche – und damit eine erste Vorschau auf den kommenden BDA-Tag in Münster.

Andreas Denk: Herr Farwick, der nächste BDA-Tag wird in Münster stattfinden. Das ist kein Zufall. Sie kommen aus der Region und wissen deshalb die besonderen Qualitäten dieser westfälischen Kapitale zu schätzen. Um was geht es hier?

Heiner Farwick: Es geht um zwei Dinge, die die Stadterfahrung betreffen: Zum einen sind es 2017 die alle zehn Jahre stattfindenden „Skulpturprojekte“, bei denen ortsbezogene künstlerische Arbeiten im öffentlichen Raum zu sehen sind, die sich auch mit der Stadt und der Architektur auseinandersetzen. Diese international renommierte Ausstellung unter freiem Himmel ist es sicherlich wert, dass sich der BDA und seine Architekten mit dieser besonderen Art und Weise beschäftigen, eine Stadt und ihre Qualitäten wahrzunehmen. Zum anderen ist es die besondere Art der Ausprägung des Stadtbildes von Münster. Die historisch gewachsene Stadt hat sich nach der Erfahrung mit sehr großen Kriegszerstörungen für einen besonderen Weg des Wiederaufbaus entschieden und hat dann sein Stadtbild bis in die Gegenwart gepflegt, ohne auf zeitgenössische Akzente zu verzichten.

Andreas Denk: Geht man durch Münster, sind es zwar auch die historischen Baudenkmäler und Wiederaufbauleistungen wie der Prinzipalmarkt, aber es ist vor allem das, was man gemeinhin etwas unscharf als „Alltagsarchitektur“ bezeichnet:  Neubauten aller Jahrzehnte fügen sich auf manchmal anpassende, manchmal widersprechende, oft ganz und gar unauffällige Weise, aber fast immer geschickt und ohne Maßstabsbruch dem Stadtganzen ein. Was meinen Sie, wie kommt es zu diesem Effekt?

Heiner Farwick: Die Münsteraner Bevölkerung hat ein gutes Gespür für ihre Stadt. Sie hat offenbar aus einer langen Tradition heraus ein Gefühl dafür, was dem Stadtbild gut tut. Nicht ohne Grund wird Münster immer wieder in rankings weit oben notiert, die über die Lebenszufriedenheit der Menschen Auskunft geben sollen.

Andreas Denk: Was ist nötig, damit eine Stadt solche Glücksgefühle erzeugt?

Heiner Farwick: Ich bin mir sicher, dass das Stadtbild dazu beiträgt, weil es Ausdruck eines Selbstverständnisses der Bürger ist, das über lange Zeit gewachsen ist. Es trägt aber auch bei im Sinne einer „Lesbarkeit“ der Stadt, die auch für Menschen, die nicht unmittelbar im Stadtkern wohnen, Identifikationspunkte bildet, die ihnen und ihrem Leben Halt und Orientierung geben. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Münster: Hier sind es neben dem relativ gleichmäßigen architektonischen Niveau die überschaubare Größe, die beherrschbaren Distanzen zwischen wichtigen Orten und die Existenz von strukturierenden Platzräumen, die seit langem das Leben in der Stadt prägen. Diese erkennbare Kontinuität verleiht Sicherheit, Zufriedenheit, vielleicht Geborgenheit und, wenn Sie so wollen, sogar Glück.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: Wie gelingt es, in einer Stadt, die ein mäßig ausgeprägtes Interesse an Architektur hat, dennoch einen Standard zu erzeugen, der ein Abgleiten in die Zufälligkeit verhindert? Und den Ortsfremden unmittelbar einen Eindruck eines gewissen Geistes gibt, der den baulichen Ausdruck der Stadt bestimmt?

Heiner Farwick: Das Bewusstsein für die bauliche Gestaltung ist in Münster relativ hoch. Man kann es sich nicht erlauben, irgendetwas Beliebiges in die Stadt hineinzusetzen. Neubauten und städtebauliche Veränderungen werden innerhalb der Bürgerschaft durchaus reflektiert und disputativ diskutiert, so dass auch auswärtigen Investoren ziemlich schnell klar wird, dass es hier um eine Qualität geht, die nicht leichtfertig verspielt werden darf.

Andreas Denk: Sie vermuten also dahinter ein langfristig gewachsenes Bürgerinteresse. Ist das vergleichbar mit den Situationen in Vorarlberg oder in der Oberpfalz, wo es einige rührige BDA-Architekten verstanden haben, mit hohem persönlichen Engagement ein positives Klima für zeitgenössische Architektur zu schaffen?

Heiner Farwick: Das ist nur bedingt vergleichbar. In einer Stadt wie Münster liegt diese mentale Haltung sehr viel tiefer als in den Regionen, die seit zwei bis drei Dekaden eine reflektierte qualitative Entwicklung verzeichnen. Sie ruht, wie ich vermute, in der Geschichte der Bürger- und Bischofsstadt begründet, in der einerseits Kaufleute seit mehreren Jahrhunderten mit einem gewissen Stolz die Baulichkeit der Stadt geprägt haben und andererseits der Klerus zu einem wichtigen Träger der Baukultur geworden ist. In diesem Spannungsfeld hat man die Maßstäbe stets hochgehalten.

