Andreas Denk und Uwe Schröder

Romantische Wissenschaft

Ein Gespräch über die Zukunft der Architektur

I Kritik der Wissenschaft

Andreas Denk: Ist die Diskussion um Wissenschaftlichkeit der Architektur möglicherweise architekturimmanent? Könnte es sein, dass es anderen Disziplinen eher unwichtig ist, ob Architektur eine Wissenschaft ist oder nicht? Dass die Frage vielmehr daher rührt, dass sich die Vertreter der Architektur im Kanon der anderen Wissenschaften nicht ernst genommen fühlen? Oder gehen die Anforderungen, die aus Sicht der anderen Wissenschaften an die Architektur zu stellen sind, am Kern der Architektur vorbei?

Uwe Schröder: Es gibt eine Schere zwischen dem, was seitens der Hochschulen als Forderung weitergehender Verwissenschaftlichung an die Architektur herangetragen wird. Zum anderen steckt die Disziplin in der Krise, weil sie mehr und mehr ihre Grundlagen in Frage stellt. Das gilt besonders für die Kerndisziplin des Entwerfens. Was können wir überhaupt noch lehren, was steht uns als verallgemeinerbare Basis noch zur Verfügung? Die Architektur selbst ist eine zusammengesetzte Disziplin. Sie besteht aus Einzeldisziplinen, bei denen sich im Einzelnen ein Grundlagenwissen benennen lässt – wie bei der Architekturgeschichte oder der Gebäudetechnologie. Hier ist der Wissenschafts- und Forschungsbegriff einfacher zu definieren. Insgesamt aber ist zu konstatieren, dass sich die Disziplin Architektur immer mehr von den gesellschaftlich dienenden Grundlagen in eine individualisierte künstlerische verwandelt.

Andreas Denk: Ich denke, Sie gehen zu weit. Man müsste, was weite Teile der gegenwärtigen Architekturproduktion angeht, doch eher von einer Banalisierung unter dem Zwang der Ökonomie sprechen. Der Anteil wirklich künstlerischer Ansätze in der Gesamtproduktion ist eher sehr gering. Die Architektur sitzt vielmehr zwischen mehreren Stühlen: Die Neigung zum Handwerklichen, die Fragen des Materials, dessen Fügung und die Qualität der Ausführung bis ins Detail betrifft, die Tendenz zum Kreativ-Künstlerischen, die sich im Willen zur guten Form und zum guten Raum abbildet, und schließlich das Technische, das mit Fragen der Konstruktion, der Ökologie und mittelbar auch mit der Ökonomie verbunden ist, muss die Architektur unter einen Hut bringen. Dazu kommen natürlich noch erheblich mehr gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Inputs, die ebenfalls angemessen in den Entwurf einfließen können und müssen. Das könnte ein erster Ansatz sein, um zu definieren, dass die Architektur einen wissenschaftlichen Anspruch erheben kann: Nämlich den, dass sie in der Lage ist, diese drei Parameter im Entwurf in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen, zu einem Ausgleich zu führen.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Uwe Schröder: Das ist prinzipiell richtig. Doch klafft hier eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wir stoßen doch ständig auf das Phänomen, dass das Gebaute so wenig auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift.

Andreas Denk: Vielleicht darf man über den Begriff der Wissenschaft in Bezug auf die Architektur noch einmal neu nachdenken. Wir sind immer wieder genötigt – insbesondere im Bereich von Lehre und Forschung – mit dem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbegriff zu hantieren, um einen wissenschaftlichen Anspruch der Architektur zu rechtfertigen. Aber taugen die Methodik und das Selbstverständnis der Naturwissenschaften überhaupt für uns? Vielleicht müssen wir unsere und andere von vornherein multiperspektiv angelegten Disziplinen aus der Systematik der Naturwissenschaften lösen, um ihrem Wissenschafts- und Forschungsbegriff eine neue Bedeutung zu geben.

