Gerhard Schulze

Wohnträume werden wahr

Ein soziologischer Blick in deutsche Lebenswelten

 

Die Lautlosigkeit verschenkter Chancen

Um die Wende zum 20. Jahrhundert herum sagte Heinrich Zille, man könne einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt. Er war sozusagen als zeichnender Sozialreporter des Berliner Arbeitermilieus in feuchten, engen und dunklen Behausungen unterwegs, wie wir sie inzwischen weitgehend hinter uns gelassen haben. Heute leben wir mit neuen Defiziten des Wohnens, doch erfordert es geistige Anstrengung, sie überhaupt wahrzunehmen. Sie manifestieren sich nicht als Bedrängnis, vielmehr führen sie die lautlose Existenz verschenkter Chancen. Gegen dieses Schweigen angegangen zu sein, ist das Verdienst meiner Vorredner, die hundert Jahre nach Heinrich Zille darüber nachdachten, was die Überwindung des Elends erst lohnend macht – die Suche nach Glück, die spielerische Selbstentfaltung, das Projekt des schönen Lebens in einem guten Ambiente.

Architektur der Lebenswelt

Der Ort dieses Projekts ist die Lebenswelt. Mit diesem für die Soziologie zentralen Begriff ist alles gemeint, was wir als selbstverständlich akzeptieren und nur dann noch wahrnehmen, wenn es Störungen gibt. Man erkennt die Lebenswelt an ihren Krisen. „Was kommt denn da für ein Lärm von draußen? Ach so, sie reißen wieder mal die Straße auf.“ Die Presslufthämmer kündigen Veränderungen in der räumlichen Dimension der Lebenswelt an.

Doch auf das Räumliche lässt sich die Lebenswelt nicht reduzieren. Zu ihr gehört etwa auch der folgende Satz: „Du bist immer so ein Morgenmuffel, aber heute hast du alarmierend gute Laune – da stimmt doch irgendwas nicht.“ Vielleicht wurde dieser Satz zu Hause gesprochen, vielleicht irgendwo unterwegs. Er spielt auf den sozialen Aspekt der Lebenswelt an, der vom räumlichen zu unterscheiden ist.

Nun könnte es aber sein, dass der Partner am Morgen weniger mürrisch wäre, wenn er sich nicht das Waschbecken mit zwei Schulkindern teilen müsste. Die soziale Dimension der Lebenswelt wird von der räumlichen mitbestimmt, aber auch die räumliche von der sozialen. Ob beispielsweise ein Quartier verwahrlost oder nicht, hängt sowohl von seiner Architektur ab wie auch von der Verantwortung, die Menschen für ihre Wohnumgebung ergreifen.

Lebenswelten entstehen aus dem Zusammenspiel zwischen den Gegebenheiten im Raum einerseits und dem täglichen Umgang damit andererseits. Architekten und ihre Auftraggeber bewirtschaften den Raum als gebaute Konstellation von Chancen und Hindernissen. Indirekt greifen sie damit immer auch in die soziale Dimension der Lebenswelt ein. Zu beneiden sind sie um diese Aufgabe nicht, denn sie müssen dies antizipierend tun, als Prognostiker von Drehbüchern des Alltags, denen sie eine passende Szenerie zur Verfügung stellen sollen. Architektur ist immer auch implizite Soziologie.

Wie heikel dies ist, lässt sich an misslungenen Visionen studieren. Wohnträume werden wahr, und was dann? Ich komme beispielsweise oft an einem ins südliche Dach gefrästen Wintergarten vorbei, in dem ein Ohrensessel steht – ein Platz, der als Paradies gedacht ist, den aber niemand aufsucht. Auch ich würde mich nicht freiwillig hinsetzen. Jeder würde mich sehen, während ich schutzlos dem Anblick der tristen Fassaden gegenüber ausgeliefert wäre und in der Sonne schwitzen müsste, umgeben von Kakteen, denn andere Pflanzen halten es dort nicht aus.

