Bücher der Woche: Ischgl & Hinter den Bergen

Delirium Alpinum

Lifte stehen still, Hütten und Hotels sind geschlossen, die Einreisebestimmungen strikt: Die Skisaison 2020/21 fällt vorerst aus. Seit das Corona-Virus im März vom Hotspot Ischgl aus in die Welt getragen wurde, steht der Skitourismus unter strenger Beobachtung. Eine Fachkommission attestierte den Behörden jüngst schwere Versäumnisse im Krisenmanagement, während sich die befürchtete Einflussnahme der Tourismuswirtschaft nicht bestätigte.

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Indirekt hat der globalisierte Massentourismus natürlich dennoch eine Menge damit zu tun, dass sich das Virus von hier aus in 40 Länder verbreitet hat. So wurde Lois Hechenblaikners Fotoband „Ischgl“, als er im Mai erschien, vom Steidl Verlag kurzerhand als „Buch zur Corona-Pandemie“ tituliert. Dass diese Bezeichnung eigentlich zu kurz greift, weiß natürlich auch der Verlag, der seit Jahren die Bücher verlegt, in denen Hechenblaikner jenseits kurzfristiger Sensationslust dem Wandel seiner Heimat Tirol zum alpinen Ballermann nachspürt.

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

„Relax. If you can“ lautet Ischgls Slogan. Was das bedeutet, legt Hechenblaikner mit seinen Bildern schonungslos offen. Zu sehen gibt es viele, überwiegend männliche Partytouristen in Kostümen und T-Shirts mit „frechen Sprüchen“ auf Pisten und beim Après-Ski, die unter Alkoholeinfluss zunehmend die Kontrolle verlieren. Wie das 1600-Seelen-Dorf zu einer künstlichen Welt im Kunstschnee mutiert, hat aber unweigerlich auch räumliche Effekte.

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Zur angemessenen Verrichtung des Tourismus stehen Geldautomaten am Fuße der Pisten bereit und türmen sich die Bierfässer vor den Hütten, deren uriges Ambiente im Keller von hochmodernen Schlauch-Schank-Systemen gespeist wird. Das Bild, wie ein Luxuswagen am Rande des Lifts wie Schneewittchen im gläsernen Sarg zur Schau gestellt wird, hat in seiner Skurrilität selbst fast schon etwas Märchenhaftes. „Delirium Alpinum“ nennt Lois Hechenblaikner diesen Wahn, den bislang nicht der Widerstand der Einheimischen und auch nicht die Ansiedlung hochklassiger Hotels und Restaurants, sondern erst die Corona-Pandemie stoppen konnte.

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Lois Hechenblaikner: Ischgl, Steidl, Göttingen 2020

Um den tiefgreifenden Strukturwandel durch Party-Tourismus nachzuvollziehen, lohnt ein Blick in den aktuell leider vergriffenen Vorgängerband „Hinter den Bergen“, den Hechenblaikner vor zwei Jahren veröffentlicht hat. Darin stellt er auf Doppelseiten jeweils ein historisches Schwarz-Weiß-Foto einer Impression aus dem Jetzt gegenüber.

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018, Leihgeber: Autonome Provinz Bozen, Südtirol, Amt für audiovisuelle Medien

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018, Leihgeber: Autonome Provinz Bozen, Südtirol, Amt für audiovisuelle Medien

Es handelt sich nicht um ein Vorher-Nachher derselben Orte. Stattdessen hat Hechenblaikner mit einem beeindruckenden Bildgedächtnis für die historischen Dokumentaraufnahmen aus den 1930er bis 1960er Jahren auf seinen Streifzügen durch Tirol nach vergleichbaren Formen, Typen, Handlungen im Heute Ausschau gehalten und kompositorisch verblüffend ähnliche Bilder erstellt. So entsteht eine Evolutionsgeschichte, die einen gewissen Sarkasmus nicht verleugnet. Aus dem Viehmarkt wird ein Parkplatz, aus dem Hühnerstall ein Grillhähnchen-Imbiss, aus der Werkstatt ein Glühwein-Stand (siehe Galerie unten). Und wo früher an den Hängen Heu gewendet wurde, wird heute Müll gesammelt.

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018

Dabei wählt Hechenblaikner durchaus auch historische Motive, die die Entbehrung und harte Arbeit des vormodernen Landlebens zeigen. Er verklärt nicht die Vergangenheit – und er verurteilt auch nicht den Tourismus per se, der vielen Menschen in der Region zur Unabhängigkeit von der Landwirtschaft verholfen hat, bis sie wiederum abhängig vom Tourismus wurden, der in Tirol inzwischen ein Drittel der Einkünfte ausmacht. Die postmoderne Vergnügungsindustrie beschränkt sich nicht mehr aufs Wandern und Skifahren im Einklang mit der Natur, sondern beutet sie aus, um den einfallenden Horden ein immer neues Erlebnis bieten zu können. Anlässlich der aktuellen Beschränkungen kommt die Forderung auf, dem gegen den Klimawandel hochgerüsteten Skitourismus ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Lois Hechenblaikner liefert die fotografischen Argumente dafür.
Maximilian Liesner

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, Steidl, Göttingen 2018

Lois Hechenblaikner: Ischgl, gebunden, Hardcover, 27,4 x 24 cm, 240 Seiten, 205 farb. Abb., deutsch, 34,– Euro, Steidl, Göttingen 2020, ISBN 978-3-95829-790-6

Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen, gebunden, Hardcover in einer Hülle, 19,5 x 14,2 cm, 144 Seiten, deutsch, 28,– Euro, Steidl, Göttingen 2018, ISBN 978-3-86930-737-4, aktuell vergriffen

 

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