Karin Wilhelm

Das Potential des kritischen Denkens

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung (1947/1955)

Prof. Dr. phil Karin Wilhelm MA studierte Kunstgeschichte, Soziologie, Philosophie in Hamburg, Heidelberg, München, Berlin und Marburg. 1981 wurde sie mit ihrer Dissertation (Walter Gropius – Industriearchitekt) bei Prof. Heinrich Klotz in Marburg promoviert. Nach verschiedenen Lehrtätigkeiten war sie von 1991 bis 2001 Ordinaria für Kunst- und Architekturgeschichte im Fachbereich Architektur an der Technischen Universität Graz und von 2001 bis 2012 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig. Karin Wilhelm konzipierte eine Vielzahl von Ausstellungen im In- und Ausland und ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift.

Es war dieses Denken auf der Kippe, das so faszinierte. Es war die Radikalität der Analyse, der man in der „Urschrift“ der „Kritischen Theorie“, in der „Dialektik der Aufklärung“ aus der Feder der Soziologen/Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, verfallen konnte. Noch in den Jahren der Emigration in den USA entstanden, brach dieses Buch später mit allen gewohnten Lektüreerlebnissen, die man Mitte der 1960er Jahre an bundesdeutschen Universitäten haben konnte. Denn außerhalb Frankfurts am Main, wohin die beiden zurückgekehrt waren, las man ihre „Philosophischen Fragmente“ zum Verhältnis von „Mythos und Aufklärung“, von „Aufklärung und Moral“, zum Antisemitismus im Kapitel über die „Grenzen der Aufklärung“ und vor allem in dem zur „Aufklärung als Massenbetrug“ gleichsam im Verbotenen; jedenfalls gehörte die „Dialektik der Aufklärung“ an anderen Hochschulen nicht zum akzeptierten Programm der offiziellen geisteswissenschaftlichen Seminare.

So lag etwas Verruchtes darin, den 1944 in den Niederlanden gedruckten Text zu lesen und zu diskutieren, der für Studierende im Raubdruck erhältlich war. Diese Aura des Verbotenen mag als Kompensation gewirkt haben, denn es war ein wahrlich mühevolles Unternehmen, die teils fragmentarischen Texte überhaupt zu verstehen und nicht schon nach den ersten adornitischen Denkvolten aus der Hand zu legen.

Darüber hinaus fesselten ja Sätze wie diese und hielten bei der Stange: „…die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Oder: „Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge, die er im Sinne hat, ist patriarchal:…“ Das Unheil hatte man im Ruinendeutschland vor Augen und wollte natürlich wissen, wie und warum es zustande gekommen war und offensichtlich weiter wirkte. Dass aber der Verstand ein Geschlecht hatte, hatte man so noch nicht bemerkt, ahnte aber, dass sich darin ein Machtverhältnis kundtat, ein Verhältnis, das die Autoren dann im Kapitel zur „Kulturindustrie“ weiter aufklärten.

Hier konnte das „Blut in Wallung“ geraten, denn man verstand, dass die eigene Alltagswelt patriarchalisch dominiert war, wenn man las: „Die städtebaulichen Projekte…, die in hygienischen Kleinwohnungen das Individuum als gleichsam selbständiges perpetuieren sollen, unterwerfen es seinem Widerpart, der totalen Kapitalmacht nur umso gründlicher.“ Eben – ein solcher Satz erklärte doch, was schon empfunden wurde: die Verheißungen der Werbung als Betrugsmanöver. Die Werbung zeigte ja eine harmonische Welt in hygienisch modernen Wohnräumen mit so überaus glücklich lebenden Hausfrauen, die in ihren Kleinwohnungen oder auch in Bungalows ihre glücklichen Familien solange bewuschen und mit Fertigprodukten zeitsparend bekochten, bis der Arbeitsverstand in Gestalt des Ehemannes heim kam. Mit dem wirklichen Leben der Frauen hatte diese patriarchale Raumpolitik zwischen Kleinwohnung und Arbeitsalltag wenig zu tun; die Hausarbeit wurde in einer Sechs-Tage-Woche nach einem Acht-Stunden-Tag in der Verwaltung, der Fabrik oder auch in einem Architektur- oder Ingenieurbüro verrichtet, so lange, bis in den 1960er Jahren die Gewerkschaftskampagne „Samstags gehört Vati mir“ auch „Mutti“ immerhin einen reinen Hauswirtschaftstag bescherte.