Privatheit und Öffentlichkeit

Dass die Privatsphäre der Wohnung in einen öffentlichen Nahbereich eingebettet ist, merkt man auch innerhalb der eigenen vier Wände auf Schritt und Tritt. Vor die Wahl gestellt, in einem schönen Haus zu wohnen, von dem aus ich auf ein hässliches blicken muss, oder umgekehrt aus dem hässlichen heraus auf das schöne zu schauen, würde ich mich für Letzteres entscheiden.

Architektur kann noch so privat gemeint sein, sie mag die Umgebung noch so sehr ignorieren, es wird ihr doch nicht gelingen, den Wirkungen zu entgehen, die der immer schon vorhandene öffentliche Kontext auf sie ausüben wird, ebenso wie umgekehrt der Kontext jedem neuen privaten Projekt ausgeliefert ist. Privatsphäre und nahe Öffentlichkeit stehen in einem unauflösbaren ästhetischen und lebensweltlichen Verweisungszusammenhang zwischen Synergie und Katastrophe. Ob der privat beauftragte Architekt nun einen Wintergarten ins Dach keilt, ob er die Fenster bodentief oder als schmale Glasbänder in Kopfhöhe plant, ob er die Fassade weiß oder gelb streichen lässt, er setzt immer auch ein Zeichen im Kontext und wird andererseits vom Kontext vereinnahmt. Es ist deshalb ein verhängnisvoller Kategorienfehler, Privatheit und Öffentlichkeit als gegeneinander abschließbare Bezirke zu sehen. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Existenzformen, die gleichzeitig zu uns gehören und sich ständig berühren.

Die Existenzform der Öffentlichkeit ist die wesentlich ältere, ja man kann geradezu sagen: Am Anfang war die Öffentlichkeit. Am Anfang stand das wechselseitige Beobachten, die Neugier auf die anderen, die Verständigung über gemeinsame Ziele, wie Michael Tomasello in seiner Theorie über die Ursprünge der Kommunikation in empirischen Studien der Zeigegesten von Primaten und Kleinkindern herausgearbeitet hat. Diese Zeigegesten setzen etwas voraus, das Tomasello als „geteilte Intentionalität“ bezeichnet. Öffentlichkeit ist ein Verhältnis gemeinsamer Absichten, in das jeder eintreten kann, der die Zeigegesten versteht. Sie manifestieren sich etwa als auf das Trottoir gestellte Caféhaus-Bestuhlung, als Verkehrsschild oder rosafarbener Verputz.

Die Idee der Privatheit konnte erst aufkommen, als Öffentlichkeit hergestellt war. Sie ist dialektisch zu verstehen, als Negation, als Gegenprinzip: niemand sehen zu müssen, von niemand gesehen zu werden, mit niemand in ein gemeinsames Projekt eintreten zu müssen, und bestehe dieses nur im Warten vor einer roten Ampel.

Es mag mit dieser dialektischen Entstehungsgeschichte zusammenhängen, dass Privatheit und Öffentlichkeit oft auseinanderdividiert werden, objektiv etwa im Verhältnis von Vorstädten einerseits und diversen städtischen Funktionsarealen andererseits, subjektiv in privatistischen Wohnträumen unter der Leitidee strikter Abschirmung.

Doch wenn wir Tomasello folgen, gehen Menschsein und Öffentlichkeit Hand in Hand. Die sozialen Netzwerke im virtuellen Raum verdanken ihre Existenz einem universellen Sinn für Öffentlichkeit. Auch im physischen Raum wird dieser Sinn unvermeidlich und ständig angesprochen. Er äußert sich als Neugier oder Genervtsein der Beobachter, und als Eitelkeit oder Scham der Beobachteten.

