Gerd de Bruyn

Form = Funktion

Der (in)diskrete Charme des Frankfurter Wasserhäuschens

Ich will mir die Sache nicht zu leicht machen und darum nicht von der funktionalistischen Architektur sprechen, die sich in der Zeit ihrer programmatischen Zuspitzung besonders kunstreich und stilsicher präsentierte, gleichgültig ob es sich um Bauten der rationalistischen oder organischen Richtung handelte (oder um deren Synthesis). Stattdessen möchte ich mich einem Phänomen widmen, von dem man annehmen wird, es bestehe ausschließlich aus Zweckbauten, auf die das Motto form follows function ohne wenn und aber zutrifft. Ich meine jene possierlichen Verkaufsbüdchen, die in meiner Heimatstadt eine Institution sind und unbeirrt Wasserhäuschen genannt werden, obschon sie die Schilder auf ihren Dächern als „Trinkhallen“ ausweisen.

Aber vielleicht ist es ja anders, als man denkt. Möglicherweise finden wir bei ihnen Indizien für jenes dialektische Verhältnis von Zweck und Form, das die Biologen in der Natur für eine ausgemachte Sache halten. Schon der Morphologe Goethe hatte die Untrennbarkeit von Form und Funktion in die Frage gekleidet, ob der Ochse Hörner hat, um zu stoßen, oder zustoße, weil er Hörner hat? Seit Picasso, der den Stier bei seinen Hörnern packte, weil er sie schön fand, wissen wir, dass es sich um ein ästhetisches Problem handelt, und beginnen zu ahnen, dass das, was in der Natur nicht zu trennen ist, auch in der Architektur nicht immer getrennt werden kann. Fragen wir also, ob es bestimmte Bauformen waren, welche die Vorstellung provozierten, in Kiosken Getränke zu verkaufen, oder ob es eine Geschäftsidee war, welche die Formenvielfalt der Frankfurter Wasserhäuschen erzeugte?

Ein gewisser Adam Jöst aus dem Odenwald, der vor hundert Jahren diese Geschäftsidee entwickelte, hätte uns eine konkrete Antwort darauf geben können. Doch hat ihn niemand danach gefragt. Jöst war darauf gekommen, dass aus den einzelnen Hüttchen, in denen seit Mitte des 19. Jahrhunderts Mineralwasser verkauft wurde, ein profitables und ein soziales Projekt zu machen wäre, wenn er eine regelrechte Wasserhäuschenkette eröffnen würde. Schon nach wenigen Jahren besaß er zwanzig dieser Büdchen, in denen die alkoholfreien Produkte seines Getränkevertriebs zum Verkauf angeboten wurden.

Wasserhäuschen auf dem Ernst-May-Platz, Frankfurt (um 1930), Foto: www.l-11.de

Wasserhäuschen auf dem Ernst-May-Platz, Frankfurt (um 1930), Foto: www.l-11.de

Ein Projekt der Sozialreform war das Ganze deshalb, weil auf diese Weise den Kunden – vornehmlich Arbeiter aus dem Osthafen und den umliegenden Fabriken – das Alkohol trinken abgewöhnt werden konnte. Alkohol, insbesondere Bier, war ja solange „gesund“ gewesen, solange man das Leitungswasser nur durch langes Abkochen trinkbar machen konnte. Zu Adam Jösts Zeiten war es endlich möglich geworden, sauberes Mineralwasser als Sprudel beziehungsweise „Bitzelwasser“ in Flaschen abzufüllen und für einen günstigen Preis abzugeben.

Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gehörten die meisten Wasserhäuschen – von denen es mal 800 in Frankfurt gab – der Jöst GmbH. Hat sich ihr Sortiment auch bis zum heutigen Tag deutlich erweitert, ist von der einstmals stattlichen Zahl nur ein Drittel übrig geblieben. Die meisten halten nur eine Nische oder Gebäudeecke in einem größeren Wohnhaus besetzt. Kenner nennen sie Inhouse-Kioske und unterteilen sie in solche, die wie ein Laden betreten werden können und solche, in die man nicht hinein kann. Am auffälligsten sind die freistehenden Hüttchen, die eigentlichen Wasserhäuschen, die nicht begehbar sind, sondern ihre Waren durch ein Schiebefenster verkaufen.