Eine Person wie Joseph Beuys ist – aus dem Künstlerischen kommend – mit seiner Arbeit zwischen den Disziplinen schlussendlich auch zu einem Kritiker des tradierten Wissenschaftsbegriffs geworden. Er hat seine Arbeit genauso auf Erkenntnisse der Physik und Chemie wie auf die Medizin und Psychologie gestützt und hat mit diesem Kanon an Kenntnissen nicht nur den mangelnden Menschenbezug der tradierten Wissenschaften zur Diskussion gestellt, sondern darüber hinaus versucht, die Kunst als Erfahrungswissenschaft und als Meta-Wissenschaft gleichzeitig zu definieren. Nicht die „Sicherung der Phänomene“, wie die Griechen gesagt hätten, sollte im Fokus der Wissenschaften stehen, sondern der Mensch, auf den jede einzelne dieser Wissenschaften zielen sollte, und deren Intentionen schließlich im Begriff der “Kunst“ zusammenfließen. Das ist erkenntnistheoretisch natürlich interessant, weil Beuys eigentlich damit sagt, dass Erkenntnis immer dann sinnvoll ist, wenn sie auf das Wohl des Menschen zielt.

Uwe Schröder: Dass der naturwissenschaftliche Naturbegriff nicht auf die Architektur anzuwenden ist, erscheint mir allzu sehr als Allgemeinplatz. Man kann ihn allerhöchstens auf kleine Teilbereiche – vielleicht bei der Bauphysik oder bei der Statik – übertragen. Das könnte allerdings wohl für jede einzelne Disziplin gelten: dass sie über einen eigenen Wissenschaftsbegriff verfügen kann. Der Begriff der Wissenschaft ist aber immer sinnvoll, wenn er etwas Verallgemeinerbares beinhaltet, über das man sich verständigen kann, an dem man forschen und zu erweiterten Erkenntnissen vorstoßen kann.

Andreas Denk: Das Gemeinsame der Disziplinen ist schon seit dem scholastischen Denkmodell von These, Antithese und Synthese gegeben. Können wir uns zu Beginn darauf einigen, das alle Ergebnisse einer Wissenschaft jedweden Erkenntnisinteresses dann wissenschaftlich sind, wenn die Bedingungen des Ausgangspunkts klar sind, wenn die Methode, die angewendet wird, nachvollziehbar ist und wenn die Ergebnisse, die die Methode hervorgebracht hat unter Maßgabe der jeweiligen Bedingungen ebenfalls rückverfolgbar und nachvollziehbar sind?

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Uwe Schröder: Dann wäre der architektonische Entwurf methodisch so etwas wie ein physikalischer oder chemischer Versuch.

Andreas Denk: Ja. Im Unterschied zu den meisten Naturwissenschaften kann die Architektur allerdings nicht davon ausgehen, dass die Zustände, die sie untersucht und auf die sie reagiert, immer gleich sind, also die Ergebnisse eines Versuchs unter gleichen Bedingungen immer wieder zum selben Ergebnis führen. Die Vielschichtigkeit des Menschen, seine Gesellschaft, die Kultur, das politische Gemeinwesen versetzen das entwerfende Subjekt in einen Transitraum, in dem die eigene Position und die der anderen immer neu bestimmt werden müssen. Vor und nach jedem neuen Entwurfsvorgang ändern sich durch den fortschreitenden Erkenntnisprozess bestimmte Parameter wie Ort, Funktion, Sozialität und Typ und führen dazu, dass jeder Entwurf sich stets vom vorhergehenden unterscheidet, selbst wenn es sich um dieselbe Aufgabe handelt. Dieser Zustand des Beobachters, der immer wieder durch seine Beobachtung den Zustand des Versuchs beeinflusst, erinnert nicht von ungefähr an die Messzustände der Quantentheorie, die nicht von ungefähr als allgemeine Theorie menschlicher Wahrnehmung dienen könnte. Die Architektur verbindet dabei allerdings empirische und statistische Methoden mit phänomenologischen Ansätzen – und unterscheidet sich in dieser methodischen Mischung von den meisten Natur- und von Gesellschaftswissenschaften.

