Vergangenheit und Zukunft des Alexanderplatzes

Bauvorleistung

Die Diplomarbeit des UdK-Absolventen und BDA-SARP-Award-Preisträgers 2014 Peter Behrbohm trägt den Titel „Bauvorleistung Alexanderplatz“. Darin setzt er sich mit dem östlichen Zentrum Berlins und seiner komplexen unterirdischen Räumlichkeit auseinander. Der Untergrund des Alexanderplatzes wird in der Untersuchung zum Spiegel der Ideengeschichte dieses Ortes. Mit Peter Behrbohm sprachen Cordula Vielhauer und Luise Flade.

Ihr Entwurf trägt den Titel „Bauvorleistung Alexanderplatz“. Was ist damit gemeint, und wie kamen Sie zu dieser Idee?
Ich hatte von dem Wettbewerb für ein Hochhaus am Alexanderplatz gehört, den inzwischen Frank Gehry gewonnen hat. Der Platz hat mich schon immer interessiert, weil er gleichzeitig ungeheuer dicht und extrem offen ist. Er regt an, ihn weiterzudenken. Abriss und Neubau werden wie Rituale alle 30 Jahre wiederholt. Entweder wird an ihm gebaut oder es steht eine neue Idee im Raum, die das gerade gebaute in Frage stellt. Ich war auf der Suche nach diesem flüchtigen Wesen.

Der  Begriff „Bauvorleistung“ beschreibt im Ingenieurbau ein Bauteil, das lange vor seiner eigentlichen Nutzung errichtet wird – ein vorsätzliches Artefakt für eine unbestimmte Zukunft. Genau darum geht es in meiner Untersuchung. Auch das Projekt, das ich am Ende entworfen habe, verstehe ich als solch eine „Bauvorleistung“.

Was genau haben Sie bei den Untersuchungen entdeckt?
Zunächst habe ich mir alle Pläne besorgt: von den Gebäuden, den Planungen und den unterirdischen Bauwerken. Im Untergrund befindet sich ein riesiger Komplex aus Räumen mit unterschiedlichen Funktionen und Geschichten. Nach und nach habe ich fast alle Räume begangen und herausgefunden, dass jedes oberirdische Gebäude eine unterirdische Entsprechung besitzt – als eigenen Raum, der oft mit anderen verbunden ist: Es gibt einen Raum unter dem Brunnen der Völkerfreundschaft, unter der Weltzeituhr, es gibt Tunnel, die das Kaufhof-Gebäude mit Waren beliefern. Dazwischen liegen U-Bahn-Tunnel, die nie fertig gebaut wurden und Fundamente für nie errichtete Hochhäuser. Es gibt Regenwasserschächte, wie unterirdische Flüsse, so groß, dass man mit dem Auto hindurch fahren könnte; sie wurden einfach irgendwann „abgesägt“ und haben heute keine Funktion mehr.

In den letzten hundert Jahren gab es hier drei große Architekturwettbewerbe, bei denen es jeweils darum ging, eine vollkommen neue Stadt zu planen, ohne auf die vorhandene Rücksicht zu nehmen. 1928 war dies der Wettbewerb für einen „Weltstadtplatz“: der Alexanderplatz als Weltnabel, über den die Züge rollen, um den der Verkehr rotiert und unter dem die U-Bahn fährt. Bereits für diese Vision wurde vieles abgerissen. Doch bei jeder Neuplanung blieben Bauten und Räume wie Reste zurück – vor allem im Untergrund.

Begreifen Sie den Boden des Alexanderplatzes als räumliches Palimpsest?
Ja, und als ein gesellschaftlich-politisches. Denn beim zweiten Wettbewerb im Jahr 1964 ging es vor allem darum, der sozialistischen Hauptstadt ein „architektonisches Gesicht“ zu geben, dafür wurde mehr an alter Bausubstanz abgerissen, als im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Und nach der Wende kam 1993 ein weiterer Wettbewerb, in dem unter anderem die breiten Straßen aus der sozialistischen Moderne wieder zurück gebaut werden sollten; hier gewann Hans Kollhoff, der Masterplan mit seinen zehn Hochhausblöcken hat bis heute Bestand, allerdings wird er seit über zwanzig Jahren nicht umgesetzt.

