Houston, we have a problem

Offene Fläche

Alnatura Campus

Mit dem Jahresthema „Kulisse und Substanz“ nimmt der BDA sich 2019 verstärkt den drängenden Fragen rund um die Themen Ökologie und Verantwortung an. Dabei steht die Diskussion im Vordergrund, welche Maßnahmen uns dabei helfen können, die Effekte des Klimawandels zu gestalten, und welche Eingriffe, Postulate oder Moden nur Kulisse bleiben. Im Dezember letzten Jahres hat der architekt gemeinsam mit dem BDA und dem Deutschen Architektur Zentrum DAZ den Call for Projects „Houston, we have a problem“ gestartet und um Einreichung solch substanzieller Beiträge gebeten. Bis Ende Januar 2019 sind rund 150 gebaute und gedachte Projekte zusammen gekommen. Im Wochentakt stellen wir an dieser Stelle ausgewählte Beiträge vor.

Wenn ein deutschlandweit agierendes Unternehmen wie Alnatura mit seinem ökologischen Selbstverständnis eine neue Firmenzentrale plant und baut, sollten die Ansprüche besondere sein. Mit dem Stuttgarter STUDIO2050 um David Cook, Martin Haas und Stephan Zemmrich (siehe der architekt 2/18, S. 84-87) hat das im südhessischen Bickenbach ansässige Unternehmen einen Partner gefunden, der die Ansprüche an Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit auf bemerkenswerte Art und Weise in Architektur übersetzt hat.

STUDIO2050 haascookzemmrich, Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019, Foto: Roland Halbe

Die Zahlen sind beeindruckend: 55.000 Quadratmeter groß ist der Campus auf dem Areal der ehemaligen Kasernengelände der KelleyBarracks, als offene Bürolandschaft für 500 Mitarbeiter – eine Zahl, die perspektivisch noch vergrößert werden kann – verfügt der „Alnatura Arbeitswelt“ genannte Hauptbau über 13.500 Quadratmeter Geschossfläche, ist gut 90 Meter lang und über 40 Meter breit bei einer Firsthöhe von knapp 19 Metern. Der Bauherr spricht entsprechend stolz vom „größten Bürogebäude aus Lehm“. Denn die Längswände des Hallenbaus werden von Stampflehmelementen gebildet, die Stirnseiten begrenzen große Glasflächen. Gedeckt wird der Bau – als eine Art Hallenhaus 2.0 – von einem Holzdach, dessen asymmetrische Giebelfigur eine offene zentrale Halle über die gesamte Gebäudelänge von oben belichtet.

STUDIO2050 haascookzemmrich, Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019, Foto: Roland Halbe

Zentrales Motiv ist die von Treppen, Brücken und Stegen überspannte Halle. An ihre Außenseite gliedern sich die Arbeitsplätze für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Statt vieler Einzelzimmer an langen Fluren findet sich hier lediglich ein großer Raum. Gearbeitet wird in offenen Arealen, mittels akustisch wirksamer Vorhänge lassen sich Besprechungsräume separieren und Teeküchen von Arbeitsgruppen spontan zu Teamräumen umnutzen. Öffentlichkeit und internes Büro verschwimmen, befindet sich im Erdgeschoss schließlich ein öffentliches vegetarisches Restaurant, das von morgens bis abends und auch am Wochenende geöffnet ist.

In Zusammenarbeit mit Martin Rauch und Transsolar sind die Stampflehmwände entstanden, die die Nord- und Südfassaden bilden. Die 16 je zwölf Meter hohen und selbsttragenden Elemente sind unmittelbar an der Baustelle hergestellt worden. Zum ersten Mal überhaupt kommt hier eine geothermische Wandheizung in Lehmbauwänden zum Einsatz. Zusätzlich verfügen die Wände, für die unter anderem Material aus dem Tunnelaushub des Bahnprojekts Stuttgart 21 wiederverwendet wurde, über eine 17 Zentimeter starke Kerndämmung aus recyceltem Schaumglasschotter. Die graue Energie dieser Wandteile ist nach Angaben der Architekten „praktisch null“. Gemeinsam mit den Betondecken tragen die 69 Zentimeter dicken Wände als Speichermaße wesentlich zum stabilen und ausgeglichenen Temperaturniveau bei, in heißen Sommern hilft die Verdunstungskühlung des Lehms zusammen mit den hohen Räumen, Wärmeinseln im Arbeitsbereich zu vermeiden.

