kritischer raum

Edelstein im Lotus

O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main, von Michel Müller, Studio MC, Darmstadt, 2017

Der Frankfurter Ostpark liegt in einem trockengelegten Altarm des Main im Ostend. Der Park erstreckt sich zwischen dem langgezogenen Prallhang des Röderbergs im Westen und dem breiten Gleisbett der Bahnlinie Frankfurt-Hanau im Süden. Neben den Gleisen befand sich schon seit Jahrzehnten, zunächst in Zelten, dann in mehreren Containern, eine Obdachlosenunterkunft, die nach einer verdeckten Recherche des Journalisten Günter Wallraff in die öffentliche Kritik geriet. Wallraff und einer Intervention des Frankfurter Vereins für soziale Heimstätten ist es zu verdanken, dass die behelfsmäßige „Erstaufnahme“ in eine dauerhafte Einrichtung umgewandelt wurde. Den Standort verlegte man vom ursprünglichen Platz direkt neben den Bahngleisen an das Südufer des Ostparkweihers, der den Mittelpunkt der Parkanlage bildet.

In einem aufwendigen Partizipationsverfahren entwickelte der Darmstädter Architekt Michel Müller die Idee zum Bauwerk und seinen Räumlichkeiten. Der Frankfurter Verein, das Grünflächenamt der Stadt, ein Beirat engagierter Bürger und Vertreter der Obdachlosen konnten auf die Ideen- und Gestaltfindung des Bauwerks einwirken. Michel Müller standen überdies die Künstler Heiner Blum und Jan Lotter zur Seite. Für die Wohnräume und ihre Möblierung, die Sanitäranlagen und die Fassadengestaltung wurden Modelle im Maßstab 1 : 1 angefertigt, diskutiert und modifiziert. Nicht ganz so erfreulich wie diese Zusammenarbeit verliefen offenbar Bürgerbeteiligungen, bei denen deutlich wurde, dass nicht alle Ostender die architektonische Manifestation der Obdachlosigkeit in „ihrem“ Park begrüßten.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Die Anlage des Baus erweist sich als Spiegel der Bedürfnisse seiner Klientel. Das zweigeschossige Haus, eine Stahlbetonkonstruktion, entwickelt sich als Mäander um drei Höfe, von denen sich einer zum Park, zwei sich zu den Bahngleisen öffnen. Nach außen gibt sich der Bau geschlossen, aber nicht abweisend. Der Architekt hat die zum Park orientierten Fassaden, die in einer in flachem Zick-Zack geführten Attika münden, mit violett-blau-grünlich changierenden und mit Chromoxyd beschichteten Edelstahlschindeln verkleidet: Das Gebäude ruht im Parkgrün wie eine kostbare Brosche. Das Rautenmuster der Schindelung wird gekontert durch die Fenstersetzungen, die arbiträr auf einem Horizontalraster angeordnet sind. Die Öffnungen wirken weniger wie Fenster in einer Wand, sondern eher wie die raumbildende Perforation eines skulpturalen Körpers. In den nach innen orientierten Zonen wird die Schuppenhaut abgelöst durch sägerauh verwendetes Holz, das eine wärmende Atmosphäre bewirkt. Dieses materiale Wechselspiel gibt dem Bau klar unterscheidbare Zonen, die mit Bedacht der Öffentlichkeit und der Privatheit der Bewohner zugeordnet sind.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Auch der niedrigschwellige Eingang folgt dieser sorgfältigen Zonierung: Das Parkgelände geht unmittelbar in einen Vorhof über, an dem der westliche Flügel des Baus liegt. In ihm sind die dauernd besetzte Rezeption, die Räume der Verwaltung, Beratungsräume, ein Ärzteraum mit Wartezimmer und ein Drückerraum untergebracht. Vom offen und willkommen wirkenden Entrée fällt der Blick unter einem Mäanderarm hindurch in einen der Innenhöfe (Landschaftsplanung: Andreas Lindner), die mit ihrer überschaubaren Dimension, immergrünem Gewächs und steinernen Sitzgelegenheiten einen guten Aufenthaltsort bieten.