Manifest für ein neues Bauen in den Grenzen des Wachstums

der erste stein: annette hillebrandt

Der erste Stein kann gelegt oder geworfen werden. Unter dieser Rubrik erscheinen Beiträge, die beides vermögen: Es sind theoretische Texte von Autoren mit Thesen zur architektonischen Praxis, die kontrovers diskutierbar sind. Annette Hillebrandt bringt den Stein ins Rollen: Diskutieren Sie mit!

Ausgangslage
Vor 40 Jahren veröffentlichte Meadows unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ den Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit(1). Die dort erstmals aufgezeigten Ausblicke auf zukünftige Ressourcenknappheit und Umweltverschmutzung waren damals ein Stein des Anstoßes. Heute haben sich diese Szenarien mehr als bestätigt. Zeit, endlich umzudenken und den Stein ins Rollen zu bringen!

Das Bauen im Zeitalter der Überbevölkerung fordert einen neuen, unausweichlich notwendigen Inhalt: recyclinggerechte Planung für ein Bauen in geschlossenen Stoffkreisläufen! Das mag für die einen oder anderen – im Übrigen ganz unabhängig ihres baukünstlerischen Engagements – wie ein Verrat an der Architektur klingen: müsste doch dem Parameter abgeschworen werden, dem Gebäude per se den Anspruch ewiger Dauer zuzubilligen.

Doch hier geht es nicht darum, eine Anschauungsfrage zu erörtern, es geht um eine Notwendigkeit.

Rund 60 Prozent des Müllaufkommens in Deutschland hängen mittelbar mit dem Bausektor zusammen. Selbst wenn es uns gelingt, eine echte Energiewende zu vollziehen, so ist dies doch nur ein kleiner Baustein für das Bauen im „Eine-Welt-Zeitalter“ insgesamt. Boden, Wasser und Luft müssen vor Verschmutzung geschützt werden. Die Biodiversität gilt es zu erhalten.

Dies ist nur möglich mit dem erweiterten Begriff einer Ressourcenwende(2), die nicht allein auf Energie reduziert wird, sondern vielmehr und umfassender als Material-Ressourcenwende begriffen werden muss.

Rückblick und Status quo
Vor nicht einmal 200 Jahren fielen aus dem Bausektor kaum nicht vererdende oder verrottbare Stoffe an. Erst Materialinnovationen wie Kunststoffe und neue Konstruktionen wie beispielsweise Verklebungen, die zu untrennbaren Materialmixen führen, stellen uns vor wertlose Müllberge.

Längst wird das Haus nicht mehr wie einst als erweiterte Hülle des Menschen angesehen, deren unmittelbare Umgebung eine begrenzte Rohstoffauswahl lieferte, und die ihrerseits regional und klimatisch typische Formen und Konstruktionen hervorbrachte. Auf das Material abgestimmte, handgeführte Werkzeuge bestimmten die Bearbeitung, und die Verbindungen der Materialien konnten gelöst werden, um Bauteile noch einmal zu verwenden.

Der begrenzten, regionalen Auswahl von Rohstoffen von einst steht heute eine unbegrenzte, global verfügbare Auswahl von Werkstoffen gegenüber, die mittels Informations-Werkzeug-Techniken verarbeitet wird(3). Immer neue Werkstoffe werden von Ingenieuren komponiert – das Rezept bleibt Betriebsgeheimnis – und in großem Umfange beworben. Der zur ihrer Verwendung verführte (Innen-) Architekt wähnt sich einer gestaltenden Avantgarde zugehörig. Die Folge sind Materialkreationen, für die jedes Recyclingkonzept fehlt. Ihre Produkte unterliegen allenfalls der thermischen Verwertung, und nur bruchstückhaft einem echten Recycling. Was aber hilft das Einsparen von Energie mittels Bauteilschichten, wenn deren Rückbau in 30 bis 50 Jahren jede Abfallrahmenrichtlinie(4) ad absurdum führt!

Darüber hinaus vermag uns das digitale Planungszeitalter zur CAD-gesteuerten Generierung „freier Formen“ zu verführen. Die Möglichkeit eines neuen Werkzeuges allein bringt – oft zunächst unabhängig substanzieller Inhalte – neue Ergebnisse hervor. Im Fokus steht die meist rein ästhetisch motivierte experimentelle Form. Wird der Aufwand ihrer Herstellung unter Beugung von Materialleistung und -fügung erkauft, steht er im argen Missverhältnis zur Nutzung.

Architektur vierdimensional (zurück)denken: Design for Urban Mining
Die Nutzungsdauer eines Gebäudes muss mit in die Planung und Genehmigung eingehen. Je kürzer die Nutzungsdauer, desto schärfer muss eine Rückbau- und Materialrücknahme-Garantie eingefordert werden können. Temporäre Bauten, allen voran der Messebau, müssen sofort und ausnahmslos in einem geschlossenen Kreislauf geplant werden, anderenfalls darf keine Bau-Genehmigung erteilt werden.

Mittelfristig müssen beim Bau von Gebäuden mit längerer Nutzungsdauer Bauherren und Investoren für den Rückbau des Gebäudes verantwortlich gemacht werden. Für alle verwendeten Materialien, die nicht dem biologischen Kreislauf (verrottbar oder vererdbar) zuzuordnen sind, muss die Eignung zur Rückführung in einen technischen Kreislauf nachgewiesen werden.

Nur durch Vorlage eines Rückbaukonzeptes und dem Hinterlegen einer Kaution oder einer Belastung im Grundbuch, einer Art „Rückbauhypothek“ also, wäre das Bauwerk genehmigungsfähig.(5) Die Rückbauhypothek schützt unsere Gesellschaft vor Investitions- und Leerstandsruinen sowie vor Flächenraubbau. Vergangen ist dann die Zeit, die unsere Gesamtgesellschaft immer wieder zwingt, die finanzielle Verantwortung für die „Entsorgung“ von Altlasten zu übernehmen.

Überdies generiert die Rückbauhypothek eine neue Planungsstrategie: Design for Urban Mining(6) – Immobilien als Rohstoffminen also – und Investitionen in wertstabile Materialien, demontabel und nach ihrer Nutzung Gewinn erzielend zu veräußern.

Ermöglicht würde die Kalkulation der Rückbauhypothek durch Berechnungstools, die alle am Bau verwendeten Konstruktionen und Materialien gemäß ihrer Demontagefähigkeit und Recyclierbarkeit bewerten, und zudem durch die Ausstattung aller verwendeten Bauteile und Materialien mit Mikro-Informationsträgern, die Auskunft über sämtliche enthaltenen Stoffe geben.

Architektur als Rohstoffzwischenlager
Wie können wir als verantwortungsvolle Planer die Material-Ressourcenwende jetzt vorantreiben? Wie müssen sich unsere Planungsentscheidungen verändern, wenn wir recyclinggerecht für ein kalkuliertes Urban Mining bauen wollen, damit wir den uns nachfolgenden Generationen alle Chancen erhalten? Wie müssen wir das Bauen verändern, wenn wir davon ausgehen würden, dass Müll ein Designfehler ist?

Wir können unsere Bewertungsmaßstäbe für Architektur darauf überprüfen, ob die angewandten Mittel dem Zweck angemessen sind oder ob sie allein dem Effekt des Neuen geschuldet sind.

Wir können der Informations-Werkzeug-Technik dort entsagen, wo sie hochindividualisierte Bauteile generiert, deren allzu spezialisierter Einsatz sich einer Weiterverwendung entzieht.

Parameter unserer eigenen Planungen können minimierte Abfallmenge und Energieaufwand im Herstellungsprozess sein. Dazu müssen wir nachwachsende Rohstoffe mit guter CO2-Bilanz bevorzugen und Materialien verwenden, die auf gleicher Stufe recycliert werden können, also Downcycling vermeiden.

Wir sollten von den Bauprodukt-Herstellern Produktverantwortung einfordern und die Verwendung von neuen Produkten mit Recyclingkonzept und Rücknahmegarantie beispielsweise gemäß der „cradle-to-cradle“-Strategie(7) bevorzugen.

