Upcycling Notre-Dame

Spoliation und Assemblage

von Daniel Stockhammer

Angesichts einer stetig wachsenden Umwelt- und Klimaproblematik wird der nachhaltige Umgang mit den Ressourcen dieser Welt zwar diskutiert, im Zentrum steht jedoch deren materieller Erhalt und viel weniger die Wiederverwendung nicht reproduzierbarer, kultureller Ressourcen. In der Architektur aber kann Recycling nicht auf Atome reduziert werden, denn in Baurestmassen sind gleichsam stoffliche wie immaterielle Werte eingeschrieben.(1) Wiederverwendung im Entwurf bedarf der Arbeit und Konstruktion mit Vergangenem und dessen Bedeutung für heute. Je mehr wir dabei das Vorhandene begreifen, so Hermann Czech, „(…) desto weniger müssen wir uns in Gegensatz dazu bringen, desto leichter können wir unsere Entscheidungen als Fortsetzung eines Kontinuums verstehen“(2).

Spoliation und Assemblage als geschicktes Recycling von Semiotik und Geschichte(n) vermag, so unsere These, das Prinzip der Wieder- und Weiterverwendung von der Güterebene auf immaterielle Werte auszudehnen und das Verständnis einer Architektur der Einmaligkeit, Originalität und Abgeschlossenheit in Frage zu stellen. Ein Gedankenspiel am Beispiel der Notre-Dame von Paris als Anstoß, um Gebrauchtes nicht nur mit bewunderndem oder wegschauendem, sondern auch mit verwertendem Auge wieder zu betrachten.(3)

Altlast oder Ressource? Beispiel: Victor Delefortrie, Saint-Jacques, Abbeville, Frankreich 1868 – 1876, abgerissen 2013, Foto: Marc Roussel (via Flickr / CC BY-SA 3.0)

Altlast oder Ressource? Beispiel: Victor Delefortrie, Saint-Jacques, Abbeville, Frankreich 1868 – 1876, abgerissen 2013, Foto: Marc Roussel (via Flickr / CC BY-SA 3.0)

Kategorien des 20. Jahrhunderts
Wie wenig bislang Bestand als immaterielle Ressource betrachtet und noch immer in Kategorien des letzten Jahrhunderts argumentiert wird, lässt sich exemplarisch an der Wiederaufbaudebatte um die Pariser Kathedrale beschreiben: Auf der einen Seite die sogenannt fortschrittlichen Kräfte, getrieben vom wirkmächtigen Mythos der neuen Form, folgend den modernen Paradigmen des Ersatzbaus, der Autorschaft, Originalität und Distanzierung zum Alten. Dem gegenüber das Ideal der Rekonstruktion, eine Sehnsucht ringend mit den Fragen des „Wie“ oder „welches Original“ und „Woraus“; denn schließlich könne nun mal nur die Vergangenheit selbst, so Georg Simmel, „(…) mit ihren Schicksalen und Wandlungen (…) in den Punkt ästhetisch anschaulicher Gegenwart gesammelt“(4) sein.

Beide Positionen aber, sogenannte Wiederherstellung oder neue Zutat, haben mit dem Prinzip der Wieder- und Weiterverwendung – der Beschäftigung mit den Widersprüchen und Reibungen zwischen unterschiedlichen Zeiten, Denkweisen und Nutzungsmuster – ein zentrales Thema des Kathedralenbaus ausgeklammert. Denn sowohl dem Neubau als auch der Rekonstruktion, schreibt Georg Mörsch, „(…) geben wir immer nur das Wenige mit, was wir wissen, und oft nur das, was wir brauchen“(5).

Ein gemeinschaftlicher Prozess

Ansichtskarte „Paris, Abside Notre-Dame“, 1908, Abb.: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: unbek. / Fel_056201-RE / Public Domain Mark

Ansichtskarte „Paris, Abside Notre-Dame“, 1908, Abb.: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: unbek. / Fel_056201-RE / Public Domain Mark

Wiederverwendung ist vielschichtiger als Neues Bauen und „(…) per definitionem ein Thema zwischen den Fächern“(6), so Arnold Esch. Traditionsgemäß ist die zeitliche und örtliche Zuordnung von bewegten Bauteilen, also das fehlende Stück im alten Kontext, die Aufgabe der Archäologie und Bauforschung. Fragen nach dem Motiv, den Umständen der Translozierung, werden durch die Geschichtsforschung behandelt und der neue Kontext beschäftigt für gewöhnlich die Kunstgeschichte.(7) Die sorgfältige Klärung der Komplexität und gestalterischen Konsequenz schließlich gehört ins Aufgabenfeld der Architektur, in Zusammenarbeit mit den Ingenieurs- und Handwerkskünsten. Das Entwerfen mit Gebrauchtem bedarf also der Kooperation vieler Disziplinen; bedarf eines gemeinschaftlichen, offenen Prozesses, wo alle ihre Kompetenzen und Perspektiven zu gemeinsamer Erkenntnis und Emergenz zusammenführen müssen.

Architektur aber als Projekt (und geis­tiges Eigentum) vieler zu betrachten, bedeutet für Baugestaltende auch, vom Schöpfer, von der Schöpferin zum Mitwirker, zur Mitwirkerin zu werden, bedeutet tradierte Gewissheiten, Konzepte zu überdenken, Rollenmodelle neu auszuhandeln und zu fragen: Wie kann das Design der Prozesse selbst zu einer zentralen Aufgabe der wissenschaftlichen und gestalterischen Disziplinen werden und wie kann ein innerhalb der Architektur entwickeltes Verständnis des Weiterverwendens in andere Bereiche des Bauens (Städtebau, Ingenieurwesen, Denkmalpflege) hineinwirken?

Der Bestand als Ressourcenlager – Überliefern als Programm
Die Spoliation eines intakten Gebäudes mit Funktion und Nutzbarkeit zum Zwecke der Überlieferung wäre sicher töricht. Doch soll seine Ruinierung verboten werden, wenn das Bauwerk kurz vor dem Abbruch steht? Wäre es dann nicht sinnvoll, Material und Wissen anderer Epochen zu spoliieren und für heutige Bauaufgaben fruchtbar zu machen?

Zustand ohne Dachstuhl nach dem Brand vom 15. und 16. April 2019, Bildmontage auf Grundlage der Ansichtskarte: Daniel Stockhammer

Gesellschaftliche Veränderungen und fehlende Mittel für den Unterhalt lassen Frank­reichs Kirchenbaubestand besonders in den Fokus solcher Überlegungen rücken. Denn mit dem „Loi Combes“, dem Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905, wurden Kirche und Glaubensgemeinschaften in Frankreich zu privatrechtlichen Institutionen erklärt. Seither erhebt der Staat keine Kirchensteuern mehr, ist Eigentümer aller vor 1905 gebauten Sakralbauten (insbesondere der Kirchen) und zuständig für deren Unterhalt. Die langfristigen Auswirkungen lassen sich heute am Zustand vieler dieser über 40.000 Gotteshäuser ablesen. Hochwertige, teils zentral gelegene Bauwerke können nicht genügend instandgehalten werden, verlieren ihre Nutzbarkeit und werden schließlich abgebrochen.(8)

In Anbetracht des Wechselbildes zwischen (vernachlässigter) Erhaltungskultur im Allgemeinen oder dem (Über-)Schutz im Speziellen sollte die Frage gestellt werden, ob ein Wiederaufbau der Pariser Notre-Dame nicht weitergedacht und als Aufgabe am gesamten bedrohten Kirchenbestand im Land diskutiert werden muss: als Assemblage aus Frankreichs aufgegebenem Kirchenbaubestand.

Assemblage unter Verwendung der abgerissenen Kirchendachstühle aus (v.l.n.r.) Sable-sur-Sarthe (1881 – 2017), Crozon (1958 – 2019) und Belfort (1927 – 2015), Bildmontage: Daniel Stockhammer

Nachleben – Wege zu Mehrdeutigkeit und Mehrfachsinn
Alles ist der Gefahr und der Chance der Wieder- und Weiterverwendung ausgesetzt. Der Brand der Notre-Dame von 2019 sollte im Sinne des Historismus – dem Baustil vieler der abgebrochenen Kirchen – als Chance für Neues durch Altes ergriffen werden; nicht als einmaliges Ereignis in seiner Zeit­ebene, sondern diachron verstanden in seiner ganzen historisch-kulturellen Erstreckung. Man „überlebe“ zwar eine Katastrophe „(…) und steht dann herum; was danach kommt, ist damit nicht gesagt“. Aber ein Nachleben durch die kluge Neukomposition ist weit mehr, „(…) das Nachlebende wirkt weiter fort, ändert sich und anderes, lebt (…)“.(9) Die kreative und qualitative Weiternutzung von Gebrauchtem vermag Neues und Überraschendes in der Architektur zu entzünden und trägt dazu bei: materielle Ressourcen und baukulturelles Wissen zu erhalten, Kontinuität von Geschichte, Orten und Bauwerken zu sichern; Erinnerungskultur und Identität zu befördern wie soziale Kontinui­tät, Kooperation und Gemeinschaftssinn zu unterstützen; architektonische Relevanz durch Überlagerung, Vielschichtigkeit und Mehrfachsinn (statt durch Form) zu erzeugen und Langfris­tigkeit durch Einfachheit und Dauerhaftigkeit von Baukonstruktion, Baumaterial und Technik zu fordern und damit zu fördern.

„Neubau ohne Neues“, Bildmontage: Daniel Stockhammer

Wiederverwendung als Gestaltungsprinzip – vom Projekt zum Prozess
Das Prinzip der Wieder- und Weiterverwendung auf das Beispiel der Neugestaltung von Notre-Dame zu übertragen, hieße den Wiederaufbau nicht als abgeschlossenes Projekt, sondern als einen durch kontinuierliche Unbestimmtheit determinierten Prozess zu verstehen, der in unterschiedliche Arbeitsfelder zu kategorisieren wäre, wie: Das Inventar – der gefährdete Kirchenbaubestand Frank­reichs würde erfasst und als Bauteillager dokumentiert und gesichert. Der Setzkasten – die Materialbank würde zur Grundlage für einen interdisziplinären, breit abgestützten Diskurs über die Auswahl der Bauteile, der Bedeutungen und Geschichten. Die Assemblage – die gestalterische Konsequenz einer Neukomposition der Teile würde schließlich durch die Architektur, die Ingenieurs- und Handwerkskünste ausgehandelt. So dass sich dezente Unregelmäßigkeiten in der Materialisierung, der formalen Ausgestaltung des Daches und des Vierungsturmes, leichte Abweichungen in der Firsthöhe oder Überraschungsmomente durch übertragene Relikte wie Dachreiter und Gauben, die gesamte Summe der Spoliationen eben, in ein neues, optisch harmonisches Ganzes einfügen.

Es entstünde ein Neubau ohne Neues, ein „Neues“ Bauen, das sich vom Dogma des Neubaus löst. Materiell, kulturell aber auch programmatisch würde ein Wiederaufbau zum wachsenden Ressourcenarchiv: Als wortwörtliches „Schutzdach“ könnte die Dachkonstruktion über dem Mittelschiff zum begehbaren Schaulager werden für gerettete Reliquien und Relikte bereits zerstörter oder sich im Rückbau befindender Kirchengebäude in Frankreich. In Ergänzung dazu diente ein zentraler Ausstellungsraum über dem Querschiff der Besprechung von Einzelstücken und kuratierten Sammlungen.(10)

Die Überlieferung, so Walter Benjamin, gelte es immer wieder „(…) von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“(11). Eine (Rück-) Besinnung auf das Prinzip der Wieder- und Weiterverwendung ist kein Wertekonservatismus, sondern die Überwindung von Eindimensionalität, Kurzzeitigkeit und Autorenkult durch Emergenz, Langfristigkeit und transdisziplinären Dialog. „Wer neue Gedanken mitteilen will, kann sich nicht gleichzeitig einer neuen Sprache bedienen“(12), so Czech. Den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sollten wir deshalb nicht länger mit einer Architektur im Imperativ, sondern mit Baukultur als Verb begegnen.

Dr. Daniel Stockhammer ist Assistenzprofessor für Baubestand und Erneuerbare Architektur an der Universität Liechtenstein und unterrichtet mit Cornelia Faisst das Entwurfsstudio Upcycling. Nach der Lehre zum Hochbauzeichner diplomierte er an den Architekturschulen der Universität Wien, FH Winterthur und ETH Zürich. Im Anschluss an die Masterarbeit bei Jacques Herzog und Pierre de Meuron arbeitete er in deren Basler Büro, promovierte am Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich bei Uta Hassler und lehrte an der Architekturschule der FHS St. Gallen.

Anmerkungen
(1) Hierzu sind insb. die Arbeiten von Uta Hassler zu nennen. Siehe u. a. Hassler, Uta: Umbau, Sterblichkeit und langfristige Dynamik, in: Dies. / Kohler, Niklaus / Wang, Wilfried (Hrsg.): Umbau. Über die Zukunft des Baubestandes, Berlin 1999, S. 39-59, hier: S. 56.
(2) Czech, Hermann: Zur Abwechslung (1973), in: Ders.: Zur Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur, Wien 1996 (1977), S. 76-79, hier: S. 78. Zum Thema Umbau sei hier auch auf weitere brillante Essays von Czech aus den 1960er bis 1980er Jahren in ders. Publikation hingewiesen.
(3) Dieser Beitrag basiert auf Ergebnissen des durch die API-Stiftung Liechtenstein geförderten Forschungsprojekts „Erneuerbare Architektur“ und dem Upcycling-Studio „Hi story! Notre-Dame reloaded“ von Cornelia Faisst und Daniel Stockhammer im Wintersemester 2019 / 20 am Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein.
(4) Simmel, Georg: Die Ruine. Ein ästhetischer Versuch, in: Der Tag, Nr. 96, Berlin, 22. Februar 1907.
(5) Mörsch, Georg: Ist Rekonstruktion erlaubt? (1998), in: von Buttlar, Adrian / Dolff-Bonekämper, Gabi / Falser, Michael S. u. a. (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern. Eine Anthologie [Bauwelt Fundamente, Bd. 146], Basel 2010, S. 39-41, hier: S. 40.
(6) Esch, Arnold: Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäo­logen und die Sicht des Historikers. Berlin 2005, S. 12.
(7) Zu den unterschiedlichen Aufgaben wissenschaftlicher Disziplinen siehe: Ebd., S. 11-60.
(8) Hierzu siehe insb. das Inventar bedrohter und zerstörter Kirchen in Frankreich von Observatoire du Patrimoine Religieux und die Hinweise der Fondation du Patrimoine. Um nur wenige der aktuellsten Zerstörungen in Frankreich zu nennen: Notre-Dame-du-Rosaire, Les Lilas (Île-de-France), 1887 – 2011; Notre-Dame-des-Anges, Belfort, 1927 – 2015; Sainte-Thérèse de Beaulieu, Mandeure, 1936 – 2015; Notre-Dame-de-Gwel-Mor, Crozon, 1958 – 2019 u.v.a.
(9) Esch (wie Anm. 6), S. 21.
(10) Das Programm für diese mögliche Nutzung basiert auf Untersuchungen von Berta Beketova und Hanna Kuzniatsova, Studierende aus dems. Studio, siehe Anm. 3.
(11) Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsgg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt / M. 1978, Bd. 1-2, S. 695.
(12) Czech (wie Anm. 2), S. 127.

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