Uwe Schröder: Dennoch resultiert die Pluralisierung der Architekturproduktion nicht aus einer Verständigung auf einen gemeinsamen Wissenschaftsbegriff, sondern aus immer stärkerer Subjektivität. Wir scheinen uns immer mehr von einer gemeinsamen Übereinkunft zu entfernen als ihr zuzustreben. Wenn es tatsächlich so wäre, dass, wie Sie sagen, die Architektur oder die Künste überhaupt eine Wissenschaft vom Menschen, eine Art Anthropologie wären, dann müssen wir uns fragen, ob es da um einen Wissenschaftsbegriff geht, der allein der Architektur zugehört, oder ob er weitere Disziplinen betreffen könnte.

Andreas Denk: Jetzt lösen Sie sich doch mal von der gebauten Architektur. Bei einem „Berliner Gespräch“ habe ich in diesem Zusammenhang den Begriff der Architektur als Lebenswissenschaft ins Spiel gebracht. Bei dieser Formulierung ging es nicht darum, eine Sonderrolle der Architektur zu propagieren, sondern vielmehr die Erkenntnis zu formulieren, dass zur Behausung des Menschen in seiner Umgebung ein Kanon von Wissenschaften notwendig ist, der unter dem Label der Architektur zusammengeführt werden kann. Dazu gehören die Geistes-, Kultur-, Gesellschafts- und medizinischen Wissenschaften genauso wie gegebenenfalls die Naturwissenschaften, die in ihrem gemeinsamen Wirken auf eine gute Einrichtung des Menschen in der Welt aus sind. Ich würde mit dem Umfang dieses Kanons vielleicht nicht ganz so weit wie Vitruv gehen, habe aber eine gewisse Sympathie für seinen allumfassenden Ansatz, der eigentlich ein ganz anderes, viel weniger spezifisches „Bild“ des Architekten vor Augen hatte als wir es heute haben. Es könnte für das Selbstverständnis und für das angekratzte Image des Architekten unserer Tage von nicht geringer Tragweite sein, sich erneut als die Person zu verstehen, die es fertig bringt, diese unterschiedlichen Erkenntnisse in Gestalt und Raum auszudrücken.

II Der wissenschaftliche Entwurf

Uwe Schröder: Eine besondere Fragestellung verbindet sich jedenfalls mit dem Entwurf, in dem ich immer noch die Kernkompetenz des Architekten sehe. Jedenfalls sind alle anderen Disziplinen innerhalb der Architektur auf den Entwurf ausgerichtet, sollen in ihm aufgehen. Die Wissenschaftlichkeit des Entwurfs wiederum liegt in den Methoden, die man benennen können muss, die man offenlegen kann und die sich dann auch überprüfen lassen. Der Entwurf muss schon im Ansatz begründbar sein und diese Begründbarkeit in jedem einzelnen Schritt immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen. Der Prozess des Entwerfens muss nachvollziehbar sein.

Andreas Denk: Das könnte zumindest eine ehrenwerte Forderung sein…

Uwe Schröder: Das Entwerfen setzt eine Methodenforschung voraus und ermöglicht sie gleichzeitig. Dabei kann Entwerfen wissenschaftlich werden.

Andreas Denk: Aber nicht alles hat eine Letztbegründbarkeit. Der architektonische Entwurf – auch Ihrer – lebt mitunter von einem letzten Rest des Unkalkulierten und des Unkalkulierbaren, von der emotionalen Entscheidung für eine Alternative, vom affirmativ entschiedenen Detail: also von etwas, das wir nicht benennen und schon gar nicht begründen können. Kein Architekt würde so eine Ebene des Entwurfs jemals ausschließen.