Wir können versuchen, auf Beschichtungs- und Sandwichsysteme zu verzichten, die die Sortenreinheit und damit Recyclierfähigkeit von Materialien unmöglich machen. Dazu gehört selbstverständlich Überzeugung und Bauerfahrung; gilt es doch, einer starken Bauprodukt-Industrie und -Lobby gegenüberzutreten. Sie wird selbstverständlich jedes von ihr neu entwickelte Komposit-, Sandwich- oder Beschichtungsprodukt als dem Rohmaterial überlegen bewerben, sei es in Bezug auf die Beständigkeit gegenüber Schädlingen, gegenüber der Alterung oder betreffs der Leistungsfähigkeit. Der Wachstumsökonomie ist einbeschrieben, dass Innovationsvorsprünge schnell genutzt werden müssen. Die Konsequenz ist, dass neue Werkstoffe ausschließlich wissensbasiert entwickelt und unbeeinflusst von den Faktoren Zeit und Erfahrung auf den Markt gebracht werden. Das Problem schadhafter Produkte löst am Ende ab und zu die Insolvenz des Herstellers.

Wir können den Versprechungen der Hersteller unsere Fähigkeiten als entwerfende Konstrukteure entgegensetzen! Wir können uns auf die Reparaturfreundlichkeit von Konstruktionen (rück-)besinnen. Oder wir können uns der traditionellen Verbindungstechniken erinnern, deren Weiterentwicklung uns mittlerweile bezahlbare CNC-gefräste Holzverbindungen beschert. Oder aber wir können lösbare Schraub-, Klemm- und Klickbefestigungen verwenden und weiterentwickeln.

Gleichzeitig müssen wir von unseren Berufsstandsvertretern einfordern, uns das Rückgrat für die Entwicklung individueller Konstruktionen zu stärken und dafür einzutreten, dass unser technisches Regelwerk so verändert wird, dass die Recyclierfähigkeit von Stoffen und die Demontabilität der Konstruktion einen Wert an sich erhält.

Aufbruch in die Verantwortung
Wir stehen vor einer großen Aufgabe, die einerseits eine gesamtgesellschaftliche, globale Notwendigkeit darstellt. Andererseits ist sie die Chance für eine neue, konzeptbasierte Architekturhaltung, die jeder ästhetischen Debatte eine neue Verantwortlichkeit voranstellt. Ein Paradigmenwechsel bei der Planung von Immobilien ist erforderlich. Eine neue Leistungsphase, die „Rückbauplanung“, steht an.

Anmerkungen
1 Meadows, Dennis: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972.
2 Hennicke, Peter / Kristof, Kora / Götz, Thomas (Hrsg.): Aus weniger mehr machen, München 2011.
3 Schindler, Christoph: Ein architektonisches Periodisierungsmodell, anhand fertigungstechnischer Kriterien, dargestellt am Beispiel des Holzbaus, (Diss. ETH Zürich), Zürich 2009.
4 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) (Hrsg.): Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien. Diese so genannte „Abfallrahmenrichtlinie“ auch unter: www.bmu.de.
5 Hillebrandt, Annette: Verbindung(s)lösung, in: Drexler, Hans / Seidel, Adeline (Hrsg.): Building the Future. Maßstäbe nachhaltigen Bauens, Berlin 2011, S. 237-249.
6 Vgl. die Ziele des Urban Mining e.V.: www.Urban-Mining.de
7 Braungart, Michael / McDonough, William: Die nächste industrielle Revolution: Die Cradle-to-Cradle-Community, Hamburg 2008.
8 Hillebrandt, Annette / Rosen, Anja: www.material-bibliothek.de

Prof. Dipl.-Ing. Annette Hillebrandt ist seit 1994 selbständig tätige Architektin in Köln. Ihr Forschungsprojekt materialbibliothek, eine frei verfügbare Online-Datenbank, gibt fundiert recherchiert Planungshilfen zum Vergleich und nachhaltigen Einsatz verschiedenster Materialien. Zur Zeit beschäftigt sich der Lehrstuhl TEAMhillebrandt an der Bergischen Universität Wuppertal mit der Entwicklung von Berechnungstools und der Gegenüberstellung von herkömmlichen mit nachhaltig demontablen Details zum Zweck der Rohstoffrückgewinnung.

Foto: Christian Richters

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