Houston, we have a problem

Zukunft in den Bergen

Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien

Mit dem Jahresthema „Kulisse und Substanz“ nimmt der BDA sich 2019 den drängenden Fragen rund um die Themen Ökologie und Verantwortung an. Dabei steht die Diskussion im Vordergrund, welche Maßnahmen uns dabei helfen können, die Effekte des Klimawandels zu gestalten, und welche Eingriffe, Postulate oder Moden nur Kulisse bleiben. Im Dezember letzten Jahres hat der architekt gemeinsam mit dem BDA und dem Deutschen Architektur Zentrum DAZ den Call for Projects „Houston, we have a problem“ gestartet und um Einreichung solch substanzieller Beiträge gebeten. Bis Ende Januar 2019 sind rund 150 gebaute und gedachte Projekte zusammengekommen. Im Wochentakt stellen wir an dieser Stelle ausgewählte Beiträge vor.

TU Berlin / CODE | Construction + Design, Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien 2013–2017

Landflucht ist ein globales Problem und verbindendes Element zwischen globalem Süden und den strukturschwachen Regionen Europas. In Bolivien etwa bluten Teile der Hochanden regelrecht aus. Mit El Alto ist am Rande der Hauptstadt La Paz im Laufe der letzten Jahrzehnte eines jener prototypischen Beispiele scheinbar wahllos wuchernder menschlicher Agglomerationen entstanden: Einst Stadtteil von La Paz, zählt die Stadt inzwischen rund 850.000 Einwohner, der Großteil entstammt der indigenen Bevölkerung der Hochanden, drei Viertel der Bewohner sind jünger als vierzig Jahre, Arbeitslosigkeit und verschiedene Folgeformen von Kriminalität lassen sich beobachten. Sowohl als Phänomen des städtischen Wachstums als auch durch die Maßnahmen zur Anbindung der Stadt an das deutlich wohlhabendere La Paz hat El Alto in den letzten rund fünf Jahren weltweit Beachtung gefunden.

Etwas im Schatten dieser Entwicklungen hat sich die Veränderung des knapp 400 Straßenkilometer entfernten Cochabamba vollzogen. Seit Ende der 1970er Jahre hat sich die Bevölkerungszahl dort mehr als verdreifacht: Nach Angaben der letzten Volkszählung lebten 2012 über 630.000 Einwohner in der Stadt, die noch 1976 Bewohner 184.156 zählte. Das fruchtbare Hochtal und die Stadt selbst ziehen die Menschen der umliegenden Regionen an, die Stadt wächst, der ländliche Raum fällt brach, gleichzeitig haben viele der Landflüchtenden kaum eine ernsthafte Perspektive in der Stadt.

TU Berlin / CODE | Construction + Design, Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien 2013–2017

Im Rahmen einer internationalen Kooperation mit der gemeinnützigen Organisation Fundación Cristo Vive Bolivia sowie der Universidad Mayor de San Simón in Cochabamba hat der Lehrstuhl CODE (Construction + Design) von Ralf Pasel an der TU Berlin im Laufe der letzten Jahre ein Projekt initiiert, das versucht, Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Landflucht und seiner Ursachen anzubieten. Rund zwanzig Kilometer außerhalb von Cochabamba, auf 2.800 Metern Höhe, liegt das Dorf Bella Vista. Gemeinsam mit Fundación Cristo Vive Bolivia und Einheimischen planten und realisierten siebzig Studierende der TU Berlin hier ein Internatsgebäude und eine Landwirtschaftsschule.

Die beiden Gebäude bilden mit einem 4.000 Quadratmeter großen Grundstück den „Campus Bella Vista“, der vor Ort bei der Vermittlung eines positiven Zukunftsbildes helfen soll. Hand in Hand mit einheimischen Frauen wurden die Gebäude errichtet, die künftigen Nutzerinnen und Nutzer dabei für weitere Bauaufgaben geschult.

TU Berlin / CODE | Construction + Design, Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien 2013–2017

Das Schulhaus folgt auf einem abgetreppten Betonfundament dem Geländeverlauf und begrenzt das Areal nach Osten. Massive Mauerwerkswände sorgen bei den extremen Temperaturschwankungen, die im Laufe von 24 Stunden mehr als 30°C betragen können, für ein angenehmes Raumklima. Die Backsteine für die Mauern wurden aus Lehm vor Ort handgefertigt, lokaler Bambus findet ebenso Verwendung, wie günstig zur Verfügung stehendes Wellblech. Sechs flexibel nutzbare Klassenzimmer gruppieren sich dabei zu je drei Paaren um je einen gemeinsamen überdachten Hof. Dieses Gespann aus zwei Innen- und einem gedeckten Außenraum lässt sich über Klappschiebewände, die mit Polycarbonatplatten ausgefacht sind, zu einem großen Raumkompartiment verbinden. Die Höfe wiederum stehen mit weiteren Klappschiebeelementen mit dem landwirtschaftlichen Nutzgarten in Verbindung. Diese Öffnungselemente sind mit Bambusstangen gefüttert, die zwar Licht durchlassen, gleichzeitig aber den notwendigen Sonnenschutz bieten. Nach oben abgeschlossen wird dieser eingeschossige Bauteil von einer zweilagigen, hinterlüfteten, wellblechgedeckten Sheddachkonstruktion. Die Doppellagigkeit bietet einen klimatischen Puffer zwischen Innen und Außen, die Sheddächer belichten Höfe und Klassenzimmer von Norden her den ganzen Tag über gleichmäßig und sind durch ihre Ausrichtung zugleich der optimale Platz für die installierte Photovoltaikanlage.

TU Berlin / CODE | Construction + Design, Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien 2013–2017

Ebenfalls eingeschossig, ist das Internat der südöstliche Abschluss des Areals. Seit 2015 in Betrieb bietet es Schülerinnen und Schülern aus abgelegenen Regionen Unterkunft und ist zugleich der Ort für die Verpflegung während der Unterrichtszeiten. Der Grundriss folgt einer klaren Dreiteilung: Zum Feld hin der Wohn- und Gemeinschaftsbereich, eine Pufferzone wird gebildet aus Bädern, Abstellkammer und Schränken, gefolgt von den platzabgewandten Schlafräumen, die über einen ummauerten und nach oben offenen, privaten Außenraum verfügen. Neben der Solaranlage greifen beide Bauteile auf eine gemeinsame neue Kanalisation mit Sammelbecken für Regenwasser, Grau- und Schwarzwasser zurück.

Das Ensemble macht deutlich, dass auch in den entlegenen, agrargeprägten Bergregionen Bildung und damit eine handfeste Zukunft möglich –  und dass die eben nicht in den unübersichtlichen urbanen Agglomerationen mit ihren unbestimmten Berufsaussichten, sondern vor Ort und in der Landwirtschaft liegen kann.

David Kasparek

Campus Bella Vista, Cochabamba, Bolivien 20132017
Architektur: Technische Universität Berlin, Institut für Architektur, Fachgebiet Entwerfen und Baukonstruktion, CODE | Construction + Design, Prof. Ralf Pasel
Bauherr: Fundación Cristo Vive Bolivia
Research und Lehrassistenz: Max Hacke, Franziska Sack, Andreas Skambas, Lorena Valdivia, Anna Wortmann, Johannes Zix
Fotos und Abbildungen: CODE

Status: realisiert

weitere Projekte aus dem Call for Projects „Houston, we have a problem“ können Sie in der Übersicht hier einsehen.

Auf dem 15. BDA-Tag in Halle an der Saale stellten Ralf Pasel und Franziska Sack den Campus Bella Vista vor:

 

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