Weshalb werden sie immer weniger? Zum einen bereiten ähnliche Gründe, die das Sterben der Tante-Emma-Läden bewirkten, dem Wasserhäuschen den Garaus. Zum anderen ist ein Frankfurt entstanden, das mit dem alten nichts mehr gemein hat. Im Vergleich zu ihm ist, was heutzutage im Ost- und Westhafen und dem ehemaligen Güterbahngelände passiert, ein einziges Ärgernis. Ihren frechsten Ausdruck haben die Planungen da angenommen, wo sich der korrekt gekleidete Geldpöbel in Kumpanei mit zwei Himmelsstürmern aus Wien in einem Doppelturm verewigte, der seinen Schatten auf ein Prachtstück wirft: auf Martin Elsässers Großmarkthalle. Der Gemüsehandel, der hier den dunklen Morgenstunden trotzte, wurde ins Umland verbannt, seine Kathedrale von einer Großbank (EZB) übertrumpft; und nicht genug damit, wurde an anderer Stelle – in Sachsenhausen – ein weiteres Wahrzeichen der Stadt, der Henninger-Turm, der fünfzehn Jahre lang das höchste Bauwerk von Mainhattan war, in den Staub getreten.

Das Gesetz des Wandels
Die neue Zeit überzieht Frankfurt mit falschem Prunk und Protz. Und warum? Weil die Städte ihren Bürgern enteignet werden. Den ganz normalen Menschen. Aber wer ist schon normal? Das ist nicht schwer zu beantworten: Einer, der Wochentags nicht ausschläft, zügig aufsteht, die Stube auslüftet, sich wäscht und anzieht oder zuvor seinen Kaffee trinkt, einen kurzen Blick in die Zeitung wirft, auf dem Balkon eine Zigarette raucht, dann in ein Butterbrot beißt, aus dem Haus stürzt und Kurs nimmt auf die nächste U-Bahn-Station. Oder der an den Schläfen leicht ergraute Herr, der im Hof sein Fahrrad aufschließt, aufpumpt und ins Amt radelt, oder die allein erziehende Krankengymnastin, die mit ihrem Söhnchen hintendrauf zum Kindergarten strampelt …

Wie diese Frauen und Männer, jung oder alt, kennt auch das Leben keinen Stillstand und schon gar nicht die Stadt. Wandel ist ihr Gesetz. Doch Börse und Handel geben sich damit nicht zufrieden. Ebenso wenig die Politiker. Sie treiben uns an wie der Steuermann den deutschen Ruderachter. Halten besonnene Geschäftigkeit für Stillstand. Dabei sind doch Fortschritt und Wachstum nur in Medizin und Toleranz vonnöten. Die Medizin sorgt für den inneren, die Toleranz für den äußeren Frieden. Trotzdem sollen wir immer schneller in unseren Hamsterrädern strampeln und die anderen Menschen als Konkurrenten empfinden, denen man davonlaufen und eine Nase drehen muss. So wie die Städte einander davonlaufen. Jede will die erfolgreichste sein. Sogar die Immobilien wollen vom Fleck kommen und taumeln freudig ihrem Abriss entgegen, obschon wir wissen, dass jedes alte Haus, das durch ein profitableres ersetzt wird, einen unersetzlichen Verlust bedeutet.

Kaum zu glauben, dass es einmal öffentliche Orte gab, in denen kein Alkohol, sondern nur billiges Sprudel- und Brausewasser verkauft werden durfte. Es ist aber nicht so, dass ich diesen Zeiten hinterher trauere, deren pädagogischer Ernst so gut mit dem reformerischen Ehrgeiz des Neuen Bauens harmonierte. Mir sind die Zeiten lieber, in denen man ein Einsehen mit den Menschen hatte und es geschehen ließ, dass am Wasserhäuschen auch Männer, die nichts zu tun haben und der häuslichen Einsamkeit entfliehen wollen, mit einer Flasche Henninger oder Binding und einem regengeschützten Stehplatz versorgt wurden. Damals waren die Bierflaschen noch mit einem Bügelverschluss versehen, der aus einer Drahtfeder und einem Porzellanzapfen bestand, der plopp machte, wenn er aufsprang.