Andreas Denk: Es geht aber nicht nur um die bauliche Manifestation eines Anspruchsniveaus, sondern auch um den Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls, das sich im städtebaulich-architektonischen Rahmen einer Stadt vermittelt. Lebensqualität kommt auch durch das Funktionieren unterschiedlicher öffentlicher Räume, durch  Einkaufsmöglichkeiten mit einer großen Auswahl auch spezialisierter Produkte, durch gastronomische und Freizeitangebote zustande: Letztlich ist es doch die Fülle und die Varianz von Angeboten, die wir neben dem Vertrauten schätzen, das uns die Räumlichkeit der Stadt bietet. Wie, glauben Sie, hängt das zusammen?

Heiner Farwick: Diese Faktoren bedingen sich gegenseitig. Wenn eine Stadt ein positives Grundgefühl hat, ist das schon einmal eine gute Voraussetzung. In Münster bedingt dieses vor allem natürlich der Prinzipalmarkt, der Dombereich oder beispielsweise die grüne, baumbestandene Promenade, die die niedergelegte Stadtumwallung ersetzt hat, und die der Innenstadt von vornherein ein ganz anderes Gepräge gibt als es in den Städten möglich ist, die den Verlauf der ehemaligen Stadtmauer für einen mehrspurigen Straßenring genutzt haben. Aber jenseits solcher städtebaulicher Glücksfälle kommt es natürlich vor allem auf die Mitwirkung einer sozialen Trägerschicht an, die diese Varianz an Angeboten nicht nur erzeugen, sondern auch nutzen kann. Möglicherweise ist eine Bürgerschaft nur dann in der Lage, Politik und Verwaltung sowie Wirtschaft so zu koordinieren, dass die Stadt zu „ihrem“ Ausdruck wird.

Andreas Denk: Wir haben jetzt viel über die Stadt des 13. BDA-Tags 2017 gesprochen. Glauben Sie, dass die Parameter der „guten“ Stadt, die wir erörtert haben, sich verallgemeinern lassen?

Heiner Farwick: Wenn man sich von den Grundregeln der Stadtgestaltung entfernt, ist die Gefahr groß, dass die über lange Zeit erreichte Kontinuität verloren geht. Ein einziger falscher Baustein kann eine ganze Reihe stören. In vielen anderen Städten ist da einiges verlorengegangen. Eigentlich sind wir ja erst seit zwanzig Jahren dabei, das Spezifische einzelner Städte zu suchen und wiederzugewinnen…

Andreas Denk: Das Motto des BDA-Tags heißt: „Die Stadt, die ich brauche – die Stadt, die ich liebe“. Darunter sollen Anhaltspunkte für ein Leitbild der Stadt gegeben werden, in der, um es philosophisch zu sagen, „Leben gelingen“ soll (siehe der architekt 2/17, S. 76). Können wir angesichts der Entwicklung des Städtewesens in Mitteleuropa, das so wesentlich auf den Primat der Wirtschaft ausgerichtet scheint, überhaupt noch eine solche verallgemeinernde Diskussion führen? Ist die „Eigenlogik“ der Städte inzwischen nicht so weit differenziert, dass wir nur noch von Städten verschiedenen Typs sprechen können? Oder sind andersherum die Muster der Städte mit einer globalisierten Architektur schon so verwechselbar, dass wir erst mühsam nach ihrer Unterscheidbarkeit suchen müssen?

Heiner Farwick: Natürlich gibt es – heute erkennbarer als früher – parallele Entwicklungen in den Städten, aber dennoch unterscheiden sich die Charakteristika der Stadtbilder erheblich voneinander. Insofern spielen sie auch immer noch eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung der Menschen, die ohne Frage nicht nur ein Bewusstsein für die Qualitäten „ihrer“ Stadt haben, sondern zum Glück auch eins für die Unterschiede zwischen einzelnen Städten.

Andreas Denk: Möglicherweise brauchen die Menschen das Eigentümliche, das Spezifische, das Einzigartige eines Ortes, um ihn „lieben“ zu können. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie das „Ortsspezifische“ entsteht?

Heiner Farwick: Der Wunsch der Menschen nach dem Originellen und Einzigartigen spielt immer noch eine genauso große Rolle wie die Suche nach dem Typischen und Charakteristischen. Wenn es uns also als Architekten und Stadtplanern gelingt, Situationen und Gebäude so gut zu machen, dass sie im städtebaulichen Kontext, in der Gesamtgestaltung und im Detail jedem Betrachter vermitteln, dass sie mit Anspruch und der genügenden Ernsthaftigkeit entworfen und umgesetzt worden sind. Vielleicht macht genau dieser Ausdruck von Respekt Orte und Gebäude voneinander unterscheidbar. Insofern ist die Frage danach, welche Bedeutung das Stadtbild für die Bürger hat, vielleicht sogar wichtiger als je zuvor.

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