Uwe Schröder: Das ist vielleicht der Teil der Architektur, den man nicht zwingend wissenschaftlich betrachten muss. Aber die Methode des Entwerfens ist lehrbar und lernbar. Sie ist – und das könnte architektonische Forschung sein – verbesserbar. Aber das Unaussprechbare darf so bleiben, wie es ist.

Andreas Denk: So war die Position von Claude-Nicolas-Louis Durand vor zweihundert Jahren, der seine Architekturlehre für Ingenieure so systematisch angelegt hat, dass auch dem Nicht-„Akademiker“ ein halbwegs plausibler Entwurf gelingen konnte, ohne dass ihm grobe handwerkliche Fehler passieren mussten. Semper nannte ihn den „Schachbrettkanzler mangelnder Ideen“…

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Uwe Schröder: Das Beispiel Durand ist sehr gut. Wir können bis zu einem gewissen Grad Ideen entwickeln, die Allgemeingültigkeit besitzen. Viel wäre gewonnen, wenn wir das Wissen um solche Grundlagen verbreiten könnten. Wenn sie in der Lehre und in der Anwendung eine Übereinkunft zwischen den Architekten und eine gemeinsame Basis der Architektur darstellen könnten, wäre ein Ziel erreicht: nämlich dass wir zu einer allgemeineren Verständlichkeit und größeren Verbindlichkeit der Architektur und damit zu einer Hebung der Qualität im Hinblick auf die Baukultur kommen könnten.

Andreas Denk: Wenn alle ein ähnliches Werkzeug hätten, das sie in ähnlichem Verständnis einsetzen würden, wären grobe Fehler unwahrscheinlich: Das ist ja sehr pragmatisch. Wissenschaft aber meint mehr, weil sie nicht nur auf die Praxisanwendung zielt, sondern auch die Idee der Forschung umfasst und damit eine Vorstellung von Autonomie verbindet. Hemmt die Verfügbarkeit dieser bewährten und verlässlichen Werkzeuge, die Sie fordern, nicht die Entwicklung auch abweichender Ideen? Und verstößt ein verbindliches und erprobtes Handwerkszeug nicht per se gegen die Idee der Autonomie?

III Typus und Topos

Andreas Denk: Sprechen wir noch einmal über den Entwurf. Wir haben konstatiert, dass neben den nachvollziehbaren Methoden eines Entwurfs auch ein Quentchen des Unwägbaren, des Impulsiven, des Widersätzlichen eine wichtige Rolle für das Gelingen von Architektur spielen kann. Und nicht immer geht ein guter Entwurf aus empirischen Feststellungen hervor. Es gibt auch Geistesblitze, die sich jeder Nachvollziehbarkeit entziehen…

Uwe Schröder: Nun arbeiten gerade die Naturwissenschaften auch nicht nur empirisch. Nicht wenige Ergebnisse der theoretischen Physik beruhen darauf, dass jemand eine gute Idee gehabt hat, die er dann rechnerisch in einer Vielzahl von Versuchen bewiesen hat. Einstein hat die Allgemeine Relativitätstheorie nicht gefunden, weil er ein guter Rechner war. Selbst wenn er ein guter Physiker gewesen wäre, hätte das nicht gereicht, wenn er nicht diese Inspiration, diese Idee gehabt hätte. Das Eigentümliche der Naturwissenschaften ist es, dass sie im Laufe der Zeit diskret geworden sind. Sie und ihre Forschungsgegenstände haben sich im Laufe der Zeit aus unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit entfernt. Sie haben nichts mehr mit unserem täglichen Dasein zu tun.