STUDIO2050 haascookzemmrich, Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019, Lageplan, Abb: Studio 2050

Die natürliche Thermik der Halle sorgt für einen Kamineffekt, der eine Entlüftung über das Oberlichtband im Dach regelt. Die entsprechende Frischluft kommt über zwei Erdkanäle ins Haus. Sie saugen die Luft am nahegelegenen Kiefernwald an und temperieren die Frischluft natürlich vor – im Sommer kühler, im Winter wärmer. So kann ganzjährig natürlich belüftet und vollständig auf Ressourcen verbrauchende wie wartungsintensive Klima- und Lüftungsgeräte verzichtet werden.

Eine 478 Quadratmeter große Photovoltaikanlage auf dem Dach erzeugt 90 kWp (Kilowatt peak), 155 Fahrradstellplätze stehen zur Verfügung. Auf dem Campus ist neben zahlreichen Schul- und Erlebnisgärten auf 20.000 Quadratmetern Fläche auch ein Waldorfkindergarten in freier Trägerschaft untergebracht, der auf rund 1.000 Quadratmetern Platz für 88 Kinder bietet und dessen Kosten für die Kinderbetreuung dem städtischen Betreuungssatz entsprechen.

STUDIO2050 haascookzemmrich, Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019, Grundriss 1.OG, Abb: Studio 2050

In dieser Nutzungsmischung und dem holistisch ökologischen Ansatz der Gesamtkonzeption haben die Projektleiter des Baus – Sinan Tiryaki, Elena Krämer und Philip Furtwängler – gemeinsam mit den Bürogründern den Alnatura-Campus zu dem gemacht, was das Wort „Campus“ im ursprünglichen Sinne meint: zu einer offenen Fläche, die von unterschiedlichen Menschen genutzt werden kann und der Stadt einen wichtigen Baustein anfügt.

David Kasparek

Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019
Architekten: haascookzemmrich STUDIO2050, Stuttgart
Projektleitung: Sinan Tiryaki, Elena Krämer, Philip Furtwängler
Bauherr: Alnatura
Energiekonzept: Transsolar, Stuttgart
Lehmbau: Lehm Ton Erde, Schlins, Österreich

Bauphysik: KNP, Köln
Tragwerksplanung: Knippers & Helbig, Stuttgart
Freiraumplanung: Ramboll Studio Dreiseitl, Überlingen

weitere Projekte aus dem Call for Projects „Houston, we have a problem“ können Sie in der Übersicht hier einsehen.

STUDIO2050 haascookzemmrich, Alnatura Campus, Darmstadt 2015–2019, Schnitt, Abb: Studio 2050

Bereits vor zehn Jahren verfassten zahlreiche Verbände – darunter auch der BDA – das Klimamanifest „Vernunft für die Welt“ und thematisierten damit auch eine Selbstverpflichtung, sich für eine Architektur und Ingenieurbaukunst einzusetzen, „deren besondere Qualität gleichermaßen durch funktionale, ästhetische und ökologische Aspekte bestimmt wird“. Auf dem diesjährigen BDA-Tag in Halle an der Saale stellt der BDA am 25. Mai mit dem Papier „Das Haus der Erde“ nun  „Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land“  zur Diskussion.

Im Rahmen des BDA-Tags wird Sinan Tiryaki, Projektleiter des Alnatura-Campus, den Bau vorstellen und mit anderen Architektinnen und Architekten über Architektur in Zeiten des Klimawandels sprechen.

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