Andreas Denk

Bausteine der Stadtgesellschaft

Soziale, ökologische und politische Aspekte des Quartiers

Das Quartier ist das grundsätzliche Ordnungsmodul der Stadt. Es bestimmt die städtische Körnungsgröße und bildet das soziale Feld, in dem Bekanntschaft, Nachbarschaft und Freundschaft – soziale Verbindlichkeit also – entstehen können. Im Quartier, in der überschaubaren Zahl von Häusern, Straßen und Menschen in personaler Verbundenheit, kann Identifikation entstehen, aus der schließlich gegenseitige Verantwortung für Menschen und ihr gemeinsames Habitat entsteht. Der Soziologe Jens Dangschat hat unter dem Stichwort „Habitus des Ortes“ über das Zustandekommen und die Wirkung solch lokaler Werte nachgedacht, die schließlich das „kollektive Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) auch über den Austausch von Anteilen der Quartiersbevölkerung hinaus begründen, das Quartiere in ihrer Substanz und Lebensfähigkeit sichert.(1)

Durch die besondere Sozialität und die vielen Kommunikationsmöglichkeiten, die das Quartier in der Stadt ermöglichen kann, kommt den Vierteln im Kontext der Gesamtstadt besondere Bedeutung zu: Für die vielen gravierenden Probleme, mit denen der Körper der Stadt jetzt und in Zukunft zu kämpfen hat, könnte die Körnungsgröße des überschaubaren Stadtteils einen intensiven Kompetenzaufbau und Erfahrungsaustausch der Bürger ermöglichen, der für die Ausbildung der Quartiere als soziale, ökologische und demokratische Ressource nötig ist. Das 24. Berliner Gespräch widmet sich diesen drei Aspekten des städtischen Quartiers mit der Absicht, aus der kritischen Bestandsaufnahme eine politische Initiative zu entwickeln, die die Zukunft unserer Städte, unserer Gesellschaft und eines gelingenden Lebens in die Zukunft verlängert.

Das Quartier als sozialer Katalysator

Das Quartier als sozialer Katalysator, Foto: onnola (via Flickr / CC BY-SA 2.0)

Quartiere können aufgrund ihrer überschaubaren Bevölkerungszahl, ihres mehr oder weniger homogenen Wohnumfelds, mit Hilfe ihrer Infrastruktur und durch die Versorgung mit Einkaufs- und Dienstleistungsangeboten Formen von Nachbarschaften mit hoher Lebensqualität sein. In den Städten der Gegenwart gewinnt das nahe Wohnumfeld als Wohn- und Lebensraum für eine gemischt strukturierte Bevölkerung, für die Nahversorgung und durch das Angebot von Sport-, Freizeit-, Bildungs-, Ausbildungs- und Pflegeangeboten sowie Versorgungs- und Kontaktstützpunkten immer größere Bedeutung. Der ehrenamtliche Einsatz von Bürgern, ohne den viele notwendige Sozialeinrichtungen heute nicht mehr funktionieren würden, wird vor allem durch das Heimat- und Verantwortungsgefühl der Quartiersbewohner motiviert. Erst persönliche Verbundenheit, also personale Verbindlichkeit und das individuelle Bewusstsein für eine kollektive Verantwortung für das Ganze, erzeugt soziales und politisches Engagement.(2) Die Empfindung sozialer Verantwortung kann sich in der nachbarschaftlichen Sorge um Kinder, Senioren, Kranke und sozial Schwächere niederschlagen und neben der individuellen Sorge bis in den institutionellen Bereich führen: Mittags- und Abendküchen, nachbarschaftliche Hilfen und Dienstleistungen wie Repairshops, Hausaufgaben- und Einkaufshilfen, Haustierfürsorge, private Kindergärten, Formen der Alten- und Krankenpflege beruhen schon jetzt oft wesentlich auf ehrenamtlichem Engagement. Mit der zunehmenden Überforderung der öffentlichen Hand durch die Wohlfahrtspflege bekommt das Ehrenamt, die freiwillige soziale Leistung, eine neue, gesellschaftstragende Bedeutung, die auf politischer Seite erheblich unterschätzt wird. Zentrum dieses ehrenamtlichen Engagements sind die Quartiere, deren Struktur und Infrastruktur diese Form gegenseitiger bürgerschaftlicher Hilfe ermöglichen und erleichtern müssen.

Besonders älteren Mitbürgern bietet das Quartier gleichermaßen gute Voraussetzungen für ihr Engagement wie auch für ein würdevolles Altern in vertrauter Umgebung.(3) Ältere Menschen sind nach empirischen Erkenntnissen weitaus stärker sozial aktiv als es die Öffentlichkeit vielfach wahrnimmt. Integrierte Wohnstrukturen, die ein individuelles und selbstbestimmtes Leben für ältere Menschen mit Hilfe, Pflege- und Unterstützungsbedarf im eigenen Quartier ermöglichen, geben Älteren die Chance, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, in einer Gemeinschaft mit einer stabilen Nachbarschaft zu leben und Formen des Zusammenlebens über die Generationen hinweg erproben zu können. Neue integrative Angebote für „sorgende Gemeinschaften“ stoßen jedoch in Deutschland auf zahlreiche institutionelle Hürden. Vor allem scheint es schwer zu sein, auf Quartiersebene kleinteilig vernetzte Versorgungsstrukturen einzurichten, die notwendige Versorgungs- und Dienstleistungen einschließlich Pflege und Betreuung innerhalb eines Quartiers anbieten.(4)

Das Quartier als ökologische Oase
Die verschiedenen Quartierstypen haben unterschiedliche Potenziale bei der Anwendung von Energieeffizienzkonzepten.(5) Das Zusammenrechnen von energetischen Kenngrößen im Quartierszusammenhang ermöglicht einen unterschiedlichen Umgang mit der Bausubstanz des Bestands und des möglichen Neubaus. Schlecht gedämmte, aber ästhetisch wertvolle Gebäude können anders behandelt werden als durchschnittliche Bauten des Bestands und Neubauten, so dass in der Summe sowohl eine Verbesserung der energetischen Bilanz wie auch eine Bewahrung der architektonischen Besonderheiten und Charakteristika eines Quartiers möglich sind.

Das Quartier als ökologische Oase, Foto: Geoff Peters (via Flickr / CC BY 2.0)

Außerdem können ökologische Strategien und Methoden auf Quartiersebene eingesetzt werden, die auf dem wachsenden Bewusstsein lokaler Gruppen für ökologische Problemlagen aufbauen und eine hohe Chance des effizienten Einsatzes haben. Die Verantwortung für den sorgfältigen Umgang mit materiellen und energetischen Ressourcen lässt sich am besten in einem nachbarschaftlichen Umfeld erreichen, in dem sich – eher als in der Gesamtstadt – durch gute Beispiele breitenwirksame Verbesserungen erzielen lassen.(6) Energieeffiziente Haushalte mit Müllvermeidung und Resteverwertung, Recycling und Upcycling, klimaschonendes Leben und Wirtschaften sind eher durch gute, erfahrbare, nachvollziehbare Beispiele zu vermitteln als durch Regelungsverfahren. Das Quartier mit seinen personalen Beziehungen eignet sich hervorragend als Basis für kleine, überschaubare Experimente und Projekte, die sich bei ihrem Gelingen als anregend zur Nachahmung erweisen können.

Das Quartier als Basis der Demokratie
Die besondere Bedeutung des Quartiers muss sich wahrscheinlich auch in der gesellschaftlich-politischen Konzeption der Kommune ausdrücken. Es fragt sich, ob Quartiere im politischen Geflecht der Stadt eine größere Eigenständigkeit mit eigener politischer Verantwortung in bestimmten Teilbereichen bekommen können, die schließlich zu einer ausgewogenen Repräsentanz engagierter und in ihrem lokalen Rahmen kenntnisreicher und erfahrener Stadtbewohner im kommunalen Parlament führen würde.(7)

Eine gelingende Quartiersstruktur zeigt sich in der Beteiligung breiter Bevölkerungskreise an der stadtplanerischen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Stadtteile. Dahinter steht die Erwartung, durch starkes Interesse am Stadtteilgeschehen und gesellschaftliches Engagement im Viertel auch die politische Beteiligung auf Stadtebene fördern zu können. Quartiersweise ließe sich so also in der gesamten Stadt eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung und damit vielleicht mehr Verantwortungsbewusstsein für die gesellschaftliche Gemeinschaft erreichen.(8)

Das Quartier als Basis der Demokratie, Foto: News Øresund – Peter Mulvany (via Wikimedia / CC BY 2.0)

Dabei ist zu überlegen, ob Quartiere eine partielle Autonomie bei bestimmten, vor allem sie selbst betreffenden kommunalen Vorgängen bekommen können. Das indes hätte eine andere dezentrale politische, organisatorische und ökonomische Struktur der Stadt zur Voraussetzung, die mehr als bisher auf lokales Expertenwissen zurückgreift, ohne regionale und nationale Aspekte der Stadtpolitik außer acht zu lassen.(9) Bislang fehlen jedoch für eine solche Kommunalreform sowohl die räumlichen, ökonomischen wie politischen Gegebenheiten. Erste Ansätze dazu werden nur am Rande der Quartiersbewegung diskutiert und lediglich in ersten Schritten – wie zum Beispiel durch die Berliner L.I.S.T. (Lösungen im Stadtteil, Stadtteilentwicklungsgesellschft mbH) (10) erwogen und im Hamburger Gängeviertel umgesetzt.(11) Eine echte Teilautonomie – wie sie in Kopenhagen in der „Freistadt“ Christiania mit ihrem Plenum (Fællesmøde), Gebietssitzungen (Områdemøde), einer separaten Sozial- und Gesundheitspolitik, Post und Straßenreinigung und der eigenen Währung „Løn“ von den dänischen Behörden geduldet wird (12) –, ist für die Quartiere in der Bundesrepublik nicht in Sicht.

Prof. Andreas Denk (*1959) studierte Kunstgeschichte, Städtebau, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Vor- und Frühgeschichte in Bochum, Freiburg i. Brsg. und in Bonn. Er ist Architekturtheoretiker und -historiker und Chefredakteur dieser Zeitschrift und lehrt Architekturtheorie an der Technischen Hochschule Köln. Er lebt in Bonn und arbeitet in Köln und Berlin.

Anmerkungen
(1) Dangschat, Jens: Symbolische Macht und Habitus des Ortes. Die ‚Architektur der Gesellschaft’ aus Sicht der Theorie(n) sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu, in: Fischer, Joachim / Delitz, Heike: Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2015, S. 311-342.
(2) Vgl. bspw. Becker, Martin: Lebensqualität im Stadtquartier. Evaluationsstudie über die Stadtteil- und Familienzentren in Offenburg, (Diss.), Freiburg 2003.
(3) Vgl. bspw. das umfassende „Rahmenkonzept für eine seniorengerechte Quartiersentwicklung“ des Kreises Mettmann (2013), https://www.mettmann.de/pdf/rahmenkonzept/quartiersentwicklung, Seitenaufruf: 09.01.2020.
(4) Siehe Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik (Hrsg.): Das soziale Quartier – Quartierspolitik für Teilhabe, Zusammenhalt und Lebensqualität, Bonn 2016.
(5) Vgl. Reicher, Christa / Schmidt, Anke: Handbuch Energieeffizienz im Quartier. Clever versorgen, umbauen, aktivieren, Wiesbaden 2020.
(6) Vgl. bspw. Deutsche Umwelthilfe (Hrsg.): Lebenswerte Stadtquartiere durch Umweltgerechtigkeit. Ein Handlungsleitfaden für Zivilgesellschaft und Kommunen. Texte und Redaktion: Elisabeth Gal, Elke Jumpertz, Robert Spreter (DUH), o. O. 2015.
(7) Schnur, Olaf / Drilling, Matthias / Niermann, Oliver (Hrsg.): Quartier und Demokratie. Theorie und Praxis lokaler Partizipation zwischen Fremdbestimmung und Grasroots, Wiesbaden 2019, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26235-8, Seitenaufruf: 09.01.2020.
(8) Kuder, Thomas: Lokale Demokratie, in: Schnur et.al. (wie Anm. 7), S. 29ff.
(9) Vgl. zu Teilaspekten einer „Verantwortungsgesellschaft“: Gohl, Christopher: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 6 – 7, 2001, S. 5ff.
(10) Ausdrücklich gehört es zum Selbstverständnis des Quartiersmanagements von L.I.S.T., sowohl „Vereine, Initiativen und Gremien zu unterstützen, in denen sich Bewohnerinnen und andere an der Quartiersentwicklung interessierte Menschen vernetzen und selbst organisieren“, wie auch „(kommunale) Unternehmen und Einrichtungen vor Ort zu gewinnen, weitere Verantwortung für die Quartiersentwicklung und bestimmte Funktionen zu übernehmen“ (www.list-gembh.de/stadtteilentwicklung/quartiersmanagement, Seitenaufruf: 09.01.2020).
(11) Vgl. den einschlägigen Beitrag in dieser Ausgabe, S. 54-59).
(12) Siehe zuletzt: Sonnenschein, Ulrich: Idealisten, Dealer und Verrückte. Im Zentrum Kopenhagens lebt der Freistaat Christiania nach eigenen Regeln, in: Meißner, Joachim / Mayer-Kahrweg, Dorothea / Sarkowicz, Hans (Hrsg.): Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Frankfurt am Main 2001, S. 296ff., siehe auch: www.christiania.org, Seitenaufruf: 09.01.2020.

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