Und das Gehry-Hochhaus?
Das wäre das erste der zehn. Allerdings soll es genau auf einem der größten Artefakte entstehen, die es hier unterirdisch gibt. Es handelt sich um den Fundamentblock eines von Peter Behrens geplanten Hochhauses aus den zwanziger Jahren. Behrens hatte seinerzeit nicht zwei, sondern drei Gebäude entworfen. Die beiden Gebäude, die wir heute kennen, sollten eigentlich einem Hauptgebäude gegenüberstehen. Dieser Hochhausblock hätte ein Kaufhaus, Kinos, Hotel, Wohnungen und Büros beinhaltet. Mit dem Bau wurde auch begonnen und in das Fundament wurden bereits drei U-Bahn-Schächte eingegossen. Dann kam aber die Weltwirtschaftskrise, und der amerikanische Investor stoppte das Projekt. Die Nazis richteten dann später einen dreistöckigen Bunker ein und unter den Sozialisten kam in den sechziger Jahren ein Netz aus Unterführungen hinzu, die man noch vor ein paar Jahren durchlaufen konnte. Das ist die gebaute Geschichte, die noch immer unter dem geplanten Neubau liegt.

Sie planen hier eine räumliche Erschließung?
Genau. Einmal war ich mit 20 Polizisten im Bunker. Sie suchten nach Möglichkeiten, wie man sich illegal Zugang zu den leeren Räumen verschaffen könnte. Illegal schien dabei vor allem der Ort selbst zu sein. Den Polizisten war er unheimlich und vom Senat erfuhr ich, dass man die vergrabenen Räume am liebsten alle abreißen würde, wäre das nicht so teuer.

Dabei könnte man sie nutzen und weiterbauen. Was ich vorschlage, ist eine Verbindung der leer stehenden Räume und ihre Erweiterung in die Oberwelt. An unterschiedlichen Orten würde das System ans Tagesslicht stoßen. Ganz verquer würden diese kleinen Türme im Stadtraum stehen, bewusst weder in die geplante, noch in die derzeitige Stadt passend, dafür umso besser in die letzte oder vorletzte Version des Alexanderplatzes. Für mich macht das keinen Unterschied. Denn anders als über der Erde existieren diese Zeiten im Untergrund ja immer noch parallel. 


Was heißt future reconstruction?
„A Future Reconstruction Facility“, so der Untertitel der Arbeit, beschreibt, was ich mir in dem unterirdischen Raumgeflecht vorstelle. Ich denke an eine Institution, die das einlagert, was noch nicht zur Realisierung kam oder nie kommen wird. Ob totalitäre Visionen oder rosige Zukünfte. Unter dem Alexanderplatz sollte an der Stadt in der Möglichkeitsform geforscht werden. Hier würden zum einen die einst futuristischen Pläne, Schriften und Modelle gelagert, zum anderen wäre es jedoch auch der Ort, an dem die Stadt auf Grundlage des bereits gedachten weitergedacht und diskutiert werden könnte. Ein solcher Ort fehlt in der Stadt.

Der Alexanderplatz scheint dabei seit jeher Projektionsfläche für Zukunft und die Idee der Großstadt schlechthin zu sein. Angesichts der vielen Wettbewerbe kann man sagen: Es gibt den Alexanderplatz von Mies van der Rohe, den der Luckhardt-Brüder, von Kohlhoff, von Libeskind, von Behrens und Henselmann… – alle haben sich einen anderen ausgedacht. Auch der Roman von Alfred Döblin „Berlin Alexanderplatz“ gehört dazu. Der Platz – wenn es nach mir geht – ist vor allem eine Überlagerung all dieser gleichnamigen Fiktionen und Gedankenmodelle.

Was ist mit Ihren eigenen Modellen?
Die sind gleichzeitig maßstäbliche Abstraktionen von Ort und Entwurf und Ausschnitte der potentiellen Sammlung. Aus meiner Arbeit am Alexanderplatz hat sich eine Freundschaft zu einem BVG-Mitarbeiter entwickelt, der mir angeboten hat, die Diplomarbeit unter dem Alexanderplatz einzulagern. Damit wäre ein erster Schritt getan, um die nicht verwirklichten Zukünfte des Ortes in seinem Bauch aufzubewahren. Sie gehören zu dem Ort, genauso wie seine Vergangenheit. Von beidem gibt es hier reichlich. Deswegen sollte man überlegen, ob man wirklich wieder einen neuen Alexanderplatz errichten will, oder ob man ihn auf Grundlage des bestehenden, des gewesenen und des potentiellen weiterbauen sollte. Auch das Modell von Kollhoff würde sich gut machen in der Sammlung unter dem Platz. Wenn mein Projekt dazu beitragen könnte, die Diskussion über die Zukunft des Alexanderplatzes um bisherige Zukünfte und den Untergrund aufzuweiten, würde ich mich sehr freuen.

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