Baugrund und Ästhetik

Der Berg ruft!

Ich hab die Berge gesucht
Heidi im gleichnamigen Film von 1952

Auch wenn Francesco Petrarca schon 1336 bei der Besteigung des Mont Ventoux „von ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen“ staunt, steht ihm für die ästhetische Wertschätzung der Bergwelt vor allem metaphorisches Instrumentarium zur Verfügung. Er vergleicht den eigenen, staunenden Eindruck mit den sagenhaften Erzählungen vom Berge Athos und vom Olymp und begreift schlussendlich den Auf- und Abstieg als katarthisch-meditativen Gottesdienst im Sinne des Augustinus. Erst die ästhetischen Theorien des Sensualismus ließen im 18. Jahrhundert durch die Einsicht in die individuellen Vorbedingungen des Erkenntnisprozesses eine Beschreibung von subjektiven Gefühlen zu, die beim Anblick natürlicher und künstlicher Situationen entstehen können. Edmund Burkes Überlegungen zum Erhabenen, das gleichermaßen erschreckend wie erhebend sein kann, ließen sich in der Epoche der für viele Adlige und Großbürger obligatorischen „Grand Tour“ zu den Sehenswürdigkeiten Europas in vielen Fällen in der gesehenen „Wirklichkeit“ anwenden und überprüfen. Dass die Berge, namentlich die Alpen, dabei gleichermaßen Faszination wie Horror auslösen konnten, lässt sich in Reiseberichten und vor allem in der Landschaftsmalerei des 18. und 19 . Jahrhunderts ablesen. Das Metaphorische, das solchen verbalen und bildlichen Betrachtungen immer zugrunde lag, verschwand mehr und mehr mit den Erfolgen der Bergsteiger und der Erschließung und Industrialisierung der Berglandschaft.

Foto: David Kasparek

Der Regisseur Arnolf Fanck entwickelte zum Ende der 1920er Jahre schließlich eine eigene Ästhetik, die in seinen Bergfilmen (Die Weiße Hölle vom Piz Palü, 1927, Der weiße Rausch, 1931) von der Unmittelbarkeit des Erlebnisses der Berge und ihrer Naturgewalt eine Fortführung expressionistischer Gefühlstiefe mit Mitteln des Realismus lebt. Fancks spektakuläre Filmkunst, von der auch Leni Riefenstahl profitierte, traf den Geist der Zeit, der zwischen Nietzscheanischem Übermenschentum, Technikgläubigkeit und der – den beiden Tendenzen nicht entsprechenden – sozialen Realität pendelte. Zu diesem Zeitpunkt war die Eroberung der Berge durch den Tourismus nicht mehr umkehrbar. Er hält bis heute an und hat zu skurrilen architektonischen Phänomenen wie dem Ort Sölden im Ötztal geführt, das mitten in den Alpen eine Verifizierung des Learning from Las Vegas nach Venturi, Scott-Brown und Izenour versucht.

Ein Blick in die Gegenwart der alpinen Ästhetik offenbart mehr als nur diese Schattenseite. Der Klimawandel, der sich am deutlichsten im kontinuierlichen Rückgang der Gletscher, in sintflutartigen Regenfällen und katastrophalen Erdrutschen bemerkbar macht, lässt die Kategorien der alpinen Ästhetik nurmehr temporär gültig erscheinen. Möglicherweise kommen die Forderungen nach einer nachhaltigen Landwirtschaft, einer angemessenen Siedlungs- und Bauweise, nach Ressourcenschonung und einer Wiederaufnahme tradierter Wohn- und Wirtschaftsweisen, wie sie inzwischen nicht wenige Alpenbewohner vertreten, zu spät. Vielleicht wird der Genuss der Schönheit der Berge bald nur noch auf einer intellektuellen Ebene stattfinden – in der kollektiven Erinnerung nämlich, wie die Berge waren und wie sie wurden, wie sie jetzt sind.
Andreas Denk

Foto: David Kasparek

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