Gerd de Bruyn

Die kranken Ohren Beethovens

Adolf Loos: Trotzdem (19031930)

Prof. Dr. Gerd de Bruyn (*1954) studierte Literatur- und Musikwissenschaft und war Gaststudent in der Architekturklasse der Frankfurter Städelschule bei Günter Bock. 1984 gründete er zusammen mit Berthold Reßler und Robert March das Architekturteam AAM. De Bruyn war Chefredakteur der „Baukultur“ (DAI) und von 1997 bis 2000 Vertretungsprofessor für Architektur- und Städtebautheorie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Seit 2001 ist er Professor für Architekturtheorie und Leiter des Instituts Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart. Gerd de Bruyn ist Mitglied im Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift, er lebt und arbeitet in Tübingen und Stuttgart.

Tatsächlich gibt es ein Buch, das mich zum Überläufer gemacht hat: zum Überläufer von der Literatur und Literaturwissenschaft zur Architektur und Architekturtheorie. Seit einigen Jahren schlage ich wieder den entgegengesetzten Weg ein, diesmal aber schleppenden Schritts. Außerdem wird ein Teil von mir immer in der Architektur verbleiben. Doch damals, im Jahr 1981, floh ich mit wehenden Fahnen aus dem germanistischen Promotionskolloquium, zu dem mich Ralph-Rainer Wuthenow eingeladen hatte, in die Städelschule. In Günter Bocks Architekturklasse. Schuld daran war der von Adolf Opel herausgegebene Neudruck der Erstausgabe von „Trotzdem“. Einer Sammlung der Zeitschriftenaufsätze, die Adolf Loos zwischen 1900 und 1930 publiziert hatte. Über die Wiener Moderne war ich zu Loos gekommen, verschlang sein Buch, schlug den Klavierdeckel zu und begann zu zeichnen.

Beim Aufnahmegespräch mit Günter Bock, „der mit dem Stuhl tanzt“, redete ich nur über Loos und Wien. Das wirkte wie eine Zauberformel, wie ein „Sesam öffne dich“: Ich durfte mitmachen – trotz der Zeichnungen. Die waren zu brav. Mit den gelegentlichen Besuchen Peter Cooks war im Städel die Zeichenwut ausgebrochen. Umso filigraner, komplexer und rätselhafter, desto besser. Der Neuling musste allerdings erst mal eine durchaus erkennbare Außenbühne für das Schauspiel Frankfurt entwerfen. Das und alles Folgende machte solchen Spaß, dass ich das Promovieren zehn Jahre lang vergaß.

Das Germanistikstudium hatte seine Höhepunkte in den frühen (?) Morgenstunden, wenn Ralph-Rainer, das angesäuselte Genie, dem später der „Orden der aufgehenden Sonne“ umgehängt wurde, mit der glimmenden Gauloise im Mundwinkel den Seminarraum aufsperrte, um uns des Teufels Elixiere einzuflößen. Selbstverständlich geschah das in der Dantestraße. Im angeblich ersten Stahlgerüstbau Frankfurts, entworfen von Ferdinand Kramer. Demgegenüber erreichte das Studium am Städel seinen Höhepunkt in den späten Abendstunden, wenn „der Günter“ mit uns zum Griechen ging. Zuvor waren wir die nüchternen Jünger eines radikalen Neomodernismus, obwohl schon lang nicht mehr „der Ferdinand“, Adornos bauender Freund, tonangebend war, sondern die Postmoderne.

Aber nicht bei uns! Mochten BJSS mit der Schirn den urbanen Kontext betonen, Jourdan Müller den Wettbewerb der Landeszentralbank gewinnen und Berghof Landes Rang dazu die Giebel und Erkerchen zeichnen – wir waren die zornigen Gegner aller narrativen und ironischen Architektur. Als wir hörten, Punks würden mit ihren Stiefeln die Bodenplatten der Stuttgarter Staatsgalerie zertreten, feixten wir. Architektur und Pop? Ohne uns, nachdem wir mit ansehen mussten, wie Peter Cook beim Essen die Pommes frites aus dem Mund fielen (und deutsche Pseudostalinisten keinen englischen Satz herausbrachten).

Weder ornamentierten wir, noch trugen wir Tattoos. Loos sei Dank. Karl Kraus hatte aus dem Grab gewunken und uns daran erinnert, dass nicht die Architektur humorvoll, sinnlich und farbenfroh sein müsse, sondern der Mensch selber. Wir verstanden das sofort, nachdem uns ein Kommilitone aus Friedberg zu nächtlichen Abstechern in eine Funk-Disco überredet hatte, in der die kaffeebraunen Töchter der GI’s, die in den Kasernen rund um Poelzigs IG-Farbenhaus stationiert waren, ihre gelenkigen Hüften schwenkten. Wer sich nicht zu ihnen auf die Tanzfläche wagte, musste entweder doch postmodern werden oder Paul Valéry (in der Übersetzung Rilkes) lesen. Die andern gingen ins Kommunale Kino und schauten sich den letzten Tango in Paris an, wo sich Marlon Brando ja auch nicht kindisch benahm und zu Buntstiften griff, sondern mannhaft zur Margarine.

Aber ich will ja von einem Buch erzählen. „Trotzdem“ war beides: Literatur und Architektur, vor allem aber eine Fähre, die zwei Ufer miteinander verband, die den Namen „Theorie“ und „Praxis“ trugen. Außerdem war Loos ein umwerfender Stilist. Als aber Coop Himmelblau ins Städel kam, mit dem Vortrag „Architektur muss brennen“, an dessen Ende ein Ghettoblaster aufgedreht wurde, der Flammenflügel aufloderte und Mick Jagger schrie: ‚Cause I try and I try and I try and I try‘ – da wurde ich übermütig, jawohl, ging zum Herrn Prix und wollte aus seinem Mund eine Lobeshymne auf seinen Landsmann hören. Doch er kannte Loos nicht und grinste höhnisch. Ich bin ihm später nochmals begegnet, da rauchte er schon Zigarre. Beides war eine Lektion.

Auf sie folgte der wiederholte Griff zu „Trotzdem“ und die gezielte Lektüre der „Kranken Ohren Beethovens“. Schließlich konnte man sich ja zwei epochenübergreifende Fusionen einbilden: die der Beatles mit Mozart und die der Rolling Stones mit Beethoven. Letzteres setzte freilich eine Missbildung der Gehörgänge voraus, die der taube Loos beschrieben hatte. Er kannte sich in der Evolution aus, aber auch in der Anatomie. Darin sogar besser. Mit der Prognose, dass die Evolution der Kultur und das Tätowieren einander ausschließen, lag er bekanntlich falsch. Richtig erkannt hatte er hingegen, dass Beethovens Dissonanzen an allem schuld waren. Die europäischen Ohren hatten von seinen späten Streichquartetten einen bleibenden Schaden davon getragen: „Alle anatomischen details, alle knöchelchen, windungen, trommelfelle und trompeten erhielten die krankhaften formen, die das ohr Beethovens aufwies.“ Mit der glücklichen Folge, dass man nun in der Lage war, die Musik Schoenbergs und Strawinskys zu genießen, während sich spätere Generationen am Free Jazz, am Rock ’n’ Roll und der Punkmusik ergötzten. (Allerdings galt auch hier für die meisten: I try and I try and I try and I try…)

Wir lernen daraus: Loos hatte nichts gegen das Kranke, Abartige, Verfemte. Wer das weiß, liest seinen berühmten Aufsatz „Ornament und Verbrechen“ mit mehr Gewinn und größerem Genuss. Allen Protestanten, die für meine Lesart nichts übrig haben, seien Max Raphaels marxistische Texte für eine demokratische Architektur ans Herz gelegt, die 1976 im Fischer Verlag erschienen sind.

Adolf Loos: Trotzdem, Prachner Verlag Wien ( Aufl. 1982, Neuaufl. 1997), 218 S, nur noch antiquarisch erhältlich.

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