Buch der Woche: Das Kotti-Prinzip

Manual für Selbstwirksamkeit

Der ehemalige Berliner Postzustellbereich Südost 36 ist im Laufe der Zeit Bestandteil derart vieler Erzählungen geworden, dass sich die Mythen und Legenden um diesen Teil der Stadt scheinbar verselbstständigt haben. Von Sven Regener in seiner „Lehmann“-Trilogie auf eine Art besungen, die die ganze Bandbreite zwischen hymnischer Verklärung der gemeinsamen Andersartigkeit all jener betont, die die unterschiedlichsten Biografien in diesen Teil der Stadt gebracht haben, ebenso wie sie ihre zynische Abkehr ins Individuelle poetisch auf den Punkt bringt: SO 36 ist bei allem Hype über die Jahre doch eine Art Experimentierfeld städtischen Lebens gewesen. Die Hausbesetzerszene, die Protestbewegung, die sich zu den 1. Mai-Demonstrationen teils gewalttätig Bahn brach, architektonische Konzeptionen wie die IBA Alt der 1980er-Jahre, die Agglomeration von Migrantinnen und Migranten, Touristen – alle haben hier schon ihre Spuren hinterlassen. SO 36 war oder ist Arbeiterbezirk und Szeneviertel, Ghetto und Amüsiermeile, No-Go-Area und Place-to-be – und das teils gleichzeitig.

Das Kotti-Prinzip, Am Kotti

Diese Vielschichtigkeit hat eine der interessantesten städtischen Entwicklungen der letzten Jahre überhaupt erst möglich gemacht. Ohne die Heterogenität in Bevölkerung und Geschichte, ohne das Verständnis von Protestkultur in Kreuzberg hätte es die Initiative „Kotti&Co“ nie gegeben, so die Herausgeber der Studie „Das Kotti-Prinzip“. Die Initiative am Kottbusser Tor, dem „Kotti“, hat sich dem „Recht auf Stadt für alle“ verschrieben (siehe der architekt 6/16, S. 58-61). Der Bereich ist maßgeblich geprägt von der städtebaulichen Rahmenplanung des ehemaligen Berliner Senatsbaudirektors Werner Düttmann. Die Nordseite des von der gleichnamigen U-Bahnstation gekrönten Verkehrsknotenpunkts wird vom Neuen Kreuzberger Zentrum (1969–1974) gefasst, einem Entwurf von Wolfgang Jokisch und Johannes Uhl. Südlich der Skalitzer Straße zeigt sich die Bebauung deutlich heterogener, weist mit der Hochhausbebauung von Wassili Luckhardt (1952–1955) und Herbert Stranz (1973–1977) aber hochgradig interessante architektonische Kinder ihrer jeweiligen Zeit auf.

Das Kotti-Prinzip, Kommunikationsapparat

Christine Bock, Ulrich Pappenberger, Jörg Stollmann haben im Berliner Verlag von Ilka und Andreas Ruby bereits im vergangenen Jahr ein kleines, aber feines klammergeheftetes Duo vorgelegt, das sowohl die Hintergründe des Orts beleuchtet, wie auch die Genese und Wirksamkeit der hiesigen Anwohner*innen-Initiative. Dezidiert legen die Herausgeberin und ihre beiden Mitherausgeber dar, wie viele Wohnungen sich etwa im südlichen Bereich des Areals befinden, zu welchen Quadratmeterpreisen diese als Sozialmietwohnungen vermietet und an wen vergeben werden und welche Verwaltungszuständigkeiten vorliegen.

Schon 2012 lagen die Nettokaltmieten am Kottbusser Tor mit sechs Euro pro Quadratmeter über den vom Jobcenter gewährten „Kosten der Unterkunft“. Eine Verdrängung schien vorprogrammiert, doch die Anwohner wehrten sich: „Wir sind Kreuzberg. Wir wollen bleiben!“ wurde zum Slogan, die Initiative „Kotti&Co“ fand mit dem „Gecekondu“ einen sichtbaren Ausdruck in der Öffentlichkeit und damit einen konkreten Ort zur Aushandlung relevanter Fragestellungen in unserer Stadtgesellschaft. „Gecekondu“ meint im türkischen eigentlich eine informelle Siedlung und lässt sich in etwa mit „über Nacht hingestellt“ übersetzen. Am Kotti ist es ein im Selbstbau realisiertes kleines Gebäude, das Anlaufpunkt für Informationsaustausch innerhalb der Community ebenso ist wie ein Raum für Diskussionen oder die Vermittlung eigener Anliegen nach außen.

Das Kotti-Prinzip, Alltagssapparat

Die schön gestaltete zweiteilige Publikation gliedert sich in einen kleineren Diskurs-Band und einen größeren, der mittels Karten eine Erhebung der Strategien und Zusammenhänge der Akteur*innen vor Ort abbildet. Der kleinere, blaue Band mit Beiträgen von Nishat Awan, Christine Bock, Ulrike Hamann, Yamil Hasbun Chavarría, Andrej Holm, Sandy Kaltenborn, Ulrich Pappenberger und Jörg Stollmann beleuchtet verschiedene Handlungsmöglichkeiten und fächert diese bewusst „im Spannungsfeld von zivilgesellschaftlichem und akademischem Engagement“ auf. Interessant ist dabei unter anderem die positive Konnotation des Begriffs der Komplizenschaft, der für das Buch einen elementaren Stellenwert hat, da er hier im Wortsinn des „gemeinsamen Flechtens“ oder „gemeinsamen Ineinanderfügens“ (lat.: com plectere) verwandt wird. Komplizenschaften werden hier verstanden als aktive vereinbarte Beziehungen, um eine gemeinsames Ziel zu erreichen.

Das Kotti-Prinzip, Kulturapparat: Fußball

Christine Bock, Ulrich Pappenberger und Jörg Stollmann legen Wert darauf, dass es sich eben nicht um eine abschließende und umfänglich-erschöpfende Darstellung handelt, sondern beispielhaft Schlaglichter auf einzelne Bestandteile der jeweiligen Aktionen gerichtet werden. So wird dennoch ein Prozess abgebildet, dessen Zutaten auf den ersten Blick etwas akademisch als „Apparate“ bezeichnet werden. Beim genauen Betrachten ergibt diese Benennung jedoch durchaus Sinn, steht er doch für „die Gesamtheit der für eine bestimmte Aufgabe, Tätigkeit oder Institution benötigten Personen oder Hilfsmittel“. Der Apparat, so die Herausgeber, „versammelt räumlich und verarbeitet zielgerichtet“. So werden im Rahmen dieser Mappings der „Denk- und Dialogapparat“, der „Gestaltungsapparat“, der „Kulturapparat“ und der „Aufmerksamkeitsapparat“ visualisiert. Dabei bezieht sich das Trio stets auf die in den 1980er Jahren entwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie, die etwa durch Bruno Latour, Michel Callon oder John Law aus der Soziologie bekannt sind.

Das Kotti-Prinzip, Denk-Dialog: Konferenz

Die grafisch wunderbar anzuschauenden und inhaltlich prägnant dargestellten, doppelseitigen Axonometrien machen „Kotti & Co“ nachvollziehbar. Das ist nicht nur optisch eine reine Freude, sondern erfährt dahingehend eine Konkretion, als dass die Publikation durch dieses Zusammenspiel zu einer Art Anleitung für ähnlich gelagertes bürgerschaftliches Engagement „von unten“ ist. Orte, Akteure und Handlungen werden ablesbar, genau wie die Zeiträume, die nötig sind, um dem Anliegen in all seiner Vielschichtigkeit Gehör zu verschaffen.

David Kasparek

Christine Bock, Ulrich Pappenberger, Jörg Stollmann (Hrsg.): Das Kotti-Prinzip. Urbane Komplizenschaften zwischen Räumen, Menschen, Zeit, Wissen und Dingen, mit Beiträgen von Nishat Awan, Christine Bock, Ulrike Hamann, Yamil Hasbun Chavarría, Andrej Holm, Sandy Kaltenborn, Ulrich Pappenberger, Jörg Stollmann, 112 S., zahlr. Grafiken, 18,– Euro, Ruby Press, Berlin 2018, ISBN: 978-3-944074-25-2

 

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