So folgte man den Argumenten der Autoren mit Sympathie und las ihre Enttarnung des Spätkapitalismus, der alles unter den Profit subsummierte und in eine Kultur der totalen Gleichförmigkeit verwandelte, jedenfalls in Hinsicht auf das, was städtebaulich/architektonisch geschah, mit wachsender Zustimmung. Und doch regte sich bei aller Einsicht in die Vernebelungsstrategien der Kulturindustrie auch Widerstand gegen diese Unausweichlichkeit: immer dann, wenn Horkheimer und Adorno das Betrugspotential an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen mit den Produkten der amerikanisch geprägten Massenkultur identifizierten. Das galt für den Film, die Comics und die Jazzmusik. Spätestens in der Lektüre solcher Passagen regte sich Protest! Denn wie konnten die beiden in den Filmen Charly Chaplins das anarchische Moment des Widerstands gegen den mainstream übersehen? Wie konnte die Schönheit der frühen Schwarz-Weiß-Filme des deutschen Expressionismus, Fritz Langs Metropolis (1927), der den Klassencharakter der modernen Industriestadt als Fabel gezeigt hatte, unterschlagen werden? Wir hatten den Filmemacher Fritz Lang soeben in Jean Luc Godards „Le Mépris“ (1963) wieder gesehen und sein Thema des „stählernen Rhythmus…der trostlosen Städte“ (Adorno / Horkheimer) soeben in Godards „2 ou 3 choses que je sais d´elle“ (1967) in neuem Gewand mit den wachen Augen der Kritik angeschaut. Godards Film über die Lebenssituation einer jungen schönen Frau in einer der neu gebauten Trabantenstädte im Weichbild von Paris durchdrang doch in der so noch nie gesehenen Erzähl- und Bilddramaturgie den Gleichklang einer verdummenden Massenkultur und zeigte, dass die Köpfe nicht mehr so einfach zu besetzen waren.

Diese Perspektiven des Autorenfilms hatten Horkheimer / Adorno natürlich noch nicht gekannt, aber sie hatten sie auch nicht für möglich gehalten! Und so ereignete sich, dass ihre argumentative Negativität, die den mit Kant in Aussicht gestellten „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ein für allemal suspendiert hatte, hinterrücks durch die Kippfigur der adornitischen Dialektik abermals aufschien, die Aufforderung des Immanuel Kant: Man möge sich seines eigenen Verstandes mutig bedienen. Und das geschah.

Wiewohl die „Dialektik der Aufklärung“ heute vielen als veraltet gilt, so ist die prognostische, seherische Kraft dieser Texte bewundernswert aktuell geblieben. Mehr als 40 Jahre nach deren Erscheinen hat Michel Foucault aus, wie er formuliert, der „Position der Brüderlichkeit gegenüber der Frankfurter Schule“ die erhellende Funktion dieses Denkens für unsere Zeit betont. Denn tatsächlich unterliegen unsere Sitten und Geschmacksbilder einer kulturellen Gleichförmigkeit, die sich im Repertoire der Handelsketten auf den Boulevards unserer Städte zeigt. Neu geplant sind diese Städte von einer „Eigenschaftslosigkeit“ (Rem Koolhaas), die in der Produktion architektonischer Standardmodelle den Zwang zur hohen Rendite realisieren und noch im Widerpart zu deren plumper Banalität durch eine schrille Eventarchitektur mit verwertbarem Aufmerksamkeitspotential Bestätigung erhält. Der „feine Unterschied“, der im Sprachbild des über den Wassern schwebenden „Stararchitekten“ personalisiert wird, der sodann vom „Starphilosophen“ gefeiert und ins Reich des Übermenschlichen erhoben wird, ist eben auch nur ein Produkt des Räderwerks namens Kulturindustrie. Zur Durchdringung solcher Zusammenhänge eröffnet die „Dialektik der Aufklärung“ immer noch das Potential des kritischen Denkens.

Max Horkheimer / Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, unter Mitarbeit von Gretl Adorno, Edition ‚Emigrant´ Lichtenstein 1955 (Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag), Neuauflage: 304 S., 9,99 Euro, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt / Main 2012,  ISBN 978-3596904556.

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