Ein wohnender Mensch ohne Öffentlichkeit ist ein Insasse, ein herum streifender Mensch ohne Privatheit ist ein Obdachloser. Ein normaler Mensch jedoch will in seiner Lebenswelt beide Sphären vereinen. Ob er es sich nun klar macht oder nicht: Fenster, Haustüren, Gartenzäune, Balkonsichtblenden, Vorhänge und Jalousien sind nicht bloß Absperrungsvorrichtungen. Das sind sie auch, doch das ist nicht alles. Diese Schnittstellen schotten die Öffentlichkeit einerseits ab, stellen andererseits aber auch erst den Kontakt mit ihr her. Menschlich wirken sie dann, wenn sie architektonisch als Schleusen oder Übergangszonen interpretiert werden.

Falsche Träume

Doch was machen wir daraus? „Wohnträume werden wahr“: Mein Thema ist ein Zitat, für das Google 206.000 Suchergebnisse liefert. Die Klicks führen zu Immobilienfirmen, Bauträgern, Architekturstudios, Möbelhäusern, Baustofffirmen, Fertighausfabrikanten und anderen Anbietern, die alle eines gemeinsam haben: die Vorstellung von Wohnkonsum als Höhlenaufenthalt. Wohnen heißt in dieser Semantik Drinsein. Auch das zur Wohnung gehörende Draußen der Gärten, Balkone, Terrassen und Loggien ist als Frischluftbereich von Enklaven kodiert. Aus dieser Sicht ist die konstituierende Bedingung jeder Wohnwelt die Abriegelung. Allein die Grenzsicherungsmaßnahmen ernähren eine ganze Branche. Als Wappentier der Wohnträumenden eignet sich am besten der Nacktmull, ein Spezialist des Innenraums.

Wenn nun Wohnträume wahr werden, sind wir gemäß der Metaphorik von Markt und Werbung im sogenannten Wohnparadies angekommen. Doch was geschieht eigentlich im Wohnparadies? Idealerweise nichts. Das Wohnparadies gilt weniger als Ort einer Tätigkeit denn als optimal ausgestatteter Raum für einen Zustand, den die amerikanische Trendprophetin Faith Popcorn in den neunziger Jahren als cocooning definiert hat, vulgo „Abhängen“, „Akkus aufladen“ oder „Seele baumeln lassen“.

In solchen Idiomen schwingt der Horror des Nacktmulls mit: das Andere, Fremde, Äußere, gegen das sich die Grenzsicherungsmaßnahmen der Wohnwelt richten. Gegenwärtige Wohnträume konstruieren die Öffentlichkeit als stressigen, riskanten und ungemütlichen Topos. Seine Wohnwelt verlässt der Nacktmull mit eingezogenem Kopf, am besten umschlossen vom Auto als Wohnwelt-Shuttle. Als Flüchtender kehrt er in sie zurück.

Nun könnte jemand einwenden: Aber so ist es doch gar nicht! Unsere Fußgängerzonen, unser weltweiter Massentourismus, unsere Eventkultur passen keineswegs zu dieser Beschreibung von uns als agoraphobischen Vermeidern der Öffentlichkeit. Schon gar nicht passen unsere geliebten alltäglichen Bewegungen durch den äußeren Bezirk der Lebenswelt dazu: der Rundgang mit dem Kinderwagen, das Hundeausführen, der leicht voyeuristische und ein wenig klatschsüchtige Quartierspaziergang, die kleinen Besorgungen um die Ecke, das Warten an der Bushaltestelle.

Auf diesen Einwand lässt sich erwidern: Ja genau, das ist der Punkt. Unsere Wohnmodelle, Wohnideale, Wohnträume stehen im Widerspruch zu unserer realen, angeborenen Öffentlichkeitszuwendung. Die marktgängigen Wohnträume inszenieren einen anthropologischen Irrtum. In unseren Phantasien mutieren wir zu Insassen von luxuriösen Gefängnissen, im realen Leben dagegen sagen wir: „Ich muss jetzt mal raus hier, sonst werde ich noch verrückt.“ Hier spricht der Öffentlichkeitssinn. Als Symboltier für unsere lebensweltliche Praxis eignet sich nicht der Nacktmull, sondern die Katze mit ihrer Leidenschaft für die Umgebung. Sie bewegt sich auf imaginären Pfaden durch den Nahbereich wie wir Menschen auf unseren Quartiersgängen.

Phänomenologie der Umgebung

Eine kleine Phänomenologie der Umgebung zeigt uns als territoriale Gewohnheitstiere mit tendenziell kommunistischem Einschlag. Im Idealfall behandeln die Anwohner ihre gemeinsame Umgebung wie eine Allmende. Sie gehört allen. Sie ist ein kollektiver, öffentlicher Ort, dessen Aura nicht nur durch die Nähe zur eigenen Wohnung bestimmt wird, sondern entscheidend auch zu den Wohnungen der Anderen. Was ich im Territorium mache, wird für die anderen zum Ereignis, und umgekehrt. Joggen, Spazierengehen, Stehenbleiben, Sitzen, dies und anderes sind Formen öffentlichen Bewohnens. Die Umgebung wird durch das Handeln der dort wohnenden Menschen erst zu dem, was sie ist.

Doch unser Öffentlichkeitssinn will aufgefordert und eingeladen werden. Auf Abweisungen reagiert er mit Rückzug. Eingeladen fühlen wir uns durch Schönheit, Ruhe, Geschichten, Zielpunkte und Andockstellen für den Körper, abgewiesen durch Kraut-und-Rüben-Architektur, Eintönigkeit, Verwahrlosung, schrille Logos, Graffiti, Farbkatastrophen, Materialsünden, vielbefahrene Straßen, Lärm und soziale Verstöße gegen die Regeln der Allmende.

In Wohnträumen kommt die Umgebung höchstens am Rande vor, chiffriert als Lage. Die Gestaltung der Allmende führt ein Schattendasein auf dem Immobilienmarkt zwischen kryptischen Bebauungsplänen, gutgemeinter Verschandelung, gelegentlichem Gelingen und völliger Ignoranz. Der einzelne Bauherr oder Architekt hat darauf wenig Einfluss, weil die meisten Bauprojekte voneinander isoliert unter der Ägide von Geldgebern und Bürokratien abzuwickeln sind. Kontrollieren kann man immer nur das laufende Projekt, nicht die schon gelaufenen. Man kann ein schönes Haus hinstellen, nicht aber die hässlichen drum herum abreißen. Allenfalls kann man Anblicke geschickt verdecken, statt sie unausweichlich über den Blick aus dem Fenster in die Wohnung zu holen.

Die Umgebung verlangt nach Ensembledenken, der Markt dagegen tendiert zur Individualisierung der Vorhaben innerhalb bürokratisch vorgegebener Gestaltungsmuster, bei denen der Flächenanteil von Gauben an der Gesamtdachfläche wichtiger genommen wird als das Offensichtliche, etwa Straßenbegleitgrün, Sitzbänke, Gehwege, Spielstraßen, Tiefgaragen, Fassadenfarben oder der Winkel, in dem Häuser zueinander stehen. So wurden uns neue Quartiere nach dem geometrischen Muster einer Tafel Schokolade zur größten Selbstverständlichkeit. Was bleibt, sind introvertierte Wohnträume, was fehlt, ist das Ganze.

Anzeichen einer neuen Durchlässigkeit

Im Land der zwei Meter hohen Thujahecken und der heruntergelassenen Rollos greift heute jedoch allmählich eine gewisse Unbefangenheit um sich. Der Privatbereich wird immer weniger optisch dicht gemacht, holländische Sitten machen sich breit. Wenn alle sich ein wenig zuschauen lassen, schaut keiner mehr hin. Das moderate Vordringen der Öffentlichkeit in den inneren Bezirk ist eine kollektive Leistung ohne Anstrengung und Verpflichtung. Man fühlt sich freier dabei und gleichzeitig aufgehoben in einer Gemeinschaft auf Distanz, verbunden im Rhythmus des Privatlebens. Wer das Rollo oben lässt, nimmt diskret am Alltag der Anderen teil und lässt am eigenen Alltag teilnehmen.