Das Wasserhäuschen, einst eine Real-utopie, zieht längst keine Arbeiter mehr an. Es ist zur Anlaufstelle gesellschaftlicher Antipoden geworden. Seine treuesten Kunden rekrutieren sich aus der wachsenden Schar besoffener Tippelbrüder, die vergessen haben, was die eigenen vier Wände bedeuten und Stechuhren. Und sie rekrutieren sich außerdem aus dem Milieu der Vielverdiener. Das sind gut gekleidete und duftende Mittdreißiger und Mittdreißigerinnen, die selbständige Werbegrafiker und Designer sind, vielleicht in der EZB arbeiten gehen und zahlenmäßig ebenfalls mächtig zunehmen. Ihre chaotische Single-Existenz und extensive Arbeitszeit zwingt sie dazu, im Kiosk zur Unzeit einzukaufen – Brot, Käse, Tempos, Whisky, Zigaretten und Salzgebäck fürs abendliche Fernsehprogramm.

Vermutlich ist letzteres der Grund, dass sich seit Mitte der achtziger Jahre eine regelrechte Rettungskultur um das Frankfurter Wasserhäuschen gebildet hat, wobei auch Milieus, die sich an der Vernichtung des alten Frankfurt beteiligen, kräftig mithelfen. Die Gründe dieser Nostalgie sind vielfältiger Natur. Zum einen braucht man die Büdchen. Sie sind die letzte Rettung für diejenigen, denen am Wochenende ein Grundnahrungsmittel fehlt, und letzte Zuflucht für alle, die einsam sind und Kontakt suchen. Wäre der schwatzhafte Dittsche (verkörpert von Olli Dittrich in der gleichnamigen Serie) kein Hamburger, sondern Frankfurter und trüge den Namen Beelzebub (abgeleitet von Matthias Beltz, der leider schon lange tot ist), hätte man als Drehort keine sterile Imbissbude, sondern einen Sachsenhäusener Kiosk „mit Atmosphäre“ gewählt.

Wasserhäuschen sind traditioneller Bestandteil eines Stadtbilds, das auf den ersten Blick von Hochhäusern geprägt ist. Zum Wolkenkratzer-Image Frankfurts bilden sie den denkbar stärksten Kontrast. Nicht nur weil sie winzig sind, sondern weil sie dem herrischen Charakter der Banken und Versicherungen mit bretterbudenhaftem Charme und werbebuntem Lärm zu widerstehen wissen. Unvergleichlich harmloser sind sie als jedes Warentermingeschäft, auch wenn die Kerle, die unter ihren auskragenden Dächern Schutz suchen, sich bisweilen an den Kragen gehen.

Die Harmlosigkeit der Büdchen konterkariert den abweisenden Gestus der verspiegelten Glastürme. Vernichtet der globalisierte Kommerz im großen Maßstab öffentlichen Raum, stellen ihn die Kioske durch lokalen Kommerz im kleinen Maßstab wieder her. Dabei hilft ihnen ihr am Kunden orientiertes Angebot und die Tatsache, dass sie keine fensterlosen Monaden sind, sondern ihr überschaubares enzyklopädisches Innenleben, den nicht zu unterschätzenden Kosmos ihres Warenangebots, wehrlos preisgeben, ja, hingebungsvoll ausfalten mit Hilfe von Drehständern und Auslagen aller Art.

Am Wasserhäuschen reizt außerdem, dass es, sobald es ein freistehendes ist und damit eine urbane Urhütte, eine spannende Bauaufgabe darstellt und dennoch eine architecture without architect ist, ohne dass dies ein Widerspruch wäre. Die Aufgabe oder Gattung, auf die ich anspiele, ist der Pavillon. Er gewinnt unsere volle Aufmerksamkeit, wenn er in einem städtischen Park oder privaten Garten als rundum offenes Gebäude thront, überdacht mit einer schwebenden Kuppel, die uns aus der Ferne zuwinkt. Da so ein Pavillon leicht zu imaginieren und zu bauen ist, setzt er keinen Architekten voraus. Es sei denn, er droht in lustvoller Übertreibung das zu werden, was Adolf Loos einen Misston nannte. Er entstehe unweigerlich, wenn ein Architekt den Frieden der Natur störe.

