Manfred Sack

Ein Menschenfreund

Julius Posener: Fast so alt wie das Jahrhundert (1990)

Dr. phil. Dr.-Ing.E.h. Manfred Sack (*1928) studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, 1954 folgte die Promotion. Von 1959 bis 1994 war er Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, für die er bis 1997 als Autor tätig war und sich den Ruf als einer der profiliertesten deutschen Architekturkritiker erwarb. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen wurde Sack 1976 mit dem BDA-Preis für Architekturkritik ausgezeichnet. Manfred Sack lebt in Hamburg.

Immerhin, so hatte Julius Posener einem Freund geschrieben, „immerhin verschweigst Du nicht, dass dies das Leben eines Dilettanten gewesen ist, und ich darf hinzufügen, dass dieser Dilettant sich jetzt am Ende ernsthaft fragt, ob er nicht alles falsch gemacht hat. Aber…“, so setzte der damals 87-jährige erleichtert hinzu, „das geht wohl so ziemlich allen so“ – allen, für die das Dilettieren vom lateinischen Delektieren herrührt und nichts anderes meint, als sich an allem zu ergötzen, auch davon verlocken, sich darin verstricken zu lassen und unter der Hand vom Liebhaber zum Fachkundigen zu werden: zum Professor der Baugeschichte“. Diesen, den ganz anderen Weg zu Kennerschaft und Urteil, ist Julius Posener gegangen, dabei der schönen Devise docendo discere folgend: lehrend zu lernen. So ist es nicht zuletzt der pädagogische Eros gewesen, der ihn zum angesehensten, auch zum beliebtesten Lehrer und Kritiker in Sachen Architektur hatte werden lassen – und bei den von ihm Attackierten zur Respektsperson.

Und so ist es nach wie vor ein inspirierendes Vergnügen, seine ungemein anregende Autobiographie wieder zu lesen: „Fast so alt wie das Jahrhundert“, das Zwanzigste, und sich darüber zu freuen, dass darin eine nach wie vor aufregende Architekturepoche dargestellt, genauer: erzählt wird, eng verknüpft mit dem Lebenslauf, der die Faszination begreiflich macht, die er einst auf Studenten, Kollegen, interessierte Bürger ausgeübt hat.

In Berlin, wo er 1904 geboren wurde und 1996 – nun tatsächlich „fast so alt wie das Jahrhundert“ – gestorben ist, hatte er, Spross einer jüdischen Familie, Architektur studiert. Doch Architektur zu entwerfen und zu errichten war Poseners Leidenschaft nicht. Gleichwohl verlor er sie niemals aus den Augen. Und so war er denn auch, auf welch abenteuerlichen Umwegen, 1961 Professor für Geschichte, Theorie und Kritik an der Hochschule der Künste zu Berlin geworden . Das geschah, wie merkwürdig, am 13. August, dem Tag des Mauerbaus.

Zuvor freilich hatte es ihn weit herumgewirbelt, zunächst nach Paris, wo man ihn, nicht anders als daheim, gleich spüren ließ, dass er Jude ist. Zwar hatte der Architekt Pierre Vago empfohlen, ihn als Kollegen in die Redaktion der Zeitschrift „L‘Architecture d‘Aujourd‘ hui“ zu holen: „Er ist ein Jude, da wird er intelligent sein. Er soll herkommen.“ Doch bald wurde dem Blatt nahegelegt, „Namen wie Ginsberg zu entfernen“. Posener war der „judéo-soviéto-boche“. Jedenfalls lernte er dort den Architektur-Journalismus. Doch bald liebäugelte er mit Palästina, schrieb dort an Erich Mendelsohn und wurde von ihm nach Jerusalem engagiert. Nur wenig später, nach einer Reiberei, kündigte er, schrieb neuerlich für das Pariser Blatt, reiste monatelang in Palästina umher. Und welche Überraschung: „Um diese Zeit“, schreibt er, „habe ich das einzige Haus meines Lebens gebaut. […] Das jüdische Ehepaar aus Norwegen mit Namen Mendelsohn war damit zufrieden“; das Urteil des Architekten Mendelsohn hatte er so in Erinnerung: „Mein armer Junge!“

Architektur zu entwerfen, zu bauen – das war ganz offensichtlich nicht Julius Poseners Leidenschaft. Er umkreiste das Metier unentschieden, erging sich an den Rändern, hangelte sich von Job zu Job und wandte sich anderem zu, war plötzlich verrückt nach Landschaft, nahm sie, nahm Architektur mit allen Sinnen wahr, entdeckte – gerade war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen – auf einmal Dante. Hier und in vielen anderen, oft seitenlangen Passagen bemerkt man, dass Posener in seinem traumverlorenen Lebenszickzack ein gebildeter Mann geworden war, den vor allem das reizte, was er nicht kannte und was auszuprobieren ihm plötzlich auferlegt schien. Er war wissbegierig, aber handelte bemerkenswert gelassen. Und so glaubte er – aus Pflichtgefühl und Abenteuerlust – für die Engländer in den Krieg gegen die Deutschen ziehen zu müssen. Auf einmal war er tatsächlich Offizier geworden. Wohin es ihn auch verschlug, er erfreute sich an guter Architektur, in Ägypten, Israel, Italien, dann auf einmal auch in Bislich bei Xanten und Bochelt.

Das weitere erzählt er gefasst auf nur einem Dutzend Seiten: die Demissionierung, die Übersiedlung nach London, die Arbeitssuche dort, die (erste) Heirat – und endlich die vorsichtige Entdeckung seiner wahren Talente: Er wurde Lehrer an einer Bauschule „und hatte wirklich keine Ahnung, wie man das macht“. Er geriet flüchtig ins Fach Baugeschichte, wurde danach Gründungsprofessor für Architektur in Kuala Lumpur (Malaysia), verließ die Hochschule dort schon fünf Jahre später, 1961. Kaum in London, warb sein Freund Klaus Müller-Rehm in Berlin um ihn. Beim zweiten Mal sagte er zu und wurde Professor für Baugeschichte an der Hochschule der Künste in Berlin. Und bekannte: „Ich war jetzt sechzig. Ich gestehe, dass ich als Lehrer der Geschichte in noch stärkerem Maße Dilettant war als beim Entwurf.“ Doch entscheidend war wie stets im langen Leben des Julius Posener seine wunderbare Gabe, vor allem seine Lust, „irgendein Sonderinteresse mit großer Energie zu verfolgen“. Er kannte seine Begabung, sich sprachlich über Nicht- und Halbwissen hinwegzuhelfen. Es hört sich an wie die Absolution für Journalisten wie mich.

Wahrscheinlich ist das die Erklärung für die Faszination, die er fortan auf die Studenten ausgeübt hat, genauer: auf alle, die ihm zuhörten oder ihn lasen. Er war kein Geschichtswissenschaftler, sondern ein unaufhörlich kundiger werdender Geschichtsfeuilletonist, aber dies mit allergrößtem Anspruch. Er schrieb – und sprach – ein jedermann verständliches, farbenreiches, schönes, schwingendes Deutsch, das ihm nicht zuletzt als kritischer Zeitgenosse zugute kam. Und bei alldem war er ein engagierter Bürger, viel mehr: ein Freund der Menschen. Sie waren seine Adressaten, auch in seinen Hunderten Essays, seinen Büchern, in den Vorlesungen (die die Zeitschrift Arch+ in sieben Heften mit erstaunlichem Erfolg publik gemacht hat) – nicht zuletzt in seiner bemerkenswert uneitlen Autobiographie, die schon drei Jahre darauf leicht erweitert neu hatte aufgelegt werden müssen.

Julius Posener: Fast so alt wie das Jahrhundert, Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1990, 313 S., erweiterte Neuauflage im Birkhäuser Verlag , Basel 1993, 328 S., nur noch antiquarisch erhältlich.

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