Reiselesebuch zu modernen Bauten zwischen Neiße und Böhmen

Unbekannte Moderne?

Das Kugelhaus in Cölln, die hölzerne Pfarrkirche St. Josef und das Wachsmann-Haus in Niesky, das Haus Kindt in Weißwasser, Haus Stross in Liberec, die Christuskirche in Görlitz-Rauschwalde und das Haus Hasek in Jablonec – noch nie dagewesen? Noch nicht mal davon gehört? Dabei handelt es sich um teils kaum bekannte Werke von Architekten wie Curt Domschke, Kurt Langer, Konrad Wachsmann, Ernst Neufert, Thilo Schoder, Otto Bartning und Heinrich Lauterbach. Sie alle zählen die Autorinnen und Autoren des Reiseleseführers „Topographie der Bauten der Moderne“ zu Gebäuden einer noch „unbekannten Moderne“, die im deutsch-tschechischen Grenzgebiet ihren Schauplatz hat. Zum Ende des 19. Jahrhunderts erlebte diese Gegend entlang der Neiße, in der Oberlausitz, Liberec, Jablonec und im sogenannten „Böhmischen Paradies“ eine wirtschaftliche Blütezeit. Es wuchsen die Kraftwerke und mit ihnen die Städte. Neben Fabriken entstanden Verwaltungs- und Schulbauten, aufgeschlossene Bauherren und Architekten experimentierten mit neuen Grundrissen, Materialien, Typologien und Fassadengestaltungen bei Wohn- und Kaufhäusern. Sie suchten den Anschluss an internationale moderne Strömungen und setzten selbstbewusst Impulse. Mit der Gründung der Tschechoslowakei 1918 wurden die Bautätigkeiten noch mehr forciert. In Brno und Prag entstanden weltbekannte Zentren des tschechischen Funktionalismus, die heute sehr gut touristisch und wissenschaftlich erschlossen sind. Grenzüberschreitende Kollaborationen zwischen den Architekten erwiesen sich als besonders fruchtbar: Im Osten rezipierte man das Bauhaus, im Westen arbeitete man mit den Nachbarn zusammen und umgekehrt  – ein prominentes Beispiel ist Erich Mendelssohns Warenhaus Bachner in Ostrava. Das binationale Netzwerk wurde auch vom tschechischen Werkbund unterstützt, der beispielsweise den Bau der Prager Siedlung Baba und der Brnoer Kolonie Nový dům initiierte, die als Antworten auf die Stuttgarter Weißenhofsiedlung verstanden werden können. Als das Neue Bauen ab 1933 in der Weimarer Republik in Bedrängnis geriet, emigrierten viele Architekten in den Osten und bauten dort weiter, bis die Bautätigkeiten spätestens mit Einmarsch der Wehrmacht 1938 auch hier ein abruptes Ende fanden.

Liberec: Haus Stoss, Foto: TOPOMOMO

Mag sein, dass die periphere, teils ländliche und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer erreichbare Lage der in diesem Reiseführer beschriebenen Gebäude ein Grund für ihre relative Unbekanntheit ist. Sicherlich ist dies aber auch dem Umstand geschuldet, dass die Bauten jahrzehntelang für westeuropäische Wissenschaftler und Touristen schwer erreichbar waren. Die Initiatorinnen des Projekts TOPOMOMO (ein Akronym für „Topography of the Modern Movement“) fanden es jedenfalls an der Zeit, die architektonischen Perlen – teilweise zum ersten Mal – zu erforschen und touristisch zu erschließen. Architekturhistorisch konsequent werden auch einige Bauten des Jugendstils oder der Reformarchitektur mit aufgenommen, und sogar solche des Historismus, sofern sie oder ihre Protagonisten in irgendeiner Form mit modernen Entwicklungen verknüpft waren.

Sicherlich, manche Bauten sind bereits bekannt und viel besprochen: Hans Scharouns Haus Schminke in Löbau etwa, das berühmte Baťa-Kaufhaus in Liberec, der Innenraum der Nikolai-Kirche in Görlitz, der durch Martin Elsaesser expressionistisch umgestaltet wurde, oder das fantastisch-futuristische Hotel Ještěd in Liberec, das mit seiner Entstehungszeit ab 1965 ein besonders später Beitrag dieses Reiselesebuchs ist. Andere hingegen sind eine Wieder- wenn nicht gar Neuentdeckung abseits bekannter Routen und Orte – das TOPOMOMO-Buch ist somit quasi der „Lonely Planet“ unter den Moderne-Reiseführern. Die Hussitenkirche Dr. Karel Farský des relativ unbekannten Architekten Vladimír Krýš im böhmischen Semily ist so eine Neuentdeckung, die einen staunen macht. Sie wartet mit spitzbogig aufgebrochenem Narthex und gestaffeltem Turm, ja insgesamt einer sehr eigenwilligen Interpretation von Kubismus und Art déco auf. Im Inneren beeindruckt sie durch eine gigantische Spitztonne mit hölzernem Netzrippengewölbe. Oder das Wachsmann-Haus in Niesky, das Konrad Wachsmann 1927 für das Holzbauunternehmen Christoph & Unmack als Direktorenhaus schuf, ist ein Beispiel industriell vorgefertigter Holzbauten, das nicht historisierend, sondern sachlich-streng im Ausdruck ist. Die Experimentierfreude der Architekten lässt sich gut an dem Stadtmuseum Železný Brod beobachten: Hier entstand 1936 ein Ergänzungsbau der örtlichen Sparkasse durch Jindřich Freiwald und Jaroslav Böhm. Die Gebäudeelemente wirken ungewöhnlich kombiniert: Spricht die Westseite noch eine sachliche Sprache, so zeigt die Südseite eine interessante Melange von Alt und Neu. Da sich auf dem Grundstück noch ein Blockhaus aus dem 18. Jahrhundert befand, das die Architekten nicht abreißen lassen wollten, integrierten sie die hölzerne Giebelseite des Hauses kurzerhand in ihren Neubau. Diese Vorgehensweise verdeutlicht das Bestreben, regionale Traditionen nicht vollkommen zu negieren.

Die meisten Gebäude sind in den letzten Jahren behutsam und denkmalgerecht saniert worden und nach wie vor in ihrem originalen Zustand, teils auch von innen, zu besichtigen. Das Reiselesebuch erscheint zweisprachig (deutsch-tschechisch) im kompakten Taschenbuchformat und ist klar und zeitgemäß gestaltet (Design: Manja Schönerstedt/AHOI). Jedes Objekt wird durch einen detaillierten Text und Fotografien vorgestellt, die Kurzversion gibt es auf einer ebenfalls bestellbaren Karte und die Internetseite wartet mit weiterem Material auf.

Bald geht das Projekt in die nächste Phase: dann sind die Bauten in Polen an der Reihe. Denn auf der Landkarte der Moderne gibt es noch viele weiße Flecken.

Juliane Richter

Stiftung Haus Schminke (Hrsg.): Topographie der Bauten der Moderne. Topografie Staveb Moderní Architektury. dt./tschech., 176 S., zahlr. Abb., Cottbus 2014, ISBN 978-3-00-045640-4

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