Tatort 2/23

Das grüne Gewissen

Gesucht wird wieder ein Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Lösungsvorschläge können per E-Mail (redaktion[at]die-architekt.net) eingereicht werden. Zu gewinnen gibt es wie immer ein Buch. Einsendeschluss ist der 21. Mai 2023.

Wir befinden uns in einer Gegend, die vor allem für wegweisende archäologische Ausgrabungen bekannt ist. Diese sind für den Tatort nur insofern relevant, als er den Fundort in seinem – halboffiziellen – Namen trägt. Die Stadt selbst wird von den zwei Großstädten überstrahlt, die sie in Ost und West gleichsam flankieren. Dabei ist sie die frühere Gründung und zählt zu den ältesten Gemeinden der Region, wobei von der mittelalterlichen Bausubstanz beim großangelegten Umbau der Innenstadt in den 1960er-Jahren viel verloren ging. Damals wichen kleinere Parzellen weitläufigeren Bauten. Etwa eine Dekade später wurde ein alter Milchhof niedergelegt, an dessen Stelle schließlich der Tatort trat.

Foto: Im Fokus (CC BY-SA 4.0)

Das Baugelände direkt am Rande der Altstadt war nicht ohne Herausforderung: Reichlich sechs Meter Höhendifferenz sind auf dem Grundstück zu überbrücken. Für das Mehrzweckgebäude ist das aber möglicherweise eher Segen als Fluch – mehrere abgestufte Volumen überspielen das Gefälle, geben sich auf der Vorderseite als Flachbau, rückwärtig monumental und fügen sich hier wie da gut in die Umgebung. Zugleich tragen sie der Vielzahl an Funktionen Rechnung. Auf etwa 8.000 Quadratmetern finden oder fanden sich Gastronomie, Bibliothek, Kegelbahn sowie große und kleine Veranstaltungsräume. Über all das legt sich ein Gewand intensiver Farbigkeit: Der Ortbeton ist mit grüngestrichenen Fassadenpaneelen verkleidet. Die bewegte Kubatur knickt allenthalben ab und verspringt, das Dach kragt vielerorts wie ein überdimensioniertes Gesims vor die Flucht. Diese abgeschrägten Köpfe sind technisch bedingt: In ihnen ankert das Tragwerk. So konträr heute die Meinungen auch über diese Architektur ausfallen mögen: Sie ist mittlerweile – die Entscheidung fiel 2019 – als zeittypisch denkmalgeschützt.

Dieser Schutzstatus allein hilft indes nicht, sie zu bewahren. Die Jahre als kulturelles Zentrum scheinen gezählt – die Stadt hatte ohnehin vor, das Grundstück neu zu entwickeln; dass wegen der Pandemie der Betrieb zum Erliegen kam, spielt ihr dabei in die Karten. Zumal die Sanierungskosten, infolge jahrelang versäumter Instandsetzung, erheblich sind. Der Abbruch folgt dabei einem größeren Plan: Abermals wird die Innenstadt umgebaut und abermals geht das auf Kosten (diesmal nicht ganz so) alter Bausubstanz. Derzeit lädt eine Petition zum Widerstand ein, die, womöglich auch unter Berücksichtigung der auseinandergehenden Geschmäcker, weniger auf die gestalterische Bravour abhebt, als vielmehr auf die immensen Umweltschäden bei Abriss und Neubau.
Theresa Jeroch

Bei dem Tatort aus Heft 1 / 2023 handelte es sich um das Produktionsgelände des Druckmaschinenherstellers Rotaprint in Berlin Wedding, das 2007 durch die gemeinnützige GmbH ExRotaprint übernommen wurde. Die beschriebenen Bauten wurden von Klaus Kirsten (zum Teil in Zusammenarbeit mit seinem Büropartner Heinz Nather) entworfen und entstanden 1955 bis 1959. Gewinnerin des Buches „Wohnen im Einklang. Strategien zum Bauen im Lärm aus Forschung, Lehre und Praxis“ (Park Books) ist Jana Hoffmann.

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