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Diese Transparenz ist symptomatisch: Die Architektur versucht größtmögliche räumliche Überschaubarkeit. Angsträume oder dunkle Ecken werden vermieden. Offene, aus Stahlgittern konstruierte Treppenhäuser und gedeckte Laubengänge erschließen die Obergeschosse, die genauso wie die Erdgeschosse Wohn- und Schlafräume, Sanitäreinrichtungen und Gemeinschaftsküchen aufnehmen. Von außen zugängliche Vorräume mit Sanitärzellen erschließen jeweils zwei oder drei Zimmer. Das gesamte Angebot der Anlage besteht aus 20 Einzelzimmern, 55 Zweibettzimmern und drei Vierbettzimmern, in denen insgesamt 150 Menschen unterkommen können. Jede Schlafstelle besteht aus einem Alkoven mit Doppelstockbett, einem abschließbaren Schrank und einer Steckdose in Bettnähe zum Aufladen des Mobiltelefons. Jedes Zimmer hat einen Kühlschrank und einen Fernseher. Alles ist äußerst bescheiden dimensioniert, die Ausstattung auf das Mindeste beschränkt, aber gut gestaltet. Jeder Bewohner bekommt einen Chip als Schlüssel zu seinem Zimmer.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Kommen und gehen können, wann man will: Das entspricht der Grundkonzeption der Unterkunft. Das Haus versteht sich zwar als Erstaufnahme, hat aber auch Dauergäste. Die Obdachlosen können hier nur eine Nacht oder mehrere Jahre bleiben. Je nach persönlicher Situation, nach Bedürftigkeit und dem Grad der Assimilationsfähigkeit unterscheiden sich die Bedürfnisse der Menschen, die hier unterkommen. Viele sind alkohol- oder drogenabhängig, nicht wenige haben psychische Probleme oder sind körperlich eingeschränkt, manche sind sozial desorientiert – aber alle dürfen kommen und bleiben, solange ein Bett frei ist. Paare können ein gemeinsames Zimmer beziehen, solange es nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, Menschen mit Abstandsbedürfnis können allein wohnen, sogar Haustiere dürfen mitgebracht werden.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Das Ziel der Einrichtung ist zwar die Vermittlung der Obdachlosen in feste Wohnverhältnisse, aber die mitunter verzweifelten, hoffnungslosen und desorganisierten Situationen, in denen Menschen auf der Straße oft sind, halten viele davon ab, in „normale“ Lebensbahnen zurückzukehren. Hier versucht man, ihnen durch die Gewährung größtmöglicher Freiheit und einen achtungsvollen Umgang gerecht zu werden. Die Unterkunft im Ostpark bietet einen geschützten Raum, in dem alle so sein können, wie sie sind oder sein wollen. Die Möglichkeit, Vertrauen zu fassen, Sicherheit und eine menschenwürdige Unterkunft zu haben, ist für viele der erste Schritt zur Wiedergewinnung der Selbstachtung. Das offene Konzept scheint sich auszuzahlen: Das Maß an offener Aggression im O16 ist im Vergleich mit vergleichbaren anderen Einrichtungen äußerst gering.

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Fotos: Studio MC

Michel Müller / Studio MC, O16, Übernachtungsstätte für Obdachlose, Frankfurt / Main 2017, Foto: Studio MC

Auch der anfängliche Widerwille der „bürgerlichen“ Anlieger scheint einer gewissen Neugier und Akzeptanz gewichen zu sein: Die optisch und atmosphärisch vereinnahmende Wirkung der Schuppenfassade, die die Wertigkeit des Hauses, der Bauaufgabe und der damit verbundenen Menschen ostentativ verdeutlicht, scheint ihre Wirkung zu tun. Wie sehr diese Inklusion gelingt, wird vielleicht ein weiterer, gerade begonnener Bauabschnitt zeigen. Hier sollen – bedauerlicherweise ohne die ikonische Metallfassade von Michel Müller – nach Plänen von HKS Architekten, die schon die Ausführung der bestehenden Anlage betreuten, auch Gemeinschaftsräume und möglicherweise ein Café entstehen, das für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich sein soll.
Andreas Denk

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