Andreas Denk

Die Stunde des Architekten. Ein Pamphlet

Zu bestimmten Zeiten des Lebens und Arbeitens ist es notwendig, innezuhalten, um sich zu orientieren. Der zeitliche Verzug ermöglicht einen Blick in die Zeit zurück. Ereignisse und Entwicklungen klären sich. Ihre Bedeutung für das Werden der Gegenwart und für den eigenen Standpunkt wird erkennbar. Aus dem reflexiven Versuch der Erklärung des Jetzt erwächst die Kritik, die Unterscheidung zwischen dem Gelungenen, dem weniger Gelungenen und dem gar nicht Gelungenen. Aus der Kritik der Gegenwart und aus der Selbstkritik des eigenen Standpunktes entsteht eine Vorstellung von dem, wie es eigentlich sein sollte. Wünsche und Aufgaben werden erkennbar, die darauf hinführen, um den Zustand des Heute zu verändern und zu verbessern. Das ist die raue Poesie eines konstruktivistischen Idealismus’.

Der Blick zurück hat eine frappierende Wirkung. Die Ereignisse und Prozesse, die am weitesten zurückliegen, sind offenbar am schnellsten verlaufen. Je näher die Erinnerung der Gegenwart kommt, um so langsamer scheinen die Dinge ihren Lauf zu nehmen und genommen zu haben. Diese Zeitdilatation, die die Gegenwart als etwas Zähes wahrnehmen lässt, hat etwas mit dem Verhältnis des Schweren mit dem Licht zu tun, wie Schelling zu den beiden physikalischen, für ihn aber auch metaphysischen Konstituenten des menschlichen Lebens gesagt hätte. Die Distanz zu den Ereignissen lässt sie in einem (anderen) Licht erscheinen, wohingegen die Macht der Schwerkraft mit der Nähe zu unserem eigenen Standpunkt in der Zeit zuzunehmen scheint. Der Fortschritt sei eine Schnecke, hat Günter Grass einmal gesagt.

Die Geschwindigkeit unserer eigenen Zeit scheint in zwei Richtungen zu expandieren. Zum einen unterliegen manche Entwicklungen einer immensen Beschleunigung. Hierzulande scheinen wichtige Prozesse nahezu zum Stillstand zu kommen. Während in China kompromisslos pro Tag eine Stadt entsteht, stagnieren hierzulande auch kleine Reformbemühungen, lahmen wichtige Projekte, fehlt das Geld für „Maßnahmen“ auch minimalen Maßstabs. Auch diese unterschiedlichen Wahrnehmungen der Dauer von Vorgängen resultieren aus einem zentralen Motiv der letzten Industrialisierungsphase, die wir erleben: Die kommunikative Industrialisierung hat die Kenntnisse über die rasche Abfolge von Geschehnissen in der Welt so beschleunigt, dass manche Vorgänge im zugegebenermaßen verwaltungsritenreichen Mitteleuropa wie in Zeitlupe zu passieren scheinen.

Der entscheidende Nachteil der Globalisierung ist der, das wir zuviel wissen. Niemand – selbst der internetresistenteste Zeitungsnerd nicht – kann sich auf die Position zurückziehen, er habe nichts gewusst. Jede natürliche Katastrophe, jedes menschliche Versagen, wird, sobald es ruchbar wird, auf seine Thementauglichkeit geprüft und medial um die Welt verbreitet. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit gebietet eine geringe Halbwertszeit der Themen, sodass auch die größte Hungersnot oder Epidemie nur ein beschränktes Recht auf Verweildauer in den Medien hat.

„Die Politik ist da machtlos“. Man möchte nicht wissen, wie oft die Regierenden diesen Satz jeden Tag still vor sich hin sagen, natürlich, ohne dass ihn ein Wähler hört. Schon die Auswahl der Themen, mit denen sich Politiker überhaupt beschäftigen können, ist durch das Diktat der allüberall erhältlichen Information über alles kaum zu bewerkstelligen. Man muss sich Sisyphus als informierten Menschen vorstellen. Hätte er Zeit, neben dem Balanceakt gegenüber einem immer wieder auf ihn zurollenden Felsen noch Aufmerksamkeit für die Qualität des Steinschliffs oder gar dessen Schöpfer zu erübrigen?

So mancher kann sich inzwischen ein Ende der Architektur, wie wir sie kannten, vorstellen. Die Zeit, in der die nötigen Neuerungen der Gattung von Gebäuden, die damit gemeint ist, ermöglicht werden, erscheint viel zu lang. Die Aufmerksamkeit der Politik ist auf anderes gerichtet, auf die Ökonomie der Produktion, auf die Bewahrung eines Machtgleichgewichts, auf zwei Millionen Elektroautos bis 2020 oder auf die nächste Wahl. Die Entwicklung neuer ökologischer Konzepte, ein anderes Verständnis von Energieeffizienz, eine integrative Stadtbaupolitik, andere Formen der Bürgerbeteiligung oder gar das Recht auf Schönheit machen keine Quote. Die Verbindung von Ökonomie, Ökologie und guter Gestaltung scheint – gleichgültig, ob integral oder konsekutiv betrachtet, ein Luxusthema.

Aber immer dann, wenn dieses Ziel so ganz aus dem Fokus der einst mit einem Glücksversprechen angetretenen Politik gerutscht ist, schlägt die Stunde der Architekten. Zumindest ihre Besten wissen um die Notwendigkeit dieses integralen Denkens; wissen, wie sie unbeholfen sagen, um die Bedeutung der „gebauten Umwelt für die Gesellschaft“; wissen, das man nur da von Glück und Schönheit sprechen kann, wo die Heimat, nicht aber, wo das Konto ist.

Und das ist der eigentliche Wandel im Berufsbild der Architekten: Sie müssen sich – wieder – als politische Spezies, als zoon politikon begreifen, die in einer Zeit der Überforderung der Handlungsbevollmächtigten, die Initiative ergreifen. Wenn die anderen betäubt durch die „normative Kraft des Faktischen“ in Aporie verfallen, müssen sie laut sagen: „So kann es sein“. Sie können sogar zeigen, wie es geht. Denn da, wo die Begriffe fehlen, sind andere Leistungsbilder gegeben: Auch Häuser können politische Argumente für das Bessere sein. Auch wenn sie und ihre Entwerfer es schwer haben, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Aber dieses gesellschaftliche, ureigentlich politische Selbstverständnis der Architekten muss immer wieder neu erworben werden. Dazu gehört das Aushalten aller Widrigkeiten, die die Ausübung des Berufs mit sich bringen mag. Die VOF, der Bundesbauminister, ja sogar der Brandschutz sind nur Begleitphänomene eines höheren Zwecks, dem der Beruf nachgeht. Dazu gehört auch, die kontinuierliche Ignoranz der anderen auszuhalten. Sie sind nicht allein schuld. Im Rückblick lässt sich auch die eigene Sprachlosigkeit und Argumentationsnot erkennen. Aber es lässt sich – in diesem Moment des Innehaltens – auch erkennen, wie die Zukunft aussehen kann und was sich dafür tun lässt – und wieviel man noch an sich selbst tun kann, um der großen Aufgabe immer wieder neu gerecht zu werden. Das und nicht weniger hat Michael Frielinghaus getan, sechs Jahre lang, als Präsident des BDA.

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