Es geht dabei um etwas Allgemeineres. Es geht darum, in der Öffentlichkeit des Nahbereichs ein Geflecht des Austauschs von Vertrauensbekundungen entstehen zulassen. Sich nicht vollständig hinter Sichtblenden zu verstecken, ist nur eine von vielen Formen für das Vertrautwerden von Fremden.

Darin eine Aufforderung zur zwanghaften Selbstveröffentlichung zu sehen, wäre allerdings ein Missverständnis. Zum Vertrauen gehört auch die Wahrung der Distanz. In den ideologischen Kindertagen der Wohngemeinschaften konnte es passieren, dass man als Spießer attackiert wurde, wenn man es wagte, die Klotür nicht offenstehen zu lassen. Die große Familie, in der es keine Geheimnisse gibt, ist kein Modell für Quartiere. Distanzlose, totalitäre Gemeinschaften rauben ihren Mitgliedern die Freiheit und begünstigen Xenophobie.

Alte Zentren

Wohnquartiere können hinterwäldlerisch werden. Diesem Effekt steht hierzulande die Gegenmacht überlokaler Öffentlichkeiten gegenüber. Auf Reisen in den fernen Osten oder in die USA wurde mir die spezifisch Europäische Prägung meiner Wahrnehmung von Siedlungen immer wieder bewusst. Wo ist das Zentrum, habe ich mich oft gefragt, die Kirche, das Rathaus, die Geschäfte und Gaststätten der Mitte? Wo ist jenes in Europa tausendfach wiederholte Arrangement mit der Aura einer gemeinsamen überörtlichen Zone? Wo ist der quartiersferne Teil meiner räumlich-sozialen Lebenswelt?

Von der europäischen Großstadt bis zum Dorf hinunter finden wir die Idee des Zentrums durchbuchstabiert, je nach Siedlungsgröße ergänzt durch Hochkulturtempel wie Theater, Oper und Museen; durch Amtsgerichte, Tiefgaragen und historische Bauten. Die traditionellen Zentren bilden eine Gegenwelt sowohl zum Privaten wie zur näheren Öffentlichkeit der Wohnumgebungen. Wir schätzen sie als Terrain für kleine Fluchten aus der Nähe, für das Bad in Anonymität, für die Sensationen des Unerwarteten und für den Kitzel des Fremdartigen. Wir hängen an dieser Idee, wir kultivieren sie, wir restaurieren jeden alten Stein mit einer von breiten Schichten getragenen Leidenschaft für öffentliche Schönheit und traditionelle Symbolik.

Neue Zentren

Fixiert auf diesen kulturellen Aktivposten haben wir allerdings die Gestaltung der neuen überlokalen Zentren vernachlässigt. Sie finden sich in peripheren Lagen, meist in der Nähe von Autobahnausfahrten – Konglomerate von Supermärkten, Factoryoutlets, Hamburgersalons, Fast-Food-Chinesen, Tankstellen, Erotikcontainern und ähnlichen Angeboten für den Schnellkonsum. Der Mittelpunktcharakter dieser neuen Zentren ist nicht mehr durch ihre Lage im Stadtgebiet definiert, sondern durch die Überkreuzung der Alltagswege tausender Menschen, die jenseits ihrer Wohnumgebungen unterwegs sind.

Diese überlokalen öffentlichen Räume folgen ausschließlich dem Gesetz der instrumentellen Vernunft, wobei drei Gesichtspunkte dominieren: Verbraucherbedürfnisse, Aufmerksamkeitskonkurrenz und Parkmöglichkeiten. Das Resultat sind ästhetisch amorphe Ensembles, immer wieder anders und doch zum Verwechseln ähnlich, so dass sie zur ubiquitären Heimat der mobilen Vielen werden konnten.