Das hat zwar eine Berechtigung, aber die Ergebnisse sind nicht geeignet, um uns die Welt zu erklären. Die Architektur kann diesen Weg von Wissenschaften, die sich immer weiter aufsplittern, nicht gehen. Sie kann sich nur Orten und Aufgaben widmen, die mit unserer alltäglichen Wahrnehmungsfähigkeit und unseren Bedürfnissen zusammenhängen. Die Architektur braucht also so etwas wie eine Wissenschaft des Alltäglichen, die unser Dasein in den Grundlagen zu verstehen versucht und daraus architektonische Ansätze ableitet. Die phänomenologischen Ansätze von Jürgen Hasse, der sich auf die Stadt bezieht, oder von Christian Norberg-Schulz, der dem genius loci nachspürt, könnten hier weiterhelfen. Vielleicht ist hier ein Ansatz, der Architektur durch eine neue Herangehensweise wissenschaftlichen Denkens gerecht zu werden.

Andreas Denk: Lässt sich eine Phänomenologie der Architektur, wie Sie sie hier ansprechen, tatsächlich verallgemeinern? Oder tendiert dieser Ansatz nicht wieder dazu, einer individuellen Mythenbildung Vorschub zu leisten, weil ihre Ergebnisse doch wieder nur subjektiv empfunden sind? Wo liegen die Objektivierungsmöglichkeiten der Ansätze von Hasse oder Norberg-Schulz?

Uwe Schröder: Sie gehen von der Annahme aus, dass es so etwas wie Erscheinungsformen gibt, die von allen gleich oder ähnlich wahrgenommen werden können. Architektur muss davon ausgehen, dass es bei ihr um etwas geht, was die Mehrzahl der Menschen betrifft. Die Annahme der Individualität führt nicht dazu, dass wir Grundannahmen machen können, dass wir Regeln aufstellen können, dass wir in aller Unterschiedlichkeit auch etwas Gemeinschaftliches finden können. Aber nur dann ist Architektur noch sinnvoll. Alles andere kann man der Kunst überlassen.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: Wir können feststellen, dass wir es eigentlich nicht mehr mit einer „Sorte“ von Architektur zu tun haben. Es gibt mehrere Arten der Architektur, die oft nur noch sehr wenig miteinander zu tun haben und sich nicht miteinander vergleichen lassen…

Uwe Schröder: Genau. Die Themen, die diesen unterschiedlichen Architekturen unterliegen, sind oft nur noch Surrogate für den eigentlichen Zweck, den die Architektur hat. Wir müssten uns also eigentlich auf eine neue Teleologie der Architektur einlassen: Was ist ihr Zweck, und wie erreichen wir ihn? Das müsste die Gesellschaft gemeinschaftlich und einvernehmlich bestimmen.

Andreas Denk: Glauben Sie daran? Die architektonischen Kulturen der Welt unterscheiden sich in einem Maße, dass wir China, die USA und das gute alte Europa kaum noch zusammenbringen…

Uwe Schröder: Die neue Architektur muss in einer anderen Maßstäblichkeit entwickelt werden. Sie muss zurückfinden zum Lokalen. Der Theoretiker Georg Franck spricht deshalb von Allmenden, von Interessensgemeinschaften, die sich bilden könnten, von „regionalen Freundschaften“, die auch Interesse an der Architektur entwickeln könnten. Diese Architektur könnte dem menschlichen Bedürfnis nach Identität, nach spezifischen Orten gerecht werden.

IV Die Lebenswissenschaft

Andreas Denk: Wir stimmen überein, dass die Architektur nur dann wissenschaftlich sein kann, wenn sie es mit ihren eigenen Mitteln sein darf. Sie kann nicht einfach die Definitionen anderer Wissenschaften übernehmen, sondern muss ihre eigenen Methoden und Techniken so einsetzen, das sie begründbar und nachvollziehbar sind. Nicht die Architektur muss sich den anderen Wissenschaften andienen, sondern der Begriff der Wissenschaft muss sich in Bezug auf die Architektur verändern.

Uwe Schröder: Das ist leicht gesagt. Ich betone nochmals: Wenn wir uns mit dem Wissenschaftsbegriff in der Architektur mitunter schwer tun, hat es sicherlich auch damit zu tun, dass es nicht leicht ist, etwas Verallgemeinerbares zur Architektur aussagen zu können, was schließlich zu ihren Grundlagen gehören soll. Selbst innerhalb der Disziplin besteht darüber keine Einigkeit mehr. Erst wenn von diesen Wurzeln her eine Neubestimmung der Grundlagen kommt, können wir auf dieser Grundlage einen Wissenschaftsbegriff fußen lassen, der einerseits auf Methodensicherheit beruht, andererseits auf der Überprüfbarkeit der Ergebnisse von Entwürfen.

Andreas Denk: Das würde den Verzicht auf jede weitere Diskussion bedeuten. Ich zweifle daran, dass sich diese Einigkeit in Bezug auf gemeinsame Grundlagen wieder herstellen lassen wird. Es sei denn durch eine Katastrophe oder eine Revolution. Wir müssen wenigstens sagen, was aus unserer Sicht der Dinge das Wissenschaftliche der Architektur sein kann.

Uwe Schröder: Eine Wissenschaft der Orte, der Programme, der Aufgaben würde zu einer Topologie und zu einer Typologie der Architektur führen.

Andreas Denk: Das ist mir zu formal. Da waren wir vorhin schon weiter. Der Bedarf und die Bedürfnisse des Menschen und die Möglichkeit der räumlichen Umsetzung oder Entsprechung dieser Bedürfnisse sind es, um die es geht. Das könnte einer der Bausteine einer Wissenschaft der Architektur sein.

Uwe Schröder: Das fasse ich unter dem Begriff der Typologie. Die Wissenschaft der Orte nenne ich Topologie.

Andreas Denk: Aber die beiden Begriffe bedingen doch einander: Orte bilden Typen, und Typen prägen Orte. Das sind beides Parameter, die außerhalb des Menschen entstehen und die wiederum zu den Bedürfnissen des Menschen in einem Verhältnis stehen.

Uwe Schröder: Ich bin sicher, dass wir zuerst die Orte mit ihrem spezifischen Charakter erforschen müssen. Das ist noch lange nicht in ausreichendem Maße geschehen, gerade, wenn es um die Erforschung von Landschaften geht. Das ist nicht nur Aufgabe der Architektur, sondern auch ihrer Hilfswissenschaften. Architektur hat hier wieder einmal eine Syntheseleistung zu vollbringen, indem sie dieses Wissen um Orte im Bauwerk erschließt. Das meine ich mit Topologie. Typologie wiederum soll das leisten, was Sie gerade meinten, nämlich die Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Aber auch das muss wissenschaftlich erschlossen werden.

Andreas Denk: Das erscheint mir sehr rigide und wenig übergreifend. Der handbuchartige Rückzug auf Typus und Topos, wie er heute sehr häufig an unseren Hochschulen gelehrt wird, ist zu wenig. Daraus entsteht zu oft eine Alibi-Architektur, die sich darin sonnt, mit der Analyse von Typ und Ort bereits alles Erdenkliche getan zu haben, um gut zu sein. In Wirklichkeit kann man feststellen, dass es sich meist um mühevolle, fragmentarische Näherungen an eine theo-retische Positionierung der Architektur an einem Ort und in Bezug auf Menschen handelt, die im Entwurf dann häufig zugunsten formaler Lösungen an Bedeutung verlieren.

Uwe Schröder: Die Analyse, von der Sie sprechen, ist bereits der Entwurf. Der Fehler, der oft gemacht wird, ist die Trennung zwischen Analyse und Entwurf.

