Jens S. Dangschat

Ort der Integration und Identifikation?

Das Quartier in einer Gesellschaft mit schwindendem Gemeinsinn

Der Zusammenhalt einer Gesellschaft wird immer dann thematisiert, wenn er seitens der bürgerlichen Mittelschichten und der politisch Verantwortlichen als bedroht angesehen wird. Das Thema hat also immer dann Konjunktur, wenn es in die Öffentlichkeit getragen wird und die Mitte der Gesellschaft erreicht hat. Oft sind hierbei jedoch weder statistische Informationen über Armutsentwicklungen oder kritische sozialwissenschaftliche Analysen relevant, sondern eher die Tatsache, dass die Ungehörten zu den Unerhörten werden. Das können radikale Proteste von migrantischen Jugendlichen in der Pariser Banlieu sein, aber auch Montagsdemonstrationen der Pegida oder eben Wahlergebnisse, die zu bislang ungewohnten Koalitionen („Jamaika“ und „Kenia“) führen, um die AfD in Schach zu halten.

Die massive Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 – fälschlicherweise als „Migrationskrise“ bezeichnet – hat in vielen europäischen Ländern eine Integrations- und Identifikationskrise ausgelöst. Wer sind „wir Deutschen“? Was ist „unser Deutschland“? Was ist der erhaltungsnotwendige Kern unseres Selbstverständnisses?

Fenster zum Hinausschauen in die vertraute Umwelt, Foto: Maximilian Liesner

I.
Die Gesellschaft in Deutschland driftet auseinander – geht der Gemeinsinn verloren? Moderne Gesellschaften differenzieren sich immer stärker aus: Veränderte Arbeitsmärkte, eine zunehmende Pluralisierung der Werte, unterschiedliche Interessen von Generationen in einer zunehmend alternden Gesellschaft und die Einschätzung der Bedeutung des Klimawandels tragen dazu bei. Die Ausdifferenzierung nimmt nicht nur in den einzelnen Dimensionen zu, sondern die als bedeutsam wahrgenommenen Bereiche werden zahlreicher, bedingen einander und werden vor allem in der Summe als heraus- und überfordernd wahrgenommen (Braun 2002).

Insgesamt lassen sich vier Dimensionen des Auseinanderdriftens in Deutschland unterscheiden (Dangschat 2015):

Erstens: Sozioökonomische Polarisierung – die gleichzeitige Zunahme an Wohlstand in den Händen Weniger und des Armutsrisikos in einer schleichend zunehmenden Zahl an Haushalten. Neben den Einkommensunterschieden nehmen vor allem die Unterschiede der Vermögen zu.

Zweitens: Soziodemografische Verschiebungen – aufgrund der Verlängerung der Lebenserwartung und niedriger Geburtenraten entsteht in modernen Gesellschaften erstmals das Phänomen „alternder Gesellschaften“ mit erheblichen Folgen für die Renten- (Generationen-Gerechtigkeit), Pflege- und Gesundheitssysteme. Ein weiterer demografischer Prozess ist mit der internationalen Migration verbunden, die seit dem Jahr 2015 zu erheblichen politischen, demokratischen und Werteverschiebungen geführt hat.

Drittens: Soziokulturelle Ausdifferenzierung – mit der Moderne ist auch eine Dynamisierung der Wertestruktur verbunden, die sich vor allem aus Emanzipationsbemühungen und veränderten Anforderungen aus der Arbeitswelt (Digitalisierung) speist. Viele Themen (Euro, Integration von Zugewanderten, Klimawandel, Sexualität, drittes Geschlecht) erweisen sich gerade für konservative Kreise häufig als Überforderung.

Viertens: Sozialräumliche Segregierung – diese drei Dimensionen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung schlagen sich auch im jeweiligen Muster der Raumnutzung sowohl bei der Wohnstandortwahl, als auch bei der Nutzung des öffentlichen Raums nieder. Sind Vermögen und Mietzahlungsfähigkeit schon immer ein Treiber sozialräumlicher Differenzierung gewesen, so treten aktuell mit den sozialen Milieus und Lebensstilen zwei wichtige Dimensionen soziokultureller Ausdifferenzierung hinzu.

Diese strukturellen Prozesse sind Folge und Anlass für weitere Veränderungen, die sich als rechtspopulistische Strömungen, neue soziale Bewegungen, zunehmendes Misstrauen gegenüber Institutionen und Eliten, gesellschaftliche Spaltungen innerhalb grundlegender Überzeugungen oder in demonstrativ gelebten Lebensstilen zeigen. Durch die (a)sozialen Medien und die Berichterstattung darüber innerhalb der „yellow press“ werden diese Prozesse „öffentlich“ und verstärkt.

Arenen als unbestimmter öffentlicher Raum zum anonymen Flanieren, Sehen und Gesehen werden, Foto: Maximilian Liesner

Vor dem Hintergrund auseinanderdriftender Strukturen, von unterschiedlichen Deutungen von „Wahrheiten“ und zunehmender Partikularinteressen stellt sich die Frage, wie breit das Fundament eines Gemeinsinns noch ist und ob der „Kitt der Gesellschaft“ möglicherweise bröckelt. In diesem Kontext bekommt die regionale respektive lokale Ebene eine neue Bedeutung.

II.
Das Quartier als Bezugspunkt für Identifikation und Ort der Integration? Der Mesoebene zwischen den übergeordneten Phänomenen und Regularien der Makroebene und dem Handeln von Menschen auf der Mikroebene wird gerade in schwierigen Zeiten die Rolle des Verbindungsglieds, des Vermittelns und der Problemlösung zugeschrieben. War es in der Diskussion um nachhaltige Entwicklung die Stadt (woraus die lokalen Agenda 21-Initiativen entstanden), so wird dem Quartier diese vermittelnde Rolle bei der Herausforderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zugetraut: Hier gibt es räumlich verankerte Netzwerke, vor Ort wirksame Organisationen und Institutionen, hier kennt man sich, hier gibt es noch die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Identifikation – so heißt es.

Nischen, um sich auch in der Öffentlichkeit an einen sicheren Ort zurückzuziehen, Foto: Maximilian Liesner

Das Umfeld der Wohnung nimmt in Zeiten zunehmender Verunsicherung, Überforderung und Beschleunigung an Bedeutung für die Selbstversicherung und Identifikation zu. Damit steigt aber auch der Anspruch, über die Regeln dort (mit)bestimmen zu können (Fischer 1982). Je länger vor Ort, desto größer das Bedürfnis, dass sich alle nach der ungeschriebenen, aber gelebten Hausordnung zu richten haben. Jeder Fremde, der heute kommt und morgen bleibt, kann dann als potenzielle Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen werden, worauf man sich noch rigider unter Seinesgleichen zurückzieht. By the way, auch die meisten Baugruppen sind hinsichtlich Bildung und Wertvorstellung relativ homogene Rückzugsorte (Schrebergarten 2.0), auch wenn selbstorganisierte Wohnformen wohnungspolitisch zu begrüßen sind.

III.
Die Gratwanderung – Integration von Vielfalt oder „überforderte Nachbarschaft“? Aber: Quartiere sind extrem unterschiedlich und driften hinsichtlich ihrer Potentiale auseinander: die lokale Ökonomie kann unterschiedlich stark, die lokale Politik einflussreich oder schwach und unterschiedlich ausgerichtet, die sozialen Netzwerke können stark und schwach, integrierend oder ausgrenzend, die Wohnbaustruktur homogen oder dispers, gut erhalten oder abgewetzt und die Ausstattung mit Infrastrukturen kann gut oder schlecht sein.

Quartiere können daher Orte sein, an denen Vielfalt integrierend wirkt, aber eben auch Orte, an denen „die Anderen“ als tägliche Zumutung empfunden werden. Daher sollte dem Quartier keine positiv wirkende integrative Kraft per se zugeordnet werden, wie sie vor allem im Diskurs gerade unter Architektinnen und Stadtplanern der „Europäischen Stadt“ und dem öffentlichen Raum zugeschrieben wurde, sondern es sollten die Rahmenbedingungen beachtet werden, die erst in zweiter Linie baulicher oder gar ästhetischer Art sind (Dangschat 2019).

Nach Anhut & Heitmeyer (2000: 54-57) hängt das „ob“ und „wie“ Offenheit gegenüber den Anderen hergestellt, ob Toleranz gelebt werden oder man tatsächlich voneinander lernen kann, weniger von Strukturdaten von Personen / Haushalten ab, sondern von intervenierenden Faktoren vor Ort. Diese sind vor allem die lokale politische Kultur, das lokale Klima, das jeweilige kognitive Selbstverständnis und die Wertvorstellungen der sozialen Gruppen und die daraus abgeleiteten Zielsetzungen und Handlungen vor Ort sowie bestehende soziale Netzwerke und wesentliche Stakeholder, die den sozialen Zusammenhalt als Brücke über wesentliche soziale Gruppen vor Ort herstellen und festigen (Schnur 2003).

IV.

Türen als Verbindung zwischen Privatem und Öffentlichem, Foto: Maximilian Liesner

Nicht nur Brücken, sondern auch Fenster und Türen, Nischen und Arenen, Bühnen und Tribünen, aber auch Zäune und Mauern errichten! Vor allem aus dem kommunitaristischen Diskurs der USA heraus wird empfohlen, die „grenzüberschreitenden“ Kontakte zwischen sozialen Gruppen zu fördern (‚strengthening the weak ties‘; Granovetter 1973) respektive Brücken zu bauen, anstatt sich abzuschotten (Larsen et al. 2004). Das „Brücken bauen ist immer gut“ sollte jedoch relativiert werden, denn Brücken können verbinden, sie können aber auch Orte des konflikthaften Aufeinandertreffens sein. Was sollen Brücken können? Wen sollen sie miteinander verbinden? Was soll die Brücke aushalten? Wie sind die Ufer beschaffen? Diese Fragen stellen sich Ingenieure bereits in der Planungsphase, im Kontext der Sozialarbeit wird meist erst dann darüber nachgedacht, wenn es Konflikte wegen der Brücke gibt (Dangschat 2016).

Stadt ist immer Ort partieller Integration gewesen, das heißt als Stadtbewohner ist man frei, den Kontakt zu anderen anlassbezogen, vorübergehend und unverbindlich einzugehen (Bahrdt 1961). Dazu sind Brücken viel zu starr und monofunktional. Städtebau und Architektur haben aber mehr Möglichkeiten, um die Bühnen der Kommunikation flexibel nutzbar zu gestalten. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass es für ein tolerantes Miteinander in Vielfalt bedeutend ist, den Abstand zu „den Anderen“ selbstbestimmt wählen zu können, ohne sich rechtfertigen zu müssen (Güntner & Dangschat 2019). Eine „aufgezwungene Nähe zum Fremden“ wird immer mit Widerstand beantwortet werden.
Lasst uns also in eine zunehmend vielfältigere Stadtgesellschaft bauen: Fenster (zum Hinausschauen in die vertraute Umwelt mit der sicheren eigenen Wohnung im Rücken, wo auch die Vorhänge zugezogen werden können), Türen (als Verbindung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zum Herausschreiten auf die Bühne), Nischen (um sich auch in der Öffentlichkeit an einen sicheren Ort zurückziehen zu können, umgeben mit Vertrautem), Arenen (als unbestimmter öffentlicher Raum zum anonymen Flanieren, Sehen und Gesehen werden), Bühnen (um in ein Drehbuch eingebunden und expressiv agieren zu können – im Dialog mit Anderen) und Tribünen (um das Spektakel zu betrachten, ohne aktiv eingebunden zu sein, Beifall zu klatschen oder mit Buh-Rufen zu kommentieren).

Tribünen, um das Spektakel zu betrachten, ohne aktiv eingebunden zu sein, Foto: Maximilian Liesner

Diese vielfältige Inszenierung der quartiersbezogenen Öffentlichkeit wird jedoch nicht von allen beachtet und soziale Unterschiede können als überfordernd wahrgenommen werden. Man muss nicht immer und überall die urbane soziale Vielfalt vor Augen geführt bekommen, man darf auch wegschauen und weggehen (was ohnehin die meisten Menschen in der Stadt tun). Dazu bedarf es aber auch den Bau von Zäunen (um Orte unterschiedlicher Hausordnung und Verbindlichkeit zu markieren) und Mauern (um überfordernde Störungen zu vermeiden, und auch ein „aus den Augen, aus dem Sinn“ zu ermöglichen).

Zäune, um Orte unterschiedlicher Hausordnung und Verbindlichkeit zu markieren und Mauern, um überfordernde Störungen zu vermeiden, Foto: Maximilian Liesner

Mauern und Zäune sind kein „Offenbarungseid“ und kein Eingeständnis davon, dass die Idee einer multikulturellen Stadtgesellschaft gescheitert ist, sondern sie unterstützen es, mit überfordernder Vielfalt zivil umgehen zu können. Damit die Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen eines Quartiers dieses als Ort der Identifikation erleben können, muss die urbane Vielfalt jedoch in einem andauernden Integrationsprozess „erarbeitet“ werden und kann nicht immer alle sozialen Gruppen mitnehmen. Dabei kommt vor allem dem öffentlichen Raum und dessen Gestaltung als „Bühne des Sozialen“ eine besondere Bedeutung zu, die Inszenierung des sozialen Zusammenhalts aber wird immer ein sozialer Prozess sein.

Prof. Dr. Jens Dangschat studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Psychologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg und wurde dort promoviert. Von 1992 bis 1998 war er Professor für Allgemeine Soziologie, Stadt- und Regionalsoziologie an der Universität Hamburg, ab 1998 ist er Ordentlicher Professor für Siedlungssoziologie und Demographie an der TU Wien, und seit 2016 ist er Emeritus. In der Forschung beschäftigt er sich mit Fragen sozialräumlicher Ungleichheit, mit Handlungstheorien vor allem im Mobilitätsbereich und der Energienutzung, mit nachhaltiger Raum- und Regionalentwicklung, der Konzipierung von urban living labs, mit der Auswirkung künftiger Technologien auf die(Stadt-)Gesellschaft.

Literatur
Anhut, Raimund / Heitmeyer, Wilhelm: Des­integration, Konflikt und Ethnisierung. Eine Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption, in: Dies. (Hrsg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Weinheim / München 2000, S. 7-75.
Bahrdt, Hans P.: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek 1961.
Braun, Sebastian: Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt und soziale Ungleichheit. Integrationsdiskurse zwischen Hyperindividualismus und der Abdankung des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29-30 / 2002, http://www.bpb.de/apuz/26805/soziales-kapital-sozialer-zusammenhalt-und-soziale-ungleichheit, Seitenaufruf: 23.12.2019.
Dangschat, Jens S.: Gesellschaftliche Vielfalt – Heraus- oder Überforderung der Raumplanung?, in: Ders. / M. Getzner / M. Haslinger / S. Zech (Hrsg.): Raumplanung – Jahrbuch des Departments für Raumplanung der TU Wien, Wien / Graz 2015, S. 15-38.
Dangschat, Jens S.: Über die soziale Mischung und das Brücken-Bauen, in: G. Biffl / N. Dimmel (Hrsg.): Migrations Management 2. Wohnen im Zusammenwirken mit Migration und Integration. Wohnungsmarkt, Wohnbedingungen, Wohnungspolitik, Modelle, Wohnbau- und Wohlfahrtspolitik, Globalisierung, Bad Vöslau 2016, S. 227-238.
Dangschat, Jens S.: Sozialer Zusammenhalt durch Stadtentwicklung?, in: N. Alcaide / C. Höcke (Hrsg.): Vielfalt gestalten. Ansätze zur Förderung der sozialen Kohäsion in Europas Städten, Berlin 2019, S. 21-35.
Fischer, Claude S.: To Dwell Among Friends, Berkeley 1982.
Granovetter, Mark S.: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (6), 1973, S. 1360-1380.
Güntner, Simon / Dangschat, Jens S.: Soziale Vielfalt als Thema der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, in: Österreichischer Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen (Hrsg.): Wohnungsgemeinnützigkeit in Recht, Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Prof. Mag. Karl Wurm, Wien 2019, S. 307-314.
Larsen, Larissa / Harlan, Sharon L. / Bolin, Bob / Hackett, Edward J. / Hope, Diane / Kirby, Andrew / Nelson, Amy / Rex, Tom R. / Wolf, Shaphard: Bonding and Bridging: Understanding the Relationship between Social Capital and Civic Action, in: Journal of Planning Education and Research 24, 2004, S. 64-77.
Schnur, Olaf: Lokales Sozialkapital für die ‚soziale Stadt’, Opladen 2003.

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