Diese öffentlichen Räume der Peripherie wachsen so schnell wie das Gras der grünen Wiesen, auf die sie gesetzt werden. In ihrer Mitte finden wir meist eine Leerstelle, den Großparkplatz. Ihr Genius Loci bleibt auf die funktionalen Imperative des Massenkonsums, der kurzen Wege und der Einhaltung der Straßenverkehrsordnung beschränkt. In den alten Zentren dagegen spüren wir immer noch einen bedeutungsvollen Hauch aus der Tiefe der Zeit.

So strukturiert sich der öffentliche Raum unserer Siedlungen als doppelter Gegensatz: zum einen als Gegensatz zwischen lokalen und zentralen Öffentlichkeiten, zum anderen als Gegensatz zwischen alten und neuen Zentren. Ästhetisch gesehen stellt sich der zweite Gegensatz als Kontrast von wohlüberlegtem Arrangement und wild wuchernder Kontingenz dar, von lesbarer Konstellation in einer vergessenen alten Zeichensprache und zusammengewürfelter Gebäudeanhäufung unter dem Diktat offensichtlicher Zwecke.

Architektonisch gesehen lassen die neuen Zentren noch viel Luft nach oben. Sie demonstrieren den Kernsatz der gestaltpsychologischen Wahrnehmungslehre ex negativo: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wo auch immer, und sei es noch so klischeehaft, dieser Satz berücksichtigt wird, etwa in Wertheim Village ein paar Autobahnausfahrten westlich von Würzburg, wo Giebelfassaden das Shoppingcenter mit einer Prise Spitzweg würzen, strömen Besucher aus allen Teilen der Welt herbei.

Langsamkeit, Aneignung, Ensembledenken

Architektonisch und städtebaulich haben wir alle Chancen, etwas Gutes zu machen, aber zehn Minuten Autofahrt durch ein beliebiges deutsches Siedlungsgebiet genügen, um jede Menge Beispiele für kostspieliges, planvolles Scheitern in bester Absicht zu sammeln. Was kann man dagegen tun? Ich antworte mit drei Stichworten: Langsamkeit, Aneignung, Ensembledenken.

Erstens: Langsamkeit. Träume sind notwendig, aber riskant. Ohne Traum, ohne eine Vision von schöner Lebenswelt und faszinierender Öffentlichkeit bleibt nur platte Funktionalität ohne Lebensweltbezug. Das Ergebnis sind von Kommerzkisten umstandene Großparkplätze, kilometerlange Reihen beziehungsloser Bauten an Verkehrsachsen, austauschbare Wohnregale, verewigt durch gutgemeinte energetische Sanierungen, oder seriell angeordnete Glücksschachteln mit der Anmutung von Baustofflagern. Träume verwehen, doch ihr Ergebnis ist nachhaltig, was sich oft genug als fatal herausstellt. Private Wohnträume können mit einem Ohrensessel im Wintergarten enden, in den sich nie jemand setzt, öffentliche Wohnträume können enden wie Gibellina Nuova auf Sizilien.

Als im Jahr 1968 ein Erdbeben die alte ländliche Siedlung Gibellina in den Bergen von Westsizilien vollständig zerstörte, organisierte der überlebende Bürgermeister Geld und begeisterte eine Gruppe international renommierter Architekten und Künstler für das Projekt Gibellina Nuova. Sie träumten am Reißbrett und setzten ihre Visionen eins zu eins in die Tat um. So entstand zehn Kilometer vom zerstörten Ort entfernt eine kleine futuristische Stadt für das Volk von einmaliger ästhetischer Geschlossenheit. Sie hat alles, wonach sich moderne Öffentlichkeitsträumer schon immer sehnten: Versammlungsplätze, ein riesiges Theater, Boulevards für Arbeiter und Bauern, Großskulpturen, raffinierte Perspektiven und kubistische Wohnhäuser, deren Anordnung das Volk in überschaubare Nachbarschaftskollektive gliedern soll.

Wer sich für moderne Architektur und Stadtplanung interessiert, kann in Gibellina Nuova gar nicht mehr aufhören zu fotografieren. Aber das Volk hatte mit den Stein gewordenen 68er-Träumen nichts im Sinn. Gibellina blieb so leer wie der geisterhafte Ohrensessel im Wintergarten. Auf der wunderbar weitläufigen Piazza Josef Beuys, vor dem entvölkerten Palast der Gemeindeverwaltung, sah ich ein paar Ragazzi mit ihren Inlineskates, streunende Hunde und Grasbüschel zwischen den Steinen.

Komplementär zum schnellen, träumenden Planen brauchen wir Techniken der Verlangsamung. Eine davon ist die Methode der Annäherung: Nicht gleich die ganze bauliche Tatsache vollenden, sondern schrittweise vorgehen und den nächsten Abschnitt erst planen, wenn man sein Verhältnis zum Vorhandenen halbwegs beurteilen kann. Das langsame Bauen und das allmähliche Wachsen von Quartieren haben den ästhetischen und lebensweltlichen Vorteil der Rückbezüglichkeit für sich.

Was aber tun, wenn langsames, selbstreferenzielles Bauen nicht geht? Dann stehen immer noch andere Erscheinungsformen der Langsamkeit zur Verfügung. Eine davon ist Erfahrung. Nach spätestens zehn Jahren ist ein Architekt schon oft genug mit seinen Träumen gescheitert, um nicht mehr zum Opfer von Utopien zu werden, die ihr Versprechen nicht halten. Hier steckt die Langsamkeit nicht im einzelnen Projekt, sondern in der Serie.

Noch mehr gilt dies für eine andere Erscheinungsform der Langsamkeit, für Traditionen. Solche Traditionen kultivieren wir immer noch in den alten europäischen Zentren, während wir sie in den neuen Zentren noch nicht einmal in Spurenelementen ausgebildet haben. Traditionen speichern Desillusionierungen und geben Träumen eine schon bewährte Gestalt. Ein neueres Beispiel dafür scheint mir die Renaissance der Wohnküche zu sein.

Zweitens: Aneignung. Die Verantwortung für gelingendes Wohnen liegt nicht bloß bei den Architekten und Stadtplanern. Wenn sie nach der Fertigstellung abziehen, hängt alles Weitere von den Menschen vor Ort ab. Wie gehen sie mit ihrem Quartier um? In der Fürther Südstadt etwa, wo ich wohne, haben Bauträger, Stadtplaner und Architekten aus einem früheren Militärareal ein Wohngebiet gemacht. Der ehemalige Exerzierplatz ist jetzt ein Park, leerstehende Einzelgebäude verwandelten sich in eine Musikschule, eine Weiterbildungseinrichtung, eine Halle für Veranstaltungen, eine Bäckerei mit Café und Ähnliches. Alles wird intensiv genutzt, der Park zieht Menschen von überall aus der Umgebung an, er ist für alle da und wird nicht von Jugendbanden oder Dealern vereinnahmt. Für Hundebesitzer herrscht Tütenpflicht, die auch weitgehend respektiert wird. Eine Struktur wurde geschaffen, von den Menschen vor Ort angenommen und von der Stadtverwaltung auch nach der Fertigstellung gepflegt.

Als gelungene Aneignung eines jahrzehntelang völlig vernachlässigten Areals ist die Fürther Südstadt ein Beispiel für einen kollektiven städtebaulichen Lernprozess, der in den sechziger Jahren einsetzte, angeregt vor allem durch Alexander Mitscherlichs Buch Die Unwirtlichkeit der Städte, und der sich in kulturpolitischen Konzepten der siebziger Jahre fortsetzte, vorgetragen etwa von Hermann Glaser und Hilmar Hoffmann. Aus dem Leitbild der autogerechten Stadt wurde das öffentlichkeitszugewandte Leitbild der Urbanität. Wir haben die Fähigkeit zur kulturellen Konstruktion lokaler Öffentlichkeit unter Beweis gestellt. Umso mehr irritiert die gedankenlose Öffentlichkeitsvergessenheit vieler ganz neu errichteter Quartiere im festen Griff des „Terrors der Intimität“ (Richard Sennet).

Drittens: Ensembledenken. Was sich hier zeigt, ist ein eklatantes Defizit der Kultivierung der Allmende. Dem soziologischen Begriff der Öffentlichkeit entspricht der architektonische Begriff des Ensembles. Was nun ein gutes Ensemble auszeichnet, ist alles andere als eine Geschmackssache. Ein gutes Ensemble hat Gestaltqualitäten; ein gutes Ensemble ist in Teilen homogen und gleichzeitig ein wenig unregelmäßig; ein gutes Ensemble ist unaufdringlich; und vor allem bietet ein gutes Ensemble Anschlussmöglichkeiten für das Alltägliche.

Wenn es aber so einfach ist, wie können dann schlechte Ensembles überhaupt entstehen? Hier wirken mehrere Ursachen zusammen. Wir haben uns erstens an die erratische Addition heterogener Objekte gewöhnt, die nur für sich gesehen werden und nicht im schon existierenden Kontext. Wir schützen zweitens zwar bestehende Ensembles, lassen es aber dabei bewenden. Neue Baugebiete werden meist von der puren ökonomischen Logik und den Einflüsterungen von Marketingstrategen, Werbeleuten und Marktforschern bestimmt. Drittens fehlt bei der Erschließung neuer Baugebiete eine lebensweltlich und ästhetisch integrierende Instanz, die über die geistige Ausstattung und die planerischen Befugnisse verfügt, um aus dem Aggregat der Teile ein Ensemble zu machen.

Warum aber sorgen die kommunalen Bebauungspläne, die Landesbauordnungen und das Bundesbaugesetz nicht schon längst dafür? Die institutionellen Voraussetzungen sind da, man müsste sie nur im Sinn der Lebenswelt nutzen. Aber das machen wir doch, sagen die Akteure, als ob der Job der Ensembleplanung schon mit der Umsetzung von Abstandsregeln, Brandschutzvorschriften und Umweltauflagen erledigt wäre. Dass der Job damit erst anfängt, ist die leise, unbeachtete Botschaft unserer alten Zentren.

Prof. Dr. Gerhard Schulze (Jahrgang 1944), studierte Soziologie in München und Nürnberg. Es folgte die Promotion zum Dr. rer.pol. sowie die Habilitation für Soziologie an der Universität Nürnberg. Gerhard Schulze ist Professor (em) für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg, Fakultät Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Themenfelder: sozialer und kultureller Wandel, Zeitdiagnosen, Zukunft; Beschreibung sozialer Kontexte und der daran beteiligten Akteure; Methoden der empirischen Sozialforschung; Wissenschaftstheorie und Soziologie der Forschung.

 

Literatur

Arnheim, Rudolf: Die Dynamik der architektonischen Form. Köln 1980.
Benevolo, Leonardo: Die Stadt in der europäischen Geschichte. München 1999.
Ferrara, Paolo G. L.: Gibellina – vergogniamici, tutti. In: Storia e critica 2002. http://www.antithesi.info/testi/
Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a. M. 1968.
Rieniets, Tim: Zur Lage des öffentlichen Raums. In: trans, Nr. 20, 2012.
Schöttker, Detlev: Auge und Gedächtnis. Ästhetik der Architektur. Merkur, Juni 2002.
Schütz, Alfred und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 1979.
Sennet, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Der Terror der Intimität. Frankfurt a. M 1983
Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M. 2011.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert