Martin Halfmann

Von menschlicher Architektur

Boris Vian: Der Schaum der Tage (1947)

Dipl.-Ing. Martin Halfmann (*1960), Architekt BDA, studierte von 1980 bis 1987 Architektur an der RWTH Aachen. Nach der Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros folgte 1992 zusammen mit Ulrike Halfmann die Gründung des eigenen Büros Halfmann Architekten in Köln. Zwischen 2005 und 2011 war Martin Halfmann Vorsitzender des BDA NRW, er lebt und arbeitet in Köln.

Mancher wird sich zu Recht fragen, was ein surrealistischer Liebesroman ohne jeden aktuellen Zeitbezug in einer Anthologie von Büchern über Architektur zu suchen hat. Ich schreibe diese Rezension, weil ich es der Lektüre dieses Buches verdanke, heute Architekt zu sein.

Während meiner Schulzeit hatte ich mir einen kleinen Namensstempel angeschafft, mit dem ich meine Bücher kennzeichnete. Wer Bücher liest, verleiht sie auch. Irgendwie sollten sie den Weg in mein Regal zurückfinden. Dazu diente der Stempel, hinter dem ich jeweils die Jahreszahl der Anschaffung oder Erstlektüre notiert habe. In meiner Ausgabe steht „1980“, das Jahr, in dem ich mich entscheiden musste, was ich nach dem Abitur mit meinem angebrochenen Leben anfangen wollte. Musiker hatte ich ausgeschieden. Für einen Profi war ich zu faul, und Jazz hörte damals ohnehin keiner. Blieben noch Schriftsteller oder Architekt. Da fiel mir Boris Vian in die Hände.

„Der Schaum der Tage“ hat zwei Handlungsstränge: Der erste erzählt die Geschichte vom jungen Dandy Colin, der sich unsterblich in Chloé verliebt und sie heiratet. Ihr Glück ist nicht von Dauer. Chloé erkrankt unheilbar an einer Seerose in der Brust. Je mehr sie wächst und ihre Krankheit fortschreiten lässt, desto enger, feuchter und bedrückender wird ihre gemeinsame Wohnung. Rechte Winkel krümmen sich, Fenster und Räume schrumpfen, Licht, Wärme und jegliche Form von Energie verschwinden und hinterlassen Dunkelheit und Kälte. Mit Chloé leidet auch die Architektur und zerbricht schließlich an der Hoffnungslosigkeit ihrer Krankheit.

Lichtdurchflutete Räume voller Schönheit und Poesie verwandeln sich zu bedrohlichen Albträumen: „Er […] gelangte in das Esszimmer, das mit seinem blassblauen Teppich und den beige-rosafarbenen Wänden empfindsamen Augen Erholung bot. Der Raum maß ungefähr vier mal fünf Meter, die beiden tiefgezogenen Fenster gingen auf die Avenue Louis Armstrong. Die Spiegelglasscheiben waren seitlich zu verschieben und ließen die Düfte des Frühlings ein, wenn er gerade draußen war. […]

Das Esszimmer war nicht mehr zu betreten. Die Decke stieß beinahe an den Fußboden, mit dem sie durch halb-vegetative, halb-mineralische Schlingen verbunden war, die in der feuchten Dämmerung prächtig gediehen. Die Tür zum Flur ließ sich nicht mehr öffnen. Es blieb nur noch ein schmaler Gang, der von der Wohnungstür in Chloés Zimmer führte.“

Ich bin Sohn eines Architekten und mit Plänen und Modellen aufgewachsen. Aber ich hatte bis dahin Architektur immer als etwas Starres und Unbewegliches betrachtet, ein Stück Bautechnik ohne eigene Seele. Auch wenn die Veränderung von Stadt und Gebäuden in Vians Roman höchst irreal ist, so spricht daraus dennoch eine tiefe Wahrheit. Was wir bauen, hat nicht nur eine existente Dimension, sondern ist darüber hinaus abhängig vom Betrachter, seinen Stimmungen und Empfindungen, beeinflusst unser Denken und Handeln, begleitet uns beim Leben, Lieben und Sterben.

„Architecture is about people“ hieß eine Ausstellung von Norman Foster. Das ist wahr, geht aber nicht weit genug. Alle Kunst handelt vom Menschen, und es ist ihr Ziel, ihn im Innersten zu berühren. „Menschen verändern sich nicht,“ lässt Vian seinen Protagonisten philosophieren: „Nur die Dinge können sich verändern.“ Architektur ist in diesem Sinne zutiefst menschlich und – sie lebt. Nicht nur im „Schaum der Tage“. Sie lebt in den Augen des Betrachters, im Herzen der Nutzer, in all unserem Glück und Unglück, das wir in Räumen empfinden, die von Menschen gestaltet werden. Kann es eine größere Motivation geben, Architektur zu studieren?

Der Roman hat aber noch eine andere Handlungsebene, in der Vian ebenso schonungslos wie augenzwinkernd mit dem französischen Existenzialismus der Vierziger und dem Kult um seinen Protagonisten abrechnet. Sie handelt von Colins bestem Freund Chick, einem glühenden Verehrer des Schriftstellers Jean-Sol Partre, der sich und seinen Freund Colin finanziell ruiniert, um neben den unterschiedlichsten Ausgaben und Sonderdrucken von Partres Gesamtwerk Kleidungsstücke, Originalaufnahmen und sonstige Devotionalien seines Helden zu erwerben. Darüber vernachlässigt er seine hübsche Freundin Alise und die Zahlung seiner Steuern. Beides endet in einem furiosen Finale voller surrealer Gewalt, einer schallenden Ohrfeige für jede Form des Personenkults, die nicht nur mein damaliges Bild des Literaturbetriebs erschütterte, sondern heute aktueller ist denn je.

Die verschiedenen Handlungsstränge werden verwoben mit der Musik von Duke Ellington (Chloé ist der Name eines seiner Stücke), den abenteuerlichen Gerichten von Colins Koch Nicholas auf der Basis des legendären „Livre de Cuisine“ von Jules Gouffé und Colins Erfindung des Pianocktails, einer Maschine, die Cocktails nach Musik mixt. Im „Schaum der Tage“ explodieren Farben, Formen, Stoffe, Materialien, Literatur, Kunst und Musik in einem fulminanten Feuerwerk des Surrealismus und hinterlassen den Leser mit der tiefen Gewissheit, dass alles im Leben miteinander kommuniziert. Die Literatur ist in der Musik, die Musik in der Architektur, die Architektur in der Kunst. Nichts in dieser Welt ist ohne Zusammenhang. All diese Linien kreuzen sich im Herzen der Menschen, berühren ihn und werden von ihm berührt.

Und da ist dann noch Boris Vian, ein Autor, dessen kurzes Leben mich tief beeindruckte, der neben seinem Beruf als Ingenieur ein äußerst erfolgreicher Jazztrompeter und Schriftsteller war. All dies gab mir die Gewissheit, dass Musik und Literatur mich in meinem Leben auch als Architekt noch erreichen werden, und oft genug frage ich mich dabei, warum ich mich mit Ausschreibungsvorbemerkungen und Besprechungsprotokollen herumschlage, statt nach der Poesie zu suchen, die unseren Werken innewohnen sollte.

Zwei Nachsätze: Wer sich überwindet, und das Buch in der zur Zeit einzig verfügbaren Ausgabe als Brigitte-Liebesroman mit einem Einband zu kaufen, dessen kitschig-hilflose Gestaltung den Titelbildern von Art Spiegelman oder Hannes Jähn der bibliophilen Ausgaben von Zweitausendeins Hohn spottet, wird vom Inhalt reich belohnt.

„Der Schaum der Tage“ wird 2013 von Michel Gondry neu verfilmt. Das erscheint mir fast unmöglich, aber die Besetzung mit Romain Duris, Audrey Tautou und Omar Sy lässt hoffen. Bei der Uraufführung der Verfilmung seines ersten Buches „Ich werde auf Eure Gräber spucken“ (Originaltitel: „J’irai cracher sur vos tombes“) starb Boris Vian 1959 im Alter von 39 Jahren vor Aufregung über das vom Original deutlich abweichende Drehbuch.

Boris Vian, L’Écume des jours, Gallimard, Paris 1947; dt: Boris Vian, Schaum der Tage, übersetzt von Antje Pehnt, Aufbau-Verlag Berlin 2012, oder: Brigitte-Liebesromann, 283 S., 4,95 Euro, ISBN 978-357090-7344.

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