Andreas Denk: Das, was geleistet werden muss, ist die Integration der unterschiedlichen Betrachtungsebenen: Es geht darum, Analyseergebnisse mit den unterschiedlichen Erkenntnissen aller erdenklichen Hilfswissenschaften unter einen Hut zu bringen, und zwar nicht nacheinander und nach Belieben, sondern indem sie zu einem integralen Ganzen zusammengeführt werden, aus dem schließlich ein Entwurf entsteht, indem sogar die Anteile der jeweiligen Wissenschaften nachvollziehbar sind. In dem Maße, in dem die Architektur mit ihrem Entwurf in der Lage ist, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu integrieren, könnte man, wie ich es vorhin versuchte, von ihr als einer „Lebenswissenschaft“ sprechen. Das würde sie methodisch und teleologisch von den Naturwissenschaften und auch von den Gesellschaftswissenschaften abgrenzen, die diesen umfassenden, menschendienlichen Ansatz nicht mehr vermögen.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Uwe Schröder: Dafür gibt es den Begriff der romantischen Wissenschaft, die die zersplitterten Teilwissenschaften wieder zu einem Gesamtmodell zusammenbringt – so etwas meinen Sie. Die Architektur hätte eine Syntheseleistung zu vollbringen…

Andreas Denk: Genau. So ähnlich, wie es Alexander von Humboldt in seinem „Kosmos“ versucht hat: alle Phänomene zu „sichern“ und gleichzeitig zu einem Gesamtbild zusammenzutragen, das den denkbaren und möglichen Entwurf eines Bildes der Welt abgibt. Und für die Architektur käme hinzu, dass sie eben nicht nur die geistig-technischen Komponenten berücksichtigt, sondern zugleich auch die Versöhnung mit dem Handwerk, also der Fertigung, und der Kunst, also der Phantasie, zu leisten hat und dabei nicht nur reflexiv ist, sondern produktiv wird. Der neue Architekt hätte von Fall zu Fall darüber zu entscheiden, wie und in welchem Maß und mit welcher Methodik die unterschiedlichen Wissenschaften respektive ihre Erkenntnisse zusammengeführt werden müssen, um eine schlüssige Lösung eines Problems zu bekommen: Die verantwortungsvolle und nachvollziehbare Entscheidung über das Maß des Einflusses von Handwerk, Kunst und Technik und ihren jeweiligen Unterkategorien wäre seine Wissenschaft. Dass das Resultat, das aus diesem Abwägungs- und Entwurfsprozess entsteht, schließlich eine metaphorische oder symbolische Form bekommt, die diese vielfältige Zuwendung zum Menschen zum Ausdruck bringt, wäre seine Kunst.

Uwe Schröder: Das würde die Architektur in eine ähnliche Position wie die Philosophie bringen, die als Wissenschaft der Wissenschaften operieren kann. Vielleicht könnte eine solche Wissenschaft der Architektur sogar mit interdisziplinären Teams arbeiten, die gemeinsam mit Architekten die Entstehung von Form und Raum reflektieren und weiterentwickeln könnten. Man könnte Ergebnisse sammeln, zusammentragen und in einem neuen, übergeordneten Kontext zum Raum entwickeln. Das wäre tatsächlich eine wissenschaftlich begründete Forschungsleistung der Architektur…

Andreas Denk: …die dann gewährleistet wäre, wenn sie offenlegte, in welchem Maß und wie die unterschiedlichen Wissenschaften auf den Entwurf eingewirkt haben. Das Haus wird so gleichzeitig zum Produkt handwerklicher, geistiger und künstlerischer Arbeit, bei dem die Anteile der jeweils beteiligten Disziplinen und die Methode ihrer Einarbeitung offengelegt sind.

Prof. Dipl. Ing. Uwe Schröder (*1964), Architekt BDA, studierte Architektur an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung an der RWTH Aachen. Von 2009 bis 2010 war er Gastprofessor an der Università di Bologna, Facoltà di Architettura „Aldo Rossi“. Er ist Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift.

Prof. Andreas Denk (*1959) studierte Kunstgeschichte, Städtebau, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Vor- und Frühgeschichte in Bochum, Freiburg i. Brsg. und in Bonn. Er ist Architekturhistoriker und Chefredakteur der Zeitschrift der architekt des BDA und lehrt Architekturtheorie an der Technischen Hochschule Köln. Er lebt und arbeitet in Bonn und Berlin.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert