Arno Lederer

Backstein erscheine als Backstein

Intuition und Farbgefühl

Es ist nicht gut bestellt um die Urteilsfähigkeit, wenn es um Farben im Allgemeinen und um jener von Ziegel im Besonderen geht. Ich bin selbst kein intimer Kenner dieser Materie, wundere mich aber, mit welcher Sicherheit andere, die der Sache noch ferner stehen, zu wissen glauben, was die richtige, was die falsche Farbe sei. Ähnlich geht es einem im Theater oder Konzert, wenn man sich dabei ertappt, das Stück im ersten Anlauf nicht zu verstehen, sei es einfach aus Konzentrationsschwierigkeiten oder einfach, weil die aneinander gereihten Worte oder Noten noch nicht ein Ganzes ergeben. Mehrfaches Hören und Sehen wäre die mindeste Voraussetzung. Aber die Mehrzahl der Zuhörer, für die wie Dich und mich der Stoff zum ersten Male hör- und sichtbar wird, sitzen mit leicht geneigtem Kopf und oftmals geschlossenen Augen da und signalisieren durch Haltung und Mimik, von der Sache sehr viel zu verstehen. Du selbst aber schweifst ab, findest dich in anderen Situationen wieder, in Reisen zu diesem oder jenem Erlebnis, oder, noch schlimmer, zu den bislang unerledigten Notwendigkeiten, die Du zu erledigen bislang unterlassen hast. Dabei geht es ja eigentlich darum, die Struktur der Komposition zu erfassen oder dem Erzählstrang zu folgen. Dies ermöglicht immerhin mit Verständnis und im Abgleich mit dem eigenen Wissen den Einstieg zur Urteilsfindung. Handelt es sich jedoch „nur“ um Farbe, also die Bestimmung des Farbtones, ob Blau, Rot oder Gelb, in dem man dieses oder jenes behandelt wissen will, findet man sich haltlos wie ein Schwimmer im offenen Meer.

Gewiss bedienen sich manche auch hier bestimmter Regeln, die man irgendwann einmal mitgeteilt bekommen hat. So ist es uns schon mehrmals passiert, dass bei der Auswahl von Farben behauptet wurde, Grün und Blau könne man nicht nebeneinander setzen. Wir sagen dann: „Der Liebe Gott habe sich doch etwas gedacht, als er den Himmel blau und die Wiesen grün geschaffen hat“. Das ist natürlich eine schlagende und zugleich läppische Antwort, weil sie mit nichts zu begründen ist. Auch wird man immer wieder belehrt, Schwarz und Weiß seien keine Farben, was ja auch naturwissenschaftlich so sein mag. Aber es ist genau deshalb auch eine Antwort, die von einer Hilflosigkeit im Umgang mit Farben zeugt. Immer, wenn bei Fragen der Gestaltung die Berechenbarkeit Einzug erhält, sind Zweifel angebracht. Auch dann, wenn mit Heftigkeit die Schönheit oder Hässlichkeit bestimmter Farben beschrieben wird. Farben sind Farben und auch wenn wir im physikalischen oder psychologischen Sinne über genügend Erklärungsmodelle verfügen: Es bleibt hoffentlich noch lange ein Rätsel, warum Zuneigung und Ablehnung letztlich unberechenbare Faktoren sind. Und das ist gut so, weil das das Ende emotioneller Erlebnisse sein dürfte, das Ende von Liebe oder Hass. Dann wird es keine Dichtung mehr geben, keine Musik und – keine Architektur.

Doch nun zur Farbe von Ziegelsteinen, die schon bei ihrer ursprünglichen Herstellung im Hoffmannschen Ringofen einem Kreislauf entspringen. In einem runden oder ovalen Ofen in dessen Mitte sich ein Schornstein befindet, werden in vierzehn bis zwanzig Kammern die Rohlinge gebrannt. Es werden jeweils nur einzelne Kammern befeuert, während die verbleibenden Kammern der Trocknung und Kühlung dienen. Durch die Stapelung der Backsteine sind die den Brenngasen zugänglichen Flächen stärker verfärbt als jene, an denen sich die Steine überlappen. Dieser Prozess bedingt, dass kein Ziegel dem anderen gleicht. Jeder ist von seiner Farbigkeit und Struktur her ein Unikat. Deutlicher noch wird diese Einzigartigkeit, betrachtet man die Fassaden alter Backsteinbauten, wie beispielsweise jene des Klosters Chorin in Brandenburg. Schon Theodor Fontane hat hier wahrgenommen, dass Backsteine Geschichten erzählen können: „Kloster Chorin ist keine jener lieblichen Ruinen, darin sich‘s träumt wie auf einem Frühlingskirchhof, wenn die Gräber in Blumen stehen… Wer hier in der Dämmerstunde des Weges kommt und plötzlich zwischen den Pappeln hindurch diesen still einsamen Prachtbau halb märchenhaft, halb gespenstisch auftauchen sieht, dem ist das Beste zuteil geworden, das diese Trümmer, die kaum Trümmer sind, ihm bieten können“. Stundenlang kann man vor einer solchen Fassade verweilen – wie vor einem Gemälde – und in den Spuren der Zeit lesen. Jeder Stein entwickelt im Laufe der Jahre eine eigene Farbigkeit, manche schimmern, von Moos besetzt, grün, andere werden dunkler und wieder andere sehen so aus, als ob ihnen die Zeit nichts anhaben könnte. Auch Verletzungen, die mit neuen Steinen ausgebessert wurden, sind ablesbar und werden nicht vertuscht, sie fügen sich wie selbstverständlich in die Geschichte ein. Ein eigentlich toter Gegenstand wird auf diese Weise lebendig. Und so entsteht aus einem kleinen Unikat ein ganzes Haus und letztlich die Stadt, ohne dass wir den Bezug zu dem Gebauten verlieren, da ja der Maßstab, aus dem alles entstand, uns seit Jahrhunderten vertraut und nicht größer, als von einer Hand zu greifen ist.

Kloster Chorin, Chorin ab 1266; Foto: Arno Lederer

Kloster Chorin, Chorin ab 1266; Foto: Arno Lederer

Jene Backsteine, die aus einer anderen Geschichte entnommen wurden und durch die Zeit schon eine individuelle Farbe erhalten haben, interessieren uns. So haben wir 1996 bei der Katholischen Akademie in Hohenheim die erste Wand aus alten Ziegeln in unseren Entwurf integriert. Bei dieser Art des Bauens wird die Farbe nicht bestimmt, sondern gefunden und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Entscheidendes Stilmittel im Umgang ist die Fuge, die der jeweiligen Wand ihren Charakter verleiht und die alten Steine zu einem neuen Ganzen zusammenfügt. Unser Ansatz ist es nicht, moderne Häuser, die in einem dezidierten Kontrast zu ihrer Umgebung stehen, zu bauen, sondern Häuser, die auf selbstverständliche Weise durch Farbigkeit und Form ihren Platz im Kontext einnehmen. Was liegt näher, wenn es darum geht, am kulturellen Erbe weiterzubauen, als Backsteine zu verwenden, deren Farbe durch ihre Geschichte geprägt wurde. Wozu sollen wir ständig neues Baumaterial produzieren und uns fragen, wie wir charakteristische Gebäude entwerfen können, wenn wir ein Material verwenden können, das aus sich selbst heraus schon Charakter besitzt.

Wir befinden uns derzeit im Wandel von einer auf Produktion ausgerichteten Gesellschaft hin zu einer, deren Ziel es sein wird, Ressourcen und Materialien wiederzuverwerten. Welche Farben werden dabei das Stadtbild prägen? Es ist zu hoffen, dass sich die Farbigkeit von Gebäuden wieder intuitiv aus dem Gesamtkonzept der Architektur herleiten wird und sich nicht zu einem abgetrennten Expertenbereich entwickelt, was bedauerlicherweise aktuell die Tendenz ist. Der vermeintlich letzte Posten freier kreativer Entscheidungsmöglichkeit – die Wahl einer Farbe – ist längst einer rationalen, quantifizierbaren Entscheidungsfindung zum Opfer gefallen. Was zynisch als das Letzte, was uns an kreativem Tun bleibt, bezeichnet wird, unterliegt wie alles beim Bauen unüberschaubaren bürokratisierten und fachspezifischen Vorgaben. Und wer es noch nicht gemerkt hat: Es gibt, wie bei den vielen anderen Fachingenieuren für diese oder jene Schraube, auch einen Spezialisten, der weiß, wann, warum und wie Farbe beim Bauen verwendet werden darf. Und dort, wo der Farbberater noch nicht aufkreuzt, weil das Haus vielleicht nicht so bedeutend oder die Farbe kein virulentes Problem ist, da gibt es wenigstens von Amts wegen Bestimmungen, wie beige das Haus auszusehen hat. Eines aber könnten einem die Farbberater abnehmen: den leidigen Termin der Bemusterung von Ziegeln, insbesondere deren Farbe betreffend. Wenn jener Spezialist dann noch die Farbe nimmt, die man sich selbst ausgedacht hat, könnte er mit beredter Zunge erklären, warum nur die und keine andere Färbung in Frage kommt.

