LeseBuch Peter Guth

Vor dem Fall

Ein stürzender Ikarus ist auf der ersten Buchseite abgebildet – ein Holzschnitt von Wolfgang Mattheuer. Flügellos trudelt er auf eine weite, leere Landschaft hinab. In der DDR wurde dieses Motiv selten gelesen, ohne die Doppeldeutigkeit dahinter zu verstehen: ein Sinnbild für Hochmut, der vor dem Fall kommt. Und für die Vergeblichkeit (künstlerischer) Flugversuche: Übermut tut selten gut. Auch der erschöpfte Sisyphus oder Prometheus, der aus dem brennenden Welttheater rennt, waren solche Chiffren und bezogen sich meist auf die Situation der Künstler wie der Gesellschaft gleichermaßen. Ein Gestürzter war Peter Guth nicht. Aber ein Dauerkämpfer, der hin und wieder stolperte. Dem von Leipzig aus wirkenden, 2004 verstorbenen Publizisten ist nun ein Buch gewidmet: Das „Peter Guth LeseBuch“ versammelt seine Essays, Interviews, Berichte und Rezensionen. Bernd Sikora hat das Buch herausgebracht und mit Texten von Weggefährten, Freunden und Mentoren sowie Tagebucheinträgen ergänzt. Sicherlich aus Kostengründen wurde an der Papierqualität gespart und auch die Coverabbildung müsste in einer besseren Auflösung daherkommen. Was jedoch nicht von der Lektüre abschrecken soll.

Peter Guth schrieb Kritiken im besten Sinne: korrigierend, lobend, einordnend, wertend, philosophisch und historisch fundiert. Nicht anbiedernd, auch bei seinen Künstlerfreunden nicht. Zuweilen stört der etwas belehrende Ton ein wenig – offenbar auch die Zeitgenossen: In einem Tagebucheintrag vermerkt Peter Guth, dass die Redaktion sein „schulmeisterlicher Ton“ störe. Eine Haltung bezog er von Anfang an, und mit den Jahren schärft er sie, schrieb eleganter, aber niemals verschwurbelt.

Seine Biographie war unstet: Der Slawistik-Student wurde geschasst, studierte später Kulturwissenschaften und wirkte als Dozent an vielen (Kunst-)Hochschulen. Nebenbei arbeitete er seit den späten achtziger Jahren als Kunstkritiker beim Leipziger Tagblatt. Er widmete sich dem zeitgenössischen Kunstschaffen, das ihm direkt vor Augen war – der Malerei Hartwig Ebersbachs, den Zeichnungen Gerhard Altenbourgs, den ausufernden „Mediencollagen“ von Lutz Dammbeck und den Fotografien Norbert Vogels. Frühzeitig hob er die Bedeutung Evelyn Richters für die zeitgenössische Fotografie hervor und besprach die ersten Ausstellungen Neo Rauchs. Er hat die Underground-Szene begleitet, die im Verborgenen wirkte – Ausstellungen von Eigen & Art, die Herbstsalons, Aktionen und Performances der rebellierenden Künstler in den Achtzigern. Es waren Ereignisse, die in den Staatsmedien nicht besprochen, sondern im Gegenteil, oftmals nach ein paar Tagen verboten wurden. Im neuen Klima konnte er sich offener und freier für stadtpolitische und baukulturelle Themen engagieren. 1992 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Sächsischen Landesverbandes des Deutschen Werkbundes. Kritisch begleitete er auch Neubauprojekte in Leipzig. 2001 schrieb er über die Leipziger Marktgalerie, was noch heute Gültigkeit hat, spricht man über Investorenarchitektur: „Sinnvoll wäre es, ohne Zeitdruck gemeinsam mit einem Architekten eine konsequente und moderne Formensprache zu entwickeln“ und den „Architekten nicht zum Fassaden-Dekorateur zu degradieren, der eine unternehmensseitig voroptimierte Verkaufsfläche lediglich zu ummanteln hat. Für einen Investor muss es sich rechnen, aber das, sollte man denken, schließt gestalterische Qualität nicht aus.“

Peter Guth mit Bazon Brock (links) und Hartwig Ebersbach, Foto: Privatarchiv Peter Guth

In den Neunzigern arbeitete Peter Guth unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wo sich Eduard Beaucamp bereits seit den späten Siebzigern für die sogenannte „Leipziger Schule“ schreibend eingesetzt hatte. „In der Nachkriegszeit waren der westdeutschen Kunstkritik die Szene von Los Angeles oder die von Tokio näher als die Ereignisse in Leipzig oder Dresden“, schreibt Beaucamp. Peter Guth brachte dem Westpublikum die Kunst des Ostens näher und leistete Verständigungsarbeit. Seine Habilitationsschrift „Wände der Verheißung“, 1996 vorgelegt, ist eine grundlegende – und bis heute einzige umfassende – Monographie zur Geschichte der baubezogenen Kunst in der DDR. Ein materialreiches Standardwerk, das beleuchtet, was Kunst im öffentlichen Raum sein kann, sein sollte, sein durfte – wo sie bei aller politischen Beschränkung Orientierung bot, eine individuelle Haltung ausdrückte, Räume inszenierte. An manchen Stellen ist das so spannend zu lesen wie ein Krimi: aufgrund der geschilderten Umstände, wie so manches Kunstwerk zu seiner Realisierung gelang – oder auch nicht. Guth selbst bezeichnete architekturbezogene DDR-Kunst als „merkwürdige Melange aus Apologetik und Trotzdem, aus Hoffnung und Enttäuschung, aus gebücktem und aufrechten Gang“. Dabei achtete er, so Thomas Topfstedt, „bei aller Kritik“ auf eine „stets faire Haltung gegenüber den Werken selbst“.

Und diese Haltung wirkt heute noch vorbildhaft: Hier hat jemand ein Anliegen. Er versteckt sich nicht hinter geschliffenem Tonfall, meist nicht einmal hinter der dritten Person, sondern sagt ehrlich, was ihn bewegt. Wer so schreibt, macht sich angreifbar und kann fallen. Aber wer sich nicht hinaufwagt, lernt auch kein geistiges Fliegen.

Juliane Richter

LeseBuch Peter Guth, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2013, 392 Seiten,zahlr. Abb., 25,- EUro, ISBN 3869844515

Fotos, Coverabbildung: Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Miriquidi Media Leipzig

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