Buch der Woche: Übernachten in China

Goethe und das Fliegen

Die aktuelle Ausnahmesituation führt inzwischen zu merkwürdigen Situationen. Da will etwa ein Sänger aus Mannheim ein Land, das es seiner Meinung nach in dieser Form gar nicht gibt, vor einem Gericht, das er nicht anerkennt, wegen eines Virus verklagen, das seines Bekundens nach nicht existiert. Dazu viele Likes, viel Kopfschütteln. Oder eine Partei, die sich seit dem Sommer 2015 für Grenzschließungen ausspricht, fordert dieser Tage tatsächlich eine sofortige Öffnung der wegen der Corona-Pandemie geschlossenen Landesgrenzen. Arbeitgeber, die noch vor Jahresfrist Homeoffice für Mitarbeiter ebenso wenig in Betracht zogen wie Meetings digital durchzuführen, merken nach sieben Wochen Kontaktsperre, dass der Laden trotz teils drastischer Einbußen irgendwie weiterläuft und sich sogar Reisekosten und Spesen einsparen lassen. Es sind verwirrende Zeiten.

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Huapengchu

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Huapengchu

Auch, dass das Fliegen ökologisch schädlich ist. Ein Flug von Frankfurt am Main nach Peking und zurück lässt nach Berechnungen von Dirk Notz (Max-Planck-Institut für Meteorologie Hamburg) und seiner Kollegin Julienne Stroeve (National Snow and Ice Data Center Boulder/Colorado) etwa fünf Quadratmeter arktisches Eis schmelzen. Pro Passagier. Aufträge aus China? Fanden trotzdem alle super. Urlaub in Thailand? Auch. Getröstet haben wir uns damit, dass wir ja zuhause immer beim Biosupermarkt einkaufen. Dass der aber die Bildung eines Betriebsrats der eigenen Mitarbeiter torpediert und mit einem Verschwörungstheorien verbreitenden Autor veganer Kochbücher kooperiert – geschenkt.

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Bian Lin

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Bian Lin

Jetzt erkennen viele: Es geht auch ohne die ganze Fliegerei. Mit Goethe könnte man fragen: „Willst du immer weiter schweifen?“ Und nein, möchte man antworten, will man nicht. Denn: „Sieh, das Gute liegt so nah“, wie der Dichterfürst sich selbst antwortete. Allenthalben finden sich nämlich Bücher, die unser Fernweh befriedigen können. Ein wenig so wie früher, als man sich die Ausgaben von Geo oder National Geographic anschaute und in den Aufnahmen ferner Länder schwelgte. Unbenommen: Die aktuelle Situation verlangt den allermeisten Selbständigen immens viel ab. Es geht um Existenzen. Die Abfederungsmechanismen des Staates funktionieren nur bedingt, wenn das Geld nur für Raum- und Nebenkosten verwendet, aber nicht in Nahrungsmittel investiert werden darf. Vielleicht helfen Bücher sogar hier ein klein wenig. Beim Vergessen. Beim gedanklichen Reisen. Bei der Inspiration.

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Bian Lin

Daoming Bamboo Craft Village von Archi-UnionArchitecture Design, Foto: Bian Lin

Ein solches Buch ist das von Christian Schittich in der Edition Detail herausgegebene Buch „Übernachten in China“. Zwanzig Projekte haben Schittich und sein Ko-Autor Frank Kaltenbach zusammengetragen. Allesamt sind sie Hotels oder Herbergen im weiteren Sinne, weit im Land verteilt, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf die südöstlichen und küstennahen Provinzen. Dabei finden sich urbane Projekte ebenso wie ländliche: Auf der einen Seite beispielsweise der Umbau eines alten Lagerhauses in Shanghai von Neri&Hu auf der anderen die Sanierung des Ortes Pingtian durch Wang Weijen Architecture. Die Dimensionen der ausgewählten Projekte sind ebenso vielschichtig wie ihre Lagen. Pittoresk zwischen Bergen am Fluss wie Vector Architects’ Alila Yangshuo Hotel in Guangxi oder rauer wie Amateur Architecture Studio’s Wa Shan Guesthouse, das vor der Kulisse der Großwohnsiedlungen in Hanghzhou selbst zur Landschaft wird.

Yun House Boutique Eco-Resort von Ares Partners + Atelier Liu Yuyang Architects Foto: Tian Fangfang

Yun House Boutique Eco-Resort von Ares Partners + Atelier Liu Yuyang Architects Foto: Tian Fangfang

Wer die internationalen Internet-Portale unseres globalen Dorfs in den letzten Jahren verfolgt hat, wird das allermeiste schon einmal hier oder dort gesehen haben. Die wunderbaren Bilder aber, die kleinen, schön aufgeräumten Strichzeichnungen der Projekte sowie die kurzen und präzisen Texte der beiden Autoren lohnen das Buch in seiner Zusammenstellung dennoch. Wozu da noch fliegen? Wie schrieb Goethe in seinen Erinnerungen weiter: „Lerne nur das Glück ergreifen: Denn das Glück ist immer da.“
David Kasparek

Christian Schittich (Hrsg.): Übernachten in China, 144 S., ca. 140 Abb., Deutsch / Englisch, Hardcover, 39,90, Euro Edition Detail, München 2019, ISBN 978-3-95553-458-5

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