Verdächtig ist, wenn jemand behauptet, er hätte lange Studien getrieben, um zu dieser oder jener Überzeugung gekommen zu sein, es müsse und könne nicht anders als ein graubrauner Brand sein, der zum Einsatz gebracht werden sollte. Die Farbgebung ist eine Sache der Intuition und der Begabung, freilich auch eine der Erfahrung. Oft liegt mir anlässlich einer Farbdiskussion auf der Zunge, jedem Teilnehmer vorzuschlagen, innerhalb weniger Minuten aus mitgebrachten Malkästen eine Farbkomposition aufs Papier zu bringen – nach dem Motto: „Wenn Ihre Skizze besser ist, bestimmen Sie die Farbe“.

Früher und dauernder Umgang mit Farbe sichert nicht nur eine gewisse Erfahrung, sie dient, wie im Übrigen auch das Freihandskizzieren, dem Anlegen einer eigenen, im Kopf befindlichen Bibliothek. Man speichert die Mischungen und deren Ergebnisse im Geist so ab, dass sie, sofern wir mit Farbe später zu tun haben, in Sekundenbruchteilen abgerufen werden können. Dieser Vorgang, den wir unter dem Begriff „Intuition“ subsumieren können, gibt uns gleichzeitig die Flexibilität, sich den zu entwerfenden Gegenstand auch in ganz anderen Farben vorstellen zu können.

Wenn zum Beispiel jemand sagt, er könne sich diese oder jene Farbe nicht vorstellen, so bestätigt er mit seiner Aussage lediglich sein begrenztes Vorstellungsvermögen. Tragischerweise finden solche Anmerkungen ja nicht nur in Bezug auf Farben statt. Unter der Eingeschränktheit der Vorstellungskraft leiden die meisten Diskussionen, wenn es um die Frage geht, wie ein Haus später einmal aussehen soll. Laien greifen in solchen Fällen zum Rettungsring fotorealistischer Visualisierung, was die Sache noch verfänglicher gestaltet. Damit werden scheinbare Realitäten dargestellt, die es so gar nie geben wird. Das betrifft insbesondere die Farbgebung, auch und besonders jene, die, wie etwa bei Ziegelfassaden, durch das Material selbst gegeben sind.

In solchen Fällen ist man schon beim ersten Anblick der eigenen Phantasie beraubt. Man kann sich nur schwer von diesem Bild lösen, weil es nun einmal so realistisch dargestellt ist. Kommt man zu einem späteren Zeitpunkt und wünscht sich beispielsweise an Stelle einer grauen Ziegelfassade eine in Rot, findet man sich vor Barrikaden aus verschiedensten Argumenten wieder. Davon ist die Aussage, so sei es im Verkaufsprospekt dargestellt und deshalb ein einzuklagender Gegenstand, ein übliches Totschlagargument. Mir scheint, mit der zunehmenden Präzisierung von Bildern noch nicht gebauter Objekte gehe eine Verarmung der Vorstellungskraft einher. Die Lust, von Farben zu träumen, weicht einer scheinbaren Objektivierung.

Das Märchen, von dem Louis Kahn noch spricht, weicht einem Tatsachenbericht, der aufgrund scheinbarer Objektivität schon vor dem Ereignis selbst festliegt. Aber das Märchen ist die Voraussetzung für gute Architektur. In einem Brief vom 1. Dezember 1788 schreibt Friedrich Schiller seinem Freund Christian Gottfried Körner unter anderem: „Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit diesen anderen angeschaut werden. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pele-mele herein, und als dann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.“

Man kann gerne einwerfen, das alles habe mit einer seriösen Abhandlung über die Farbe bei Ziegeln nichts zu tun und das Thema sei deshalb verfehlt. Das trifft aus akademischer Sicht tatsächlich zu. Aber ist es nicht merkwürdig, dass durch den enormen Wissenszuwachs, den wir seit Jahren bejubeln und den es tatsächlich in abgespeicherter Form gibt, die Architektur nicht schöner geworden ist? Die Architektur wird, wie die ganze Welt, das wissen wir heute, nur vermeintlich transparenter. Aber ist es nicht so, dass das Gefühl für Farbe zunehmend verblasst?

Prof. Dipl.-Ing. Arno Lederer (*1947), Architekt BDA, studierte von 1970 bis 1976 Architektur an der Universität Stuttgart und an der TU Wien. Nach Mitarbeit in verschiedenen Büros machte er sich 1979 selbstständig – seit 1985 in Bürogemeinschaft mit Jórunn Ragnarsdóttir, ab 1992 mit Marc Oei in Stuttgart. Nach Professuren an der Fachhochschule für Technik in Stuttgart und der Universität Karlsruhe leitet Arno Lederer seit 2005 das Institut für öffentliche Bauten und Entwerfen an der Universität Stuttgart. Er lebt und arbeitet in Stuttgart.

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