Christian Friedrich Schuricht, Chinesischer Pavillon, Schloss Pillnitz (1804), Foto: Linear77 (CC BY 3.0 via wikimedia)

Christian Friedrich Schuricht, Chinesischer Pavillon, Schloss Pillnitz (1804), Foto: Linear77 (CC BY 3.0 via wikimedia)

Zugegeben – bei solch professionellen „Störungen“, die von den meisten Menschen sehr bewundert werden, kann ein Laie die Hand im Spiel haben. Das war zum Beispiel beim Chinesischen Teehäuschen im Garten von Sanssouci so, das der Alte Fritz eigenhändig entwarf, um alles weitere dann dem Baumeister Johann Gottfried Büring zu überlassen.

Im Unterschied hierzu waren Entwurf und Ausführung des Chinesischen Pavillons im Garten des Schlosses Pillnitz von vornherein in die Hände eines Architekten gelegt worden. Dass dieses Gebäude weit weniger an Karnevalskerzendunst denken lässt als das friderizianische Karussell, ist Christian Friedrich Schuricht zu verdanken, der schon als Innenarchitekt des Römischen Hauses gewirkt hatte, das zehn Jahre zuvor in Weimar unter Goethes Leitung errichtet worden war.

Riskieren wir den Sprung in die Moderne. 1926 bis 1930 entstand im Rahmen des „Neuen Frankfurt“ die Siedlung Bornheimer Hang von Ernst May und Herbert Böhm. Ob die beiden auch das Wasserhäuschen zu verantworten haben, das auf dem Ernst-May-Platz quasi in der Mitte ihrer Siedlung steht, weiß ich nicht zu sagen. Offenkundig handelt es sich hierbei um keinen Misston. Lästermäuler könnten daher behaupten, es sei ein Beispiel vernakulärer Architektur. Weil wir aber wissen, dass die ästhetischen Diktate des „Neuen Frankfurt“ vor nichts halt machten, gehe ich davon aus, dass zwar nicht der Chef persönlich, wohl aber einer aus seinem Team (Adolf Aßmann?) für den Entwurf dieses Pavillons zuständig war.

Wie lautet also die Antwort auf meine anfangs gestellte Frage? Sie fällt so schlicht aus wie ein Jöst-Hüttchen: Die Form-Funktion-Dialektik der Natur, die besagt, das weder die Form der Funktion noch die Funktion der Form vorausgeht, gilt im Bauen immer dann, wenn eine simple Aufgabe gestellt ist, die professionell bearbeitet werden kann, aber nicht muss. Der Pavillon stellt eine solche Aufgabe dar, die relativ leicht zu bewältigen ist und auf einprägsame Formen rekurriert, die variabel sind und multifunktional.

Wir erinnern uns: In der bürgerlichen Baukunst wurde die Einfachheit zur Leitkategorie. Das Neue Bauen gab sogar vor, keine Kunst mehr zu sein, um die Ästhetik der Einfachheit, die mit dem Natürlichen und Praktischen gleichgesetzt wurde, nur umso perfekter vorzuführen. Wäre die Sache nicht so ernst, könnte man das Frankfurter Wasserhäuschen ein Paradigma nennen – das der Identität von Form und Funktion. Denn daran, dass die Architektur diese Identität bis heute verfehlt, ist allein schuld, dass sie entweder zu formvollendet ist (was leider sehr selten vorkommt) oder, im Normalfall, viel zu formlos ist.

Prof. Dr. Gerd de Bruyn (*1954) studierte Literatur- und Musikwissenschaft, wurde in Soziologie promoviert und war Gaststudent in der Architekturklasse der Frankfurter Städelschule. Seit 2001 ist er Professor für Architekturtheorie und Leiter des Instituts Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart. Gerd de Bruyn war von 2000 bis 2015 Mitglied im Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift. Er lebt und arbeitet in Tübingen und Stuttgart.

Fotos: www.l-11.de / Linear77 (CC BY 3.0 via wikimedia)

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