kritischer raum

Der Atmosphärenwandler

Besucherzentrum am Kasseler Herkules von Volker Staab Architekten, Berlin, 2006 – 2012

Die landschaftliche Kehrseite des Kasseler Herkules ist gewissermaßen der moderne Widerpart der Kulturlandschaft des 18. Und 19. Jahrhunderts, die ihn so berühmt gemacht hat. Wasserspiele, Schlösser und pittoreskes „Dörfchen“, auf die die riesige hessische Paraphrase des Farnesischen Herkules blickt, waren und sind bis heute zu Fuß zu erlaufen. Gut eineinhalb Stunden dauert der Weg, folgt man dem Wasser, das von hier oben über Kaskaden und Fälle und die Riesenfontäne ins Tal fließt. Dieses Erlebnis einer vom Menschen beeinflussten, gewissermaßen zur höchsten Wirkung gebrachten Natur entsprach dem ästhetischen Bedürfnis der damaligen Zeitgenossen. Die nüchterne Zufahrtstraße hingegen, die auf einen großen Parkplatz unterhalb des monumentalen Gesäßes der Großskulptur mündet, ist das Produkt heutigen Bedarfs, der das Vergnügen an solchen Sehenswürdigkeiten wesentlich mit ihrer guten touristischen Erschließung gleichsetzt – und damit der vollständigen Ausschließung des „natürlichen“ Zufalls, den man früher geschätzt hätte.

Diese Einstellung kann in der jetzigen Zeit des Übergangs jedoch auch bedeuten, dass aus der simplen Notwendigkeit eines Toilettenhäuschens an einem Busparkplatz der Bau eines ambitionierten Besucherzentrums entspringt – und damit aus der heutigen gesellschaftlichen Notdurft doch wieder ein ästhetisch wahrnehmbarer kultureller Beitrag wird. Zu dieser Kategorie gehört das Besucherzentrum am Herkules in Kassel-Wilhelmshöhe, das in einer kleinen Ausstellung über die Geschichte des Herkules, des Bergparks und der Wasserspiele informiert, einen Andenkenshop aufnimmt und als Treffpunkt für Besuchergruppen dienen kann. In diesem Falle kam der Sache entgegen, dass der Auftrag an Volker Staab ging, der mit seinem Entwurf den nicht nur topographischen Niveauunterschied zwischen Parkplatz und Herkules durch eine Art atmosphärischen „time tunnel“ überwinden hilft.

Vom Parkplatz aus entwickelt sich das Sichtbetonbauwerk auf einem bordsteinhohen Podest wie eine Bushaltestelle. Zwar verheißt die reliefierte Wand zur Rechten Architektur, doch unter der schräg zulaufenden Überdachung eines Gebäudeversprungs sprechen eine große Landkarte, eine aus deren Rahmen entwickelte Sitzbank und der banale Mülleimer daneben eine angemessene Sprache: Tatsächlich hat hier auch der Kasseler Linienverkehr einen Haltepunkt. Die hangwärts gerichtete Wand eröffnet über eine doppelflügelige Tür und einen Windfang einen Treppenaufgang und die auf asymmetrischem Grundriss angelegte Vortragsarena. Der Raumeindruck wird auf Augenhöhe durch das Zusammenspiel der Treppe mit dem stufenartigen Aufbau der Zuhörerreihen geprägt, die so zur Linken angeordnet sind, dass eine Projektion auf der talwärtigen Wand betrachtet werden kann. Ein Themenfenster gewährt den Ausblick auf den baumbestandenen Hang und erlaubt damit Orientierung im halbdüsteren Raum, dessen Wirkung durch gedämpftes Deckenlicht und natürliche Beleuchtung inszeniert wird. Die Treppe nämlich lenkt den Blick in die Vertikale und damit auf die schräg ansteigende Decke dieses Bauteils.

Am Ende des perspektivisch zulaufenden Blicktunnels liegt auf der oberen Ebene eine große, rahmenlos verglaste Öffnung, die das Ziel des Aufstiegs und den Sinn des Gebäudes offenbart: Sichtbar wird hinter dem Halbdunkel des Treppenaufgangs im Hellen des Tageslichts der massive Sockel, die steile Pyramide und der darauf stehende, auf seine opulente Keule gestützte Herkules. Der Aufstieg über die breite Treppe führt, immer angesichts des griechischen Helden, in die nächste Atmosphäre, die maßgeblich vom Wechselspiel von Beton und Holz erzeugt wird. Der Raum erweitert sich nach rechts und links und suggeriert damit die Möglichkeit des Aufenthalts.

Rechts öffnet ein weiteres Themenfenster die Wand ins Druseltal und in das Blattwerk der Kastaniengruppe, die an das Gebäude grenzt. Das Interieur aus stereometrisch gestalteten Ausstellungsvitrinen und Wandtafeln strukturiert mit den dunklen Materialwerten den hellen Raum. Auf der anderen Seite erstreckt sich unter niedrigerer Decke das gänzlich holzverkleidete Interieur des Ladens, in dem eine gezielte Lichtsetzung von der Decke und ein Fensterband eine nahezu heimelige Stimmung erzeugen.

Die Atmosphäre des Raums weicht beim Austreten auf das Höhenplateau der Atmosphäre des Ortes. Nur noch wenige Schritte sind es bis zur riesenhaften Skulptur. Der Blick auf den Sockel des barocken Gebildes offenbart die strukturelle Nähe, die das grobe Relief der Außenhaut des Besucherzentrums zum rustikalen Quaderwerk des barocken Nachbarn gesucht hat. Im Blick zurück erst wird die Baufigur des architektonischen Atmosphärenwandlers deutlich, den Staab hier errichtet hat: Wie ein gewaltiger ausgehöhlter Findling liegt das polygonale Gebilde hier am Hang, passt sich mit seiner Dachform dem ansteigenden Gelände, mit seiner Mauerstruktur der barocken Auffassung eines archaischen Bauwerks an, das seinen ästhetischen Wert aus seinem Zustand als Zwischenstufe von Natur- zu Kunstform bezieht.

Dabei sind die architektonischen Mittel – die reliefierte Betonhaut, die Kanzel, die im Innern den Ausblick auf den Herkules eröffnet, der asymmetrische Grundriss, das stimmungsvoll eingesetzte Kunstlicht und das dunkle Braun des Holzes – Architekturmotive der sechziger Jahre, die hier effektvoll recycelt worden sind. Diese Retroanwandlungen werden durch die Kombination mit den Orientierung gebenden Panoramafenstern zu etwas Neuem. Der Rückweg vom Herkules durch das Gebäude führt das noch einmal vor Augen, wenn der Blick auf die spektakulär abfallende Decke über den Sitzreihen fällt. Am Ende des atmosphärischen Abstiegs indes steht der nüchterne Anblick eines – Parkplatzes.

Andreas Denk

 

 

 

 

 

 

 

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