Nicola Delon von ENCORE HEUREUX im Gespräch mit Elina Potratz

Das Ende des weißen Blatts

Nicola Delon ist neben Julien Choppin einer der Gründer des seit 2001 bestehenden Pariser Büros ENCORE HEUREUX. Neben ihren architektonischen Projekten, in denen die Nutzung des baulichen Bestands und die Wiederverwendung von Materialien eine zentrale Rolle spielen, kuratierten und gestalteten sie diverse Ausstellungen zu dieser Thematik. Darunter die Schau „Matière grise“ im Pavillon de l‘Arsenal in Paris, das szenografische Konzept für die Pariser UN-Klimakonferenz 2015 sowie im Jahr 2018 den französischen Pavillon „Lieux infinis“ der 16. Internationalen Architekturbiennale in Venedig. Mit Nicola Delon sprach Elina Potratz. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.

Dass Wieder- und Weiterverwendung von Materialien in der Architektur wie auch in anderen Bereichen ökologisch absolut sinnvoll und zukunftsweisend ist, darüber sollte eigentlich kein Zweifel mehr bestehen. Dennoch sind wir noch weit entfernt davon, dass dies die Regel ist. In Deutschland steht dieser Entwicklung ein enormer Genehmigungsaufwand entgegen. Wie ist die Situation in Frankreich? Ist es mittlerweile einfacher, hier mit recycelten Materialien zu bauen?
In Frankreich ist es nicht einfacher, es ist nirgendwo einfach. Aber wir merken, dass es einen großen Sinneswandel gibt – in der Politik, bei den Bauherren, bei den Baufirmen. Es gibt mehr Bereitschaft, die Art und Weise zu ändern, wie wir Gebäude produzieren. Als wir vor nur sechs Jahren die Ausstellung „Matière grise“ gezeigt haben, war das noch ganz anders. Inzwischen haben wir eine Menge öffentlicher Aufträge, um die Wiederverwendung in den öffentlichen Bau zu integrieren, Studien durchzuführen und Abfall zur Herstellung neuer Materialien zu verwenden. Es gibt einen großen Umwälzungsprozess in der Art und Weise, wie wir die Gebäude bauen, bezogen auf die Regulierungen, die wirtschaftliche Situation, die Fähigkeiten zur Umsetzung und in Bezug auf all die Arbeitsplätze, die wir erfinden müssen, um Gebäude demontieren und wieder aufbauen zu können. Die Wertschöpfungskette in der Architektur wird sich verändern, und natürlich wird es dagegen auch Widerstand geben, da wir einige Menschen verlieren und andere gewinnen werden. Es ist also sehr wichtig, als Architekt klug mit dieser Entwicklung umzugehen.

Welche Rolle spielen Sie mit Ihrem Büro ENCORE HEUREUX bei diesem Wandel?
Wir versuchen, experimentelle Projekte umzusetzen, um den Wiederverwendungsansatz voranzutreiben. Wir versuchen, Dinge möglich zu machen und damit Vorbild für andere Architekten und Menschen zu sein. Dabei ist es sehr wichtig, auch die kleinen Schritte zu gehen, um danach weitere Schritte machen können. Es sollte nicht der Ansatz sein: „Wir erreichen keine 80 Prozent Wiederverwendung in unserem Gebäude, also tun wir gar nichts“. In der Praxis ist Reuse zwar immer noch selten, aber das Bedürfnis danach ist sehr präsent, denn viele Architekten, Städte und private Investoren bitten uns, uns für diese neue Art des Bauens zu engagieren. Aber in der globalen Welt sind wir spät dran, die Architektur ist immer spät dran im Wandel der Gesellschaft. Als Eisen und Glas aufkamen, waren die Regulierungen noch völlig hinterher – und mit Beton war es dasselbe.

ENCORE HEUREUX, Grande Halle, Caen, Frankreich, seit 2019, Foto: Cyrus Cornut

ENCORE HEUREUX, Grande Halle, Caen, Frankreich, seit 2019, Foto: Cyrus Cornut

Wie hoch ist der Anteil an Reuse in Ihren gebauten Projekten?
In allen unseren Projekten versuchen wir, den maximalen Anteil an wiederverwendeten Materialien zu erreichen. Bei einigen Projekten wie dem Pavillon Circulaire, der ein sehr experimentelles Projekt war, liegt der Anteil bei 90 Prozent. Beim Maison du Projet Morland mit einer Glasvorhangfassade mit wiederverwendeten Fenstern wurden fast 90 Prozent der Fassade und 100 Prozent des Heizsystems wiederverwendet. Im letzten öffentlichen Gebäude, das wir fertiggestellt haben – die Grande Halle, ein Industriegebäude in Nordfrankreich, das als Kulturzentrum genutzt wird –, sind die Toiletten komplett mit wiederverwendeten Toilettenelementen gebaut worden. Darunter das Heizsystem, die Isolierung, die Bodenfliesen und vieles mehr. Und wir haben es sogar geschafft, eine wiederverwendbare Brandschutztür durch alle Vorschriften zu bekommen.

Im Jahr 2015 haben Sie die Ausstellung „Matière grise“ gestaltet. Was ist mit diesem Stichwort gemeint? Im Deutschen gibt es den Begriff „Graue Energie“, der sich auf die Energiemenge bezieht, die für Produktion, Transport, Lagerung, den Verkauf und die Entsorgung eines Gebäudes benötigt wird. Ist dies dasselbe wie die „Matière grise“?
Im Französischen gibt es zwei Bedeutungen. Zum einen hat es die gleiche Bedeutung wie im Deutschen – all die Energie, die man nicht sehen kann, ist als graue Energie im „grauen Material“ gespeichert. Im Französischen ist die „Matière grise“ aber auch das, woraus das Gehirn besteht. Wir müssen anders denken, denn in beiden Fällen haben wir eine Menge Material, das wir nicht nutzen. Die Metapher bedeutet also: Lasst uns mehr „Matière grise“ verwenden, also mehr Hirnmasse, um weniger reales Material zu verwenden.

ENCORE HEUREUX, Maison du projet Morland, Paris 2018, Foto: Cyrus Cornut

ENCORE HEUREUX, Maison du projet Morland, Paris 2018, Foto: Cyrus Cornut

Sie schreiben auf Ihrer Website, dass die aus der Ausstellung „Matière grise“ gewonnenen Erkenntnisse zu einem neuen Ansatz in der Architektur und im Bauwesen führen sollen. Wie könnte dieser Ansatz Ihrer Meinung nach aussehen?
Es ist ein völlig neues Paradigma. Wir nennen es „das Ende des weißen Blatts“. Denn für Architekten ist es normal, dass sie beim Entwurf ihres Gebäudes zuerst ein weißes Blatt Papier haben. Der Architekt sagt: „Das will ich machen“. Wenn man sich dagegen mit dem Wiederverwendungsansatz befasst, ist es ganz anders, denn der Input kommt von dem, was bereits vorhanden ist. Ein Beispiel dafür ist der Pavillon Circulaire: Bevor wir die Türen gefunden haben, die wir für die Fassade verwendet haben, gab es keinen Entwurf. Das heißt nicht, dass es kein Design und keine Konzeption mehr geben soll. Es heißt eher, dass neue Voraussetzungen berücksichtigt werden müssen. Und unter Berücksichtigung dieser neuen Informationen arbeitet man als Entwerfer.

Damit sind Sie zu einem wichtigen Aspekt gelangt: Wie verändert sich die Rolle des Architekten bei dieser Arbeitsweise?
Die Rolle ist weiter gefasst, da sie früher im Prozess ansetzt. Die Architekten identifizieren und recherchieren die Materialien und versuchen, das Potenzial der Ressource mit dem Prozess zu verbinden. Dabei müssen auch diejenigen gefunden werden, die das Know-How haben, Bauteile zu demontieren und zu transformieren. Man geht also mehr in den gesamten Bauprozess hinein. Man muss dabei auch mehr vor Ort und in der Lage sein, das Potenzial zu erkennen. In einem klassischen Prozess hingegen sitzt man einfach am Computer und sagt: „So will ich es haben“, und sieht sich dann die Ergebnisse an.

Wie könnte sich die Entwurfssprache ändern, wenn Materialien in größerem Maßstab wiederverwendet würden und Architekten auf größere und vielfältigere Materialkontingente zugreifen könnten?
Es würde den Prozess verändern, es würde die Fähigkeiten der am Bau Beteiligten verändern, die wir momentan noch entwickeln müssen. Außerdem könnte man BIM als allgemeinen Ansatz nutzen. Denn damit hätte man ein virtuelles Modell der bereits existierenden Gebäude und eine Liste all ihrer Elemente, falls man die Gebäude wieder abbaut. Der Reuse-Ansatz ist für uns also nicht etwas aus der Vergangenheit, sondern etwas, das in der Zukunft liegt.

ENCORE HEUREUX, Maison du projet Morland, Paris 2018, Foto: Cyrus Cornut

ENCORE HEUREUX, Maison du projet Morland, Paris 2018, Foto: Cyrus Cornut

Glauben Sie, dass die Wiederverwendung noch Raum für eine architektonische Handschrift lässt? Wenn ja – wie würden Sie Ihre persönliche Handschrift beschreiben?
Für mich ist das ein sehr wichtiger Punkt, weil es etwas mit Priorisierung zu tun hat. Was ist wichtiger: Ist es die eigene Signatur des Schöpfers oder ist es die Richtigkeit des Ansatzes? Für mich ist bereits die Durchführung eines bestimmten Prozesses eine Art Signatur. Denn wenn man wiederverwendet, muss man präziser sein, kreativer, und präziser bei der Auswahl – wählt man ein anderes Material aus, wird auch das Ergebnis komplett anders ausfallen. Es ist wie ein Rezept für einen Koch: Man kann mit verschiedenen Zutaten arbeiten, aber entscheidend ist, was beim Prozess entsteht. Es hängt nicht von dem Material ab, das man hat. Für uns ist Architektur wie Kochen, denn wir haben verschiedene Materialien und müssen uns entscheiden: Sind sie von hier, sind sie von sehr weit her, sind sie industriell, sind sie historisch? Denn wenn man ein Material wiederverwendet, verwendet man nicht nur die Materialität wieder, sondern auch die Bedeutung und die Verbindung zur Vergangenheit. Für den Pavillon Circulaire haben wir Türen verbaut, die vorher Eingangstüren zu Wohnungen waren. Sechzig Jahre lang waren sie Eingänge für Menschen. Die Türen enthalten also die Geschichten all der Menschen, die dort angeklopft haben, und all der Menschen, die dahinter gelebt haben.

Was den Pavillon Circulaire betrifft – wie sind Sie in diesem speziellen Fall mit der Geschichte des Materials umgegangen?
Die Geschichte war eine der Wahrnehmungsebenen der Menschen, die das Gebäude erlebt haben. Alle Türen sind gleich, unterscheiden sich aber voneinander, da man sieht, dass die Zeit die Türen verändert hat. Das ist sehr subtil. Einige Leute bemerken das gar nicht, aber andere waren davon sehr berührt. Das ist sehr auffällig beim Reuse: Manchmal sieht man es gar nicht, manchmal aber taucht man geradezu in die Geschichten ein, die zu einem Material gehören.

ENCORE HEUREUX, Pavillon Circulaire, temporärer Bau vor dem Pariser Rathaus, Paris 2015, Foto: Cyrus Cornut

ENCORE HEUREUX, Pavillon Circulaire, temporärer Bau vor dem Pariser Rathaus, Paris 2015, Foto: Cyrus Cornut

Glauben Sie, dass Sie als Architekt diese Geschichte erzählen müssen? Müssen Sie Teil dieser Erzählung sein?
Auf jeden Fall. Es gehört zu unserer Aufgabe, Geschichten zu erzählen. Denn wir müssen diejenigen überzeugen, die etwas zu dem Gebäude fragen und diejenigen überzeugen, die das Gebäude bauen. Wer Architektur macht, muss permanent Menschen davon überzeugen, einem zu vertrauen. Dieses Vertrauen braucht man beim Reuse-Ansatz aufgrund all der Vorschriften und Gesetze, die interpretiert werden müssen. Das ist nicht einfach. Was motiviert, sind jedoch all die Geschichten, die man einem Projekt hinzufügen kann.

Wie wichtig ist es für Sie, dass erkennbar ist, wenn ein Gebäude aus wiederverwendeten Materialien besteht? Sollte ein Bauwerk seinen materiellen Ursprung offen zeigen, um den Weg für eine neue Architektursprache zu ebnen? Oder wäre es für Sie auch denkbar, den Aspekt der Wiederverwendung unsichtbar zu machen?
Für uns ist der Entwurf stärker, wenn man nicht sieht, dass Materialien wiederverwendet wurden, denn wir wollen nicht didaktisch sein. Wir wollen Gebäude bauen, die schön sind, die nützlich sind, die den richtigen Maßstab an der richtigen Stelle haben. Je unsichtbarer die Wiederverwendung ist, desto stärker ist ein Bauwerk für uns, denn man hat Geschichten, die man dem Ergebnis hinzufügen kann.

Aber ist es nicht ein Widerspruch, dass man die Geschichten einerseits erzählen, andererseits aber auch verbergen will?
Es ist ein Widerspruch, den wir immer unterschiedlich lösen. Bei Projekten wie dem Pavillon Circulaire nutzen wir ein kleines, ikonisches Gebäude, um die Geschichte hinter der Wiederverwertung sehr ausdrucksvoll zu erzählen. Bei dieser Art von Projekten sind wir also ganz sicher, dass die Wiederverwendung sichtbar ist. Gleichzeitig verwenden wir die Teile sehr präzise, ein flüchtig Vorbeigehender würde also wiederum nicht sehen, dass es wiederverwendete Teile sind. Auf der anderen Seite haben wir Projekte wie das Maison du Projet Morland mit einer Vorhangfassade, der man überhaupt nicht ansieht, dass sie wiederverwendet wurde. Wir versuchen also, mit diesem Widerspruch umzugehen – auf der einen Seite gibt es die Provenienz der Elemente, auf der anderen Seite wollen wir aber keine Architektur produzieren, die ein Klischee von Wiederverwendung ist. Wir meinen, dass es nicht ausreicht, wenn man alte Holzpaneele zusammenzimmert und sagt: „Wir bauen mit Müll“. Das ist zu einfach. Die Welt ist komplex, daher müssen wir komplexe Antworten finden.

Türen für den Pavillon Circulaire, Foto: ENCORE HEUREUX

Türen für den Pavillon Circulaire, Foto: ENCORE HEUREUX

Können Sie sich vorstellen, wie sich ganze Städte durch die Erhöhung des Anteils wiederverwendeter Materialien verändern werden?
Damit verbunden ist die Idee des Urban Mining. Das heißt, dass die Stadt nicht nur ein Ort ist, der Material verbraucht, sondern auch ein Ort, der Material produziert. Wir können davon ausgehen, dass die vielen Gebäude in Städten die Minen der Zukunft sind. Dabei haben wir den interessanten Umstand, dass oft eine ganze Reihe von Gebäuden gleichzeitig gebaut wurde: Man hat also eine große Menge an Ressourcen, die ähnlich sind. Und wenn wir diese Art von Ressourcen identifizieren, können wir den Prozess industrieller gestalten. Für uns ist Urban Mining ein sehr großes Thema für die Städte von morgen, und wir müssen uns für diesen Wandel einsetzen. Wir müssen uns enorm engagieren, denn es ist eine große Herausforderung: Man braucht mehr Zeit, es ist komplexer, man wird schlechter bezahlt. Das liegt in Frankreich daran, dass nach dem Prozentsatz der Menge des neuen Materials bezahlt wird, das man verwendet. Das ist eigentlich völlig unglaublich. Die Art und Weise wie Architekten bezahlt werden, muss sich daher dringend ändern.

Sehen Sie die Gefahr, dass Architekt­innen und Architekten das Material nur als Substanz betrachten und die Ikonografie sowie die damit verbundenen Erinnerungen ignorieren?
Nein, wir sind sehr offen für jegliche Art von Praxis, denn das, was wirklich drängt, ist der Klimawandel und die Umsetzung eines ökologischen Ansatzes. Man sollte daher nicht zu radikal sein, was die Art der Umsetzung betrifft. Für uns besteht das Ziel darin, effizienter zu sein, indem wir aufhören, Material für unsere Bauten zu extrahieren und wie wir aufhören, Müll zu produzieren. Das ist es, woran wir arbeiten, wenn wir Materialien wiederverwenden.

Elina Sarah Potratz studierte Kunst- und Bildgeschichte in Leipzig und Berlin mit besonderem Schwerpunkt auf Architektur des 20. Jahrhunderts und Denkmalpflege. Von 2016 bis 2018 absolvierte sie ein Volontariat in der Redaktion von der architekt, für die sie seit 2018 als Redakteurin tätig ist.

Titelbild: ENCORE HEUREUX, Pavillon Circulaire, temporärer Bau vor dem Pariser Rathaus, Paris 2015, Foto